Die meisten Rankings kann man getrost im Überfliegen schon vergessen. Aber neulich zwitscherte via perlentaucher eine Liste der 100 besten «magazine articles» durch den Raum. Und so kam ich an den meisterhaften Text von David Foster Wallace über: «Federer as Religious Experience».
Noch steht er gratis im Netz: http://www.nytimes.com/2006/08/20/sports/playmagazine/20federer.html?_r= ... Warum man etwas dann wirklich liest? Ich folge seit Jahrzehnten bei guter Gesundheit der Devise: No Sports. Die Idee früh aufgegeben, selber einen Ball aufzufangen, jeder näherte sich sowieso immer zu rasch…
Aber die Erinnerung an ein inspirierendes Leseerlebnis der späten 70er-Jahre ging mir nach, ein Klassiker inzwischen, er wird immer noch nachgedruckt: Lars Gustafssons Erzählung «Der Tennisspieler». Gustafsson brauchte die Erfindung einer vertrackten Handlung um Militärcomputersysteme und Strindbergforschung, um wie nebenbei durchzugeben, was Tennis mit Lebenlernen zu tun haben könnte.
«Leer, glücklich leer wie eine Null, wie ein Zeichen ohne Sinn hing der Ball dort oben, und irgendetwas in mir gratulierte mir zu dieser Leere.» Noch ein Satz? – – – «Über einen Ball, der geschlagen ist, darfst du niemals nachgrübeln. Er ist fort, ob er nun gut oder schlecht war, er ist wirklich fort. Es gibt niemals einen anderen Ball als den, den du gerade vor dir hast.» Wallace also. Der Amerikaner beschreibt im ersten Abschnitt jenes Final der US Open von 2005, in dem Roger Federer den aus unschlagbarer Position agierenden Andre Agassi in einem rational nicht nachvollziehbaren Moment bezwingt. Eigentlich sind es Wallaces Erinnerungen an Sequenzen eines TV-Matches, allein vorm Fernseher. Die Wirkung des finalen Federer-Schlags hatte Folgen im Nahbereich seines Wohnzimmers:
«It was like something out of ‹The Matrix›. I don’t know what-all sounds were involved, but my spouse says she hurried in and there was popcorn all over the couch and I was down on one knee and my eyeballs looked like novelty-shop eyeballs.» Im Jahr darauf hat er Federers Spiel vor Ort gesehen, in Wimbledon, wo ihm letztlich ein Busfahrer den Aufschluss gab, was dieser Schweizer bewirke: «a bloody near-religious experience».
Dass Wallace die Magie des Spiels mit professionellem Wissen und Details der Kinetik angeht, wundert bei diesem Autor nicht. Wie er zudem die verlaufsgenaueren Wahrnehmungsweisen eines Zuschauers vor Ort, näher an strategischem Spielaufbau und Intuition der Körper, gegen die inszenierten Überblicks-Bilder des TV absetzt: nur ein in allen medialen Perspektiven erfahrener Literat kann das so in Sprache bringen.
Einer der zudem weiß, dass ein Tennisball mit über 200 km/h anfliegt, der minimale Veränderungen im Winkel eines Schlägers hochrechnen kann zu slice oder topspin und der die eigentümlichen Stärken der größten Spieler unserer Epoche locker aus seinem Gedächtnis einspielt.
Wenn Wallace aus einer Anekdote heraus – Jonas Bjorkmann ist gerade von Federer im Halbfinal vernichtet worden und scherzt mit ihm in der Pressekonferenz darüber, dass er nun so eben den besten Platz gehabt habe, um den Schweizer zu sehen «play the nearest to perfection you can play tennis» – wenn er das jenseitig gute Gemisch aus Reflexen, Kondition und Schnelligkeit dieses Ausnahmesportlers transponiert in die Gabe einer singulären Wahrnehmung: Federer sieht den Ball größer und langsamer herankommen als es schierer Physik entspräche. Dann erlebt der glückliche Leser eines solchen Textes, was Journalismus kann, wenn ihm der Surplus aus extremen Kenntnissen, der Sinn für offene Reflexion und eine erfinderischer Sprache zu Hilfe kommen.
Vielleicht taucht die besondere Qualität dieses Textes aus einem Wasserzeichen auf, das nur zu ahnen ist. Federer ist für Wallace ein Beispiel für geglücktes Leben. Eine Lichtfigur. Er selber, US-Tennisprofi in jungen Jahren, hat von einer solchen Performance träumen können.
Die Genauigkeit, mit der er die Schönheit von Körperbeherrschung und Verhaltensstil des Schweizers einfängt, hat etwas vom brennenden Blick der Melancholia in Dürers berühmtem Bild, vis-à-vis einem enigmatische Zahlenbrett. Der Text erschien im August 2006 in der «New York Times», wenige Wochen, nach dem Wimbledon-Sieg von Federer.
Damals hatte David Foster Wallace sein letztes Magnum Opus («Infinite Jest») schon lange fertig und in Basel saß seit 2003 Ulrich Blumenbach an einer Übersetzung von „Unendlicher Spaß“, die auf 1600 Seiten wuchs. A Fellow of infinite jest war David Foster Wallace (1962–2008). Seine Depressionen ließen sich irgendwann nicht mehr medizinisch niederhalten. Heute, beim Final, sollte man auch an ihn denken; vor 2 Jahren, am 12. September 2008, nahm er den Strick.
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