Kein einfacher Jahresbeginn für einen Geschichtenerzähler, der seine Inspiration aus dem Unterwegssein schöpft! – Wie schon im März des vergangenen Jahres, als nach einer Wanderung zum Kloster Fahr das Herumstrolchen von einem Tag zum andern zur subversiven Handlung mutierte, stehen auch jetzt die Zeichen wieder auf Sturm. Corona, das gekrönte Virus, regiert noch immer die Welt.
Damals begab ich mich in eine Art inneres Exil, wandelte durch meine vier Wände, zog hier und dort ein Buch von einem Regal und entdeckte schliesslich zusammen mit meiner Frau beim gemeinsamen Lesen und Vorlesen von neuem das Unterwegs-Drama par excellence, Homers Odyssee. Im Laufe des Jahres haben wir uns dann weitere Geschichten vorgelesen, auch die Ilias, wo die Helden zwar kaum unterwegs sind, sondern während zehn Jahren vor den Mauern des belagerten Trojas campieren und sich dort Gewaltorgien hingeben, bei denen auch die Götter und Göttinnen lustvoll mitmischen.
Trotz homerischer Kunst ist das kein Stoff für die Unterwegs-Kolumne. Und zurück zur Bücherwand mochte ich auch nicht. Doch die Welt tritt einem ja heute zuhause nicht nur aus Büchern entgegen, sondern auch über magische Glasflächen, die man heutzutage nach eigenem Geschmack zum Reden bringen kann – im Gegensatz zu früher, als die TV-Kost von aussen vorgegeben war und man nur alternativlos konsumieren oder den Stecker ziehen konnte.
Auf Youtube entdeckte ich einen norwegischen Film, zwar ohne Untertitel, aber das macht nichts, denn gesprochen wird ohnehin kaum. Der Film – er ist zugegebenerweise etwas handlungsarm oder besser: handlungsmonoton – dauert knapp zehn Stunden. Weit über eine Million Mal ist er bisher aufgerufen worden, auch wenn ihn wohl die wenigsten in seiner ganzen Länge angeschaut haben. Der Kommentar eines gewissen Dries Nys hatte mich neugierig gemacht: „This video has become my daily ‘get asleep’ routine now for a couple of months. Haven’t slept better in the other 34 years of my life.“ – Es geht hier offenbar nicht um das Einschlafen vor, sondern nach dem Bildschirm! Um einer möglichen Sucht vorzubeugen, wird dringend empfohlen, den Film nur portionenweise zu konsumieren.
Es ist der 23. Februar 2012, morgens kurz nach halb acht. Wir befinden uns in Trondheim, genauer im Bahnhof S – S steht für Sentralstasjon. Noch ist es dunkel. Der Blick geht durch die Frontscheibe einer Di 4 Diesellokomotive der Norwegischen Staatsbahnen (NSB) auf die Bahnhofsgleise, zwischen denen nach einem langen Winter schmutzige Schneereste liegen.
Wer sich in der Führerkabine der Lokomotive neben oder hinter der Kamera befindet – ein oder zwei Lokomotivführer oder auch noch ein filmender Gast? – bleibt während der ganzen Reise ungewiss. Man hört während der Fahrt zwar das Brummen der Lokomotive, das Quietschen der Wagen in den Kurven und das rhythmische Schlagen der Räder auf den Schienen, aber nie einen Menschen sprechen. Zweimal während eines Halts auf einem Bahnhof taucht auf dem Perron kurz eine Person auf, welche aus dem Zug zu kommen scheint und diesen fotografiert. Ist es der Filmer? Auch die Menschen, die an den Bahnhöfen warten oder nach der Ankunft des Zuges auf dem Bahnsteig vorbeihasten, bleiben stumm. Hauptakteure sind die grandiose Natur und die virtuose Technik, der Mensch bleibt Statist.
Das Ziel der Reise ist das jenseits des Polarkreises liegende Bodø. Der Zug der Nordlandsbanen, der längsten Bahnstrecke Norwegens (729 km), wird die Stadt am Skjerstadfjord nach einer Fahrt von knapp zehn Stunden voraussichtlich abends um halb sechs erreichen. Die Strecke ist einspurig und nicht elektrifiziert. Alle 10 bis 15 km gibt es Kreuzungsstellen. Manchmal liegen die Nebengleise unter einer dicken Schneedecke.
Ich stelle mir vor, neben dem Lokomotivführer zu sitzen. Ich würde ihn auf den langen Strecken zwischen den spärlichen Siedlungen gerne nach der Geschichte der Bahn, nach den Namen der Täler, Flüsse und Fjorde und dem Leben der ansässigen Menschen befragen. Doch soweit sind wir in der Virtual Reality noch nicht; der unsichtbare Mann an den Steuerhebeln antwortet mir nicht.
So muss uns Wikipdia die Geschichte der Nordlandsbanen erzählen: Die Trassierung der Bahn ist die Folge der besonderen Topografie. Weil immer wieder Fjorde weit ins Landesinnere reichen, zuerst der Trondheimfjord, dann der Vefsnfjord bei Mosjøen, der Ranafjord bei Mo i Rana und schliesslich der Skjerstadfjord bei Fauske und Bodø, führt die Linie typischerweise 50 bis 100 km von der nordatlantischen Küste entfernt nordwärts. Für den Übergang zwischen den Fjorden folgt sie Flusstälern und sinkt dazwischen immer wieder auf Meeresniveau hinunter. Der höchste „Passübergang“ liegt zwischen Mo i Rana und Rognan auf 680 m über Meer. Dort, auf der tief verschneiten Hochebene, überquert die Bahn den Polarkreis.
Baubeginn für die erste Etappe der Bahn – von Trondheim nach Hell und weiter nach Schweden – war das Jahr 1875. Dieses erste Teilstück wurde im Juli 1882 in Betrieb genommen. Es dauerte dann weitere 80 Jahre, bis schliesslich 1962 der Endbahnhof Bodø erreicht war. In der Zwischenzeit wurde das Projekt mehrmals geändert, und Europa versank zweimal im Krieg.
Im Jahre 1929 standen die Arbeiten bei Grong (km 220 gemessen ab Trondheim). Der Zeitplan für den Weiterbau Richtung Norden war nicht besonders ehrgeizig. Bis im Herbst 1940 wollte man in Mosjøen (km 406) am Vefsnfjord sein, doch im Frühling 1940 besetzten deutsche Truppen Norwegen. Für die deutsche Wehrmacht hatte der Weiterbau nach Norden unter Umgehung des neutralen Schweden oberste Priorität. Die Bauarbeiten wurden intensiviert und gleichzeitig auf mehreren Teilstücken vorangetrieben. Ab 1942 wurden auch Kriegsgefangene eingesetzt – unter misslichen Bedingungen, welche viele nicht überlebten.
Bei Kriegsende standen die Arbeiten bei Dunderland (km 543). Noch fehlten fast 200 km bis Bodø. Bevor die Norweger weiterbauen konnten, mussten verschiedene Teilstücke saniert werden, weil während des Krieges unsorgfältig gearbeitet worden war. Dann setzte man zum Endspurt an, man erreichte 1958 Fauske (km 674) und schliesslich, nach mehreren Tunnels dem steilen Ufer des Skjerstadfjord entlang, 1962 Bodø (km 729).
Soweit die wechselvolle Geschichte der Bahn. Unterdessen ist es 7:37 Uhr. Der unsichtbare Lokomotivführer setzt den Zug in Bewegung. Die Lichter der Stadt bleiben rasch zurück. In der Morgendämmerung taucht linkerhand der Trondheimsfjord auf. Eine halbe Stunde dauert die Fahrt dem Wasser entlang, vorbei an der Station Hell, wo die Meråkerbane zur schwedischen Grenze und weiter bis nach Östersund abzweigt, der Zug überquert auf einer eisernen Bogenbrücke den Fluss Stjørdalselva, hält kurz an der neuen Haltestelle des Flughafens Trondheim und erreicht dann den Bahnhof von Stjørdal, einer Kleinstadt mit ca. 25’000 Einwohnern.
Vierzig Minuten hat die Reise für die ersten 35 km, für fünf Prozent der gesamten Strecke also, gedauert, und schon ist daran zu denken, die Fahrt zu unterbrechen und am nächsten Tag fortzusetzen. – Wenn das in diesem Stil weitergeht mit diesem Text – so werden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, jetzt vielleicht denken –, dann wird dieser Beitrag alle Grenzen des an sich schon grosszügigen Formats des Journal21 sprengen. Doch ich kann Sie beruhigen, ich schicke Sie nach der ersten Etappe allein weiter und werde Sie lediglich noch mit ein paar Bildern neugierig machen.
Noch etwas: Sollte sie das nass-kalte Nieselwetter der ersten Etappe allzu sehr an unser eigenes Wetter mahnen, so möchte ich Sie mit einem Kommentar eines früheren Betrachters trösten, der schrieb: „By the way, the train comes out from under the weather at about 4:50 if sunshine is more your jam.“ Überhaupt, die Kommentare! Sie geben einen köstlichen Eindruck der Betrachter dieses Monstervideos.
Schliesslich eine Klarstellung: Physisch war ich (leider) noch nie auf der Nordlandsbanen unterwegs, aber Lust dazu hätte ich bekommen. Gute Reise! Und vergessen Sie nicht, dazwischen genügend zu essen, zu trinken und zu schlafen.
Alle Bilder sind Screenshots aus dem Film „Nordlandsbanen minutt for minutt (vinter) – Togreise Trondheim–Bodø“