Wir rühmen uns eines globalen Zeitalters, dabei sind wir provinzieller denn je. In seiner heutigen Form hat der Provinzialismus nicht mehr viel zu tun mit den Krähwinkeln und Käffern hinter dem Wald. Provinzialismus bedeutet, den eigenen Horizont für die ganze Welt zu halten, kurz: Beschränktheit im Weltformat. Das Gegenteil von Provinzialismus lässt sich deshalb einfach definieren als die Entdeckung, dass die Welt grösser ist als der eigene Horizont. Anti-Provinzialismus verträgt sich problemlos mit Provinzialität (ja, setzt sie wahrscheinlich sogar voraus), dem existentiellen Gefühl, irgendwo hinzugehören. Kultur, wenn sie eine Seele hat, wurzelt in Provinz.
Universalismus als Imperialismus?
Wir leben, sagt man, in einem postkolonialen Zeitalter. Das heisst, die europäische Kultur - grob gesagt “der Westen“ – ist als alleinige massstabsetzende Instanz abgetreten. Sie ist zu einer Kultur, einer “Provinz“, unter anderen geworden. Auch die Werte und Normen dieser Kultur sehen daher ihren universellen Status zunehmend in Zweifel gezogen, im Besonderen die Menschenrechte. Ein Relativismus verschafft sich Gehör, der dem Universalismus generell den Kampf ansagt – im Namen von partikularen kulturellen Eigenheiten oder mit Berufung auf einen metaphysischen „Volkswillen“. Er sieht im Universalismus einen Imperator, der die Souveränität der „Provinzen“ bedroht. Samuel Huntington hat ihn schlicht als unmoralisch und gefährlich taxiert. Denn: “Der Universalismus ist die logische Konsequenz des Imperialismus“.
Die tückische Logik des Relativismus
Das war früher vielleicht einmal so. Aber die Logik dieses Arguments ist brüchig und tückisch. Die Zurückweisung des Universalismus entwickelt besonders in einer postkolonial zerstückelten Welt eine schädliche politische Ambivalenz. Mit dieser fadenscheinigen Logik rechtfertigen lokale Potentaten ihre Unterdrückungspraxis, indem sie den Import gewisser universaler Werte als “imperialistische“ Einmischung und Bedrohung der einheimischen kulturellen Werte hintertreiben. So hörte man am afrikanischen Sondergipfel in Adis Ababa vor nicht allzu langer Zeit die altbekannte Leier, der internationale Gerichtshof sei voreingenommen, wenn nicht sogar „rassistisch“. Das Argument wird meist nicht von einfachen Afrikanern geäussert, sondern von Vertretern der Machteliten. Schon früher griffen die Kampagnen etwa für die Islamisierung des Rechts immer wieder auf das Argument zurück, dass „imperialistische“ westliche Menschenrechtsgesetze die Eigenständigkeit muslimischer Staaten zu unterminieren suchten. Das Argument, der schweizerische Volkswille lasse sich durch keine „fremden“ Rechte und Werte knechten, passt perfekt zu dieser Logik.
Es gibt überall universelles Gedankengut
Man hört auch immer wieder, dass Ideen wie jene der Menschenrechte, des Individuums, des Nationalstaates “im Westen“ geschmiedet worden seien. Das bedeutet nun aber gerade nicht, dass man mit ihnen die “westliche“ Kultur übernimmt oder sich ihrem „Imperialismus“ unterwirft. Es gibt einen Ideenfundus, welcher die kulturelle, religiöse, geschlechtliche oder rassische Bindung abstreifen kann. Das ist keine exklusive Entdeckung des Westens, wie gerade die Menschenrechtsdiskussion in den letzten 20 Jahren zeigt. Hier, an der höchst neuralgischen Konfliktstelle besonders zwischen westlicher und islamischer Rechtsauffassung stellt man fest, dass die Grenze nicht zwischen monolithischen Kulturen verläuft, sondern durch die Kulturen hindurch. Der Islam verfügt über ein emanzipatorisches Erbe, das den befreienden Anschluss an einen überprovinziellen Diskurs durchaus erlaubt. Nur haben die Vertreter dieses Erbes in der Regel Mühe, sich gegen das laute Getöse eines ideologisierten und instrumentalierten Islam vernehmbar zu machen. Umso nachdrücklicher müsste man im Westen dieser Dissidenz des Verstandes Gehör verschaffen.
Kant und die „Neger“
Wie aber und mit welchem Recht treten wir denen entgegen, die unsere Kritik an bestimmten kulturellen Praktiken mit “Bei uns macht man das halt traditionell so und so“ abwehren? Theoretisch, indem wir für Begriffe wie z.B. Menschenwürde eine Wir-Perspektive reklamieren, welche die Kultur- oder Traditionsgebundenheit des “Wir machen das bei uns so“ übersteigt. Praktisch dadurch, dass wir uns bemühen, diese Perspektive in möglichst allen Lebensformen Sitte werden zu lassen. Das ist bekanntlich der universalistische Lösungsvorschlag der Aufklärung (namentlich Kants), welche in der Durchsetzung einer solchen Perspektive das Mass menschlicher Zivilisiertheit auf der Basis der Vernunft erblickte. Mehr als zwei Jahrhunderte, die seit der Aufklärung verstrichen sind, haben uns freilich gelehrt, dass dies leichter gesagt als getan ist. Kant selber war in den Stereotypen seiner Zeit befangen, sprach er doch dem grössten Teil aussereuropäischer Kulturen, welche nicht auf seinem Konzept der Naturbeherrschung beruhen, die Qualifikation “zivilisiert“ ab. Den “Neger“ etwa befand er für nicht “echt civilisierbar.. Er verfällt von selbst in die Wildheit.“
Eigenart braucht Abgrenzung
Eigenart braucht die Abgrenzung zwischen “Wir“ und den “Andern“. Zersplittern Kulturen, dann gibt es auch mehr “Wir“ und “Andere“, beanspruchen immer kleinere Splittereinheiten - Eigenarten - ihr Recht auf Abgrenzung und Anerkennung. Schon heute sind an Touristenorten total verhüllte Musliminnen zu sehen. Fatal daran ist die Tribalisierung des öffentlichen Lebens, bei gleichzeitig zunehmender Vernetzung. Die Rückkehr von Stammes-, Clan- und Hordendenken. Gerade ein solches verwilderndes Soziotop macht universelle Richtlinien umso notwendiger. Erinnert man sich daran, dass der moderne Gedanke der Menschenrechte sich um die menschliche Person kristallisierte? Kant nannte sie „heilig“, in dem Sinne, dass man sich an ihr nicht vergreifen darf. Und genau dieses Vergreifensverbot macht den universellen Kern der Menschenrechte aus. Sein „Zwang“ ist der des Arguments, der Besonnenheit, des Appells an die Vernunft, es gilt nicht, weil es vom Sinai herunter verkündet worden ist, oder weil ein Volkswille es „demokratisch“ bestimmt hat. In diesem Sinn sind Menschenrechte ein permanent gefährdetes Gut. Man muss sie gerade deshalb stützen, weil sie wie Sisyphus’ Stein immer wieder zurückrollen können in die engen Niederungen des Provinzialismus.
Ein provinzielles und ein universelles „Wir“
Wir leben in einer Zeit der kulturellen Durchmischung. Ströme freiwilliger und unfreiwilliger Migranten überziehen die Kontinente, und Ethnien verteilen sich wie Streusel über den Globus. Das resultierende Nahverhältnis der Kulturen zahlt sich jedoch nicht notwendig in einem besseren Verständnis aus. Im Gegenteil. Mit der räumlichen Nähe kontrastiert die kulturelle Distanz, heute immer mehr: die Abschottung, Segregation, der Nächstenhass, wie ihn Hans Magnus Enzensberger unverblümt in seinem Essay über den anstehenden “molekularen“ Bürgerkrieg genannt hat.
Es gibt zwei letztlich nicht aussöhnbare Arten von “Wir“, ein provinzielles und ein universelles. Sie sind beide unentbehrlich für die Bereicherung unseres Lebens und Zusammenlebens. Wir leben in einer Vielzahl von Kulturen, und wir brauchen Kultur in der Einzahl, im Sinne einer von möglichst vielen Menschen geteilten Zivilisiertheit. Dazu gehört die Bereitschaft, die Eigenart des Andern anzuerkennen. Dazu gehört aber auch ein Universalismus, welcher dieser Eigenart genau da (politische) Grenzen steckt, wo sie sich dagegen sperrt, gewissen Begriffen - zum Beispiel “Freiheit“, “Gerechtigkeit“, “Menschenwürde“ - einen über die Kulturen hinausreichenden universellen Bedeutungsmehrwert zu verleihen. Menschsein braucht Provinz. Über den Horizont der Provinz hinausschauen macht uns menschlicher.