Der 15. August ist in Italien ein magischer Tag. „Ferragosto“ geht auf den lateinischen Ausdruck „Feriae Augusti“ zurück: die Ferien des Augustus, des ersten römischen Kaisers. Der 15. August gilt als der heisseste Tag des Jahres, als Wendepunkt; dann geht es bergab. Augustus bestimmte, dass dieser Tag arbeitsfrei sei, und zwar für alle, auch für die Sklaven.
Die Wohlhabenden, die Padroni, dankten an diesem Tag den Untergebenen und übermittelten ihnen ihre guten Wünsche und offerierten ein Geschenk. Der 15. August bedeutete auch das Ende der mühsamen Erntezeit.
Bis vor kurzem war es fast Pflicht, den Ferragosto am Meer zu verbringen. Die Städte leerten sich: Läden, Bars und Restaurants waren geschlossen.
Das Gegenteil an den Stränden: „Tutto esaurito“ – alles ausgebucht. Noch vor wenigen Jahren fand man kein Hotelbett am Meer, keinen Platz im Restaurant. Noch heute zieht es viele an Ferragosto ans tyrrhenische, adriatische oder ionische Meer. Doch die Wirtschaftskrise wirkt sich aus. Früher fuhren die Italiener zwei oder drei Wochen in die Ferien ans Meer. Das können sich die Wenigsten noch leisten. Heute fahren sie zwei, drei Tage ans Meer – eben an Ferragosto.
80 Prozent der Italiener können sich keine längeren Ferien leisten
Für Italiens Tourismus-Industrie bedeutet Ferragosto ein kurzes Aufatmen. Denn Hotel- und Restaurant-Besitzern geht es schlecht. Noch nie fuhren so wenige Italiener für so kurze Zeit in die Ferien. Und alles wird noch schlimmer. Berlusconi hatte letzten Freitag neue, dramatische Sparmassnahmen angekündigt. Sie gehen fast jedem an die Substanz. Laut einer letzten Statistik, können sich 80 Prozent der Italiener keine längeren Ferien mehr leisten. So fahren viele – wenigstens – an Ferragosto ans Meer.
Immer mehr sieht man auch auf den italienischen Strassen Wohnmobile mit italienischen Kennzeichen. Auch das ein Zeichen der Krise. Für 180 Euro kann man solche Caravans mieten und die ganze Familie in den Ferragosto entführen.
"Tierquälerei" in Siena
Noch nicht ganz vergessen ist, dass der 15. August früher der Tag der geistigen und seelischen Reinigung war. Noch heute werden da und dort Feuer angezündet, um das Böse abzuwenden. Man trägt Fackeln über die Strände ins reinigende Wasser. Um Mitternacht nimmt man ein Bad im Meer. Überall wird Feuerwerk gezündet.
Noch heute werden Prozessionen gefeiert, vor allem – zum Auftakt des Ferragosto – am 13. August. Dann ehrt man Diana, die Göttin der Fruchtbarkeit. Überall finden auch Pferderennen statt. Das berühmteste ist am 16. August der Palio in Siena. Michela Brambilla, Berlusconis streitbare Tourismusministerin, nennt den Palio zwar eine „Tierquälerei“. Obwohl sie nicht ganz unrecht hat, zieht das mittelalterliche und dekadente Ereignis täglich bis zu 50‘000 Zuschauer an. Und was ist schon ein bisschen Tierquälerei im Vergleich zu den Einnahmen, die die Touristen ist solch schwierigen wirtschaftlichen Zeiten bringen...
Ferragosto wurde im Laufe der Jahre immer mehr kommerzialisiert. Die meisten Italiener feiern heute Ferragosto mit einem guten Essen und einem guten Wein. Die Kirche, wieder einmal clever, hat den vorchristlichen Ferragosto-Brauch usurpiert. Am gleichen Tag hat sie „Maria Himmelfahrt“ angesetzt.
Die Stachanows von Prato
Während viele Städte im Innern des Landes fast Geisterstädte sind, ist an einem Ort wie immer der Teufel los: in Prato bei Florenz.
Prato ist eigentlich keine italienische Stadt mehr. Sie erinnert an das resistente Asterix-Dorf in der Bretagne. Doch statt Gallier leben in Prato Chinesen. Etwa 40‘000 sind es, die meisten ohne Papiere. Viele sind mit Schlepperbanden gekommen.
Sie sind es, die jetzt Prato, die einstige Textilhauptstadt der Toskana, dominieren. Sie arbeiten wie Stachanows und wollen das schnelle Geld. Rund um die Uhr wird genäht und gestickt und geschneidert. Selbst um drei Uhr früh hört man Nähmaschinen surren. Gearbeitet wird auch am Sonntag. „San Pechino“ nennen die Italiener das chinesische Viertel.
Überall hört man chinesische Schnulzen – und alles wird kopiert und kopiert: und mit dem Label „Made in Italy“ versehen - was ja nicht falsch ist. Taschen von Cucci oder Yves Saint-Laurent, Kleider von Versace oder Dior. Alles wird hier produziert. Und alles ist falsch. Parfum wird gefälscht und kopiert werden natürlich auch Zucchero, Eros Ramazotti und all die andern. In den Läden sind die Produkte Chinesisch angeschrieben. Villen und Wohnungen werden von Maklern auf Chinesisch angepriesen. Überall sieht man Inschriften: „Auf den Boden spucken verboten“. Einige Italiener fühlen sich genötigt, die italienische Flagge aus dem Fenster zu hängen – damit sie wissen, wo sie leben.
Machtlose Polizei
Viele Einheimische sind wütend: Sie sprechen von der „chinesischen Mafia“, von der „gelben Invasion“. Sicher ist, dass die Chinesen zehn Mal billiger produzieren und den Italienern das Geschäft vermiesen. „Unlauterer Wettbewerb“ heisst es.
Vielen Chinesen geht es gut hier. Sie benutzen die teuersten Handys, spielen Lotto mit riesigen Einsätzen; manche fahren einen Mercedes. Die Polizei scheint machtlos. Zwar bricht sie immer wieder zu Razzien auf, nimmt einige Chinesen fest und stellt ihnen die Webstühle ab. Doch schon bald surren sie wieder, die Nähmaschinen und Webstühle.
Hier spürt man nichts von „Ferragosto“. Die Chinesen in Chinatown in Prato kennen keine Pause, keine Ferien am Meer.
Während man an Ferragosto in andern italienischen Städten oft zehn Kilometer fahren muss, um einen Liter Milch oder ein Bier kaufen zu können, ist in Prato alles offen. „Sempre aperto“, von acht Uhr früh bis weit nach Mitternacht.
Und doch geht Ferragosto auch an Prato nicht spurlos vorbei. Roberto Cenni ist Bürgermeister der Stadt. Der 57jährige Textilkaufmann ist Mitglied der Lega. Immer wieder hat er Razzien gegen die Chinesen angeordnet. Jetzt an Ferragosto gibt er sich völkerverbindend. Am legendären Bacchino-Brunnen auf der Piazza del comune pflegt er einen alten Brauch. Er offeriert der Bevölkerung Wassermelonen, und zwar allen: Italienern und Chinesen. Dann ziehen sich „die Gelben“ wieder zurück. An ihre Webstühle und Nähmaschinen und kopieren
„Nur eines“, schreibt die Zeitung La Nazione, „haben die Chinesen nicht von uns kopiert: Die Ferien“.
27 Euro für ein Eis
Und während diesen Ferien liegen die meisten Italiener am Strand, wenn es auch für eine attraktive Bräunung nicht reicht. In den grossen Städten aber sieht man fast nur Schweizer und Deutsche, Holländer und Franzosen. Und sie werden jetzt in Mailand, Rom oder Florenz von den wenig offenen Läden und Restaurants geködert – mit oft stolzen Preisen.
Doch der teuerste Eisstand ist geschlossen. Dort im „Cono d’Oro“, nahe des Ponte Vecchio in Florenz, hatten zwei deutsche Touristen ein Eis gekauft: zwei Kugeln auf einem Cornet. Preis pro Cornet: 27 Euro.
Die Deutschen bezahlten. Später wunderten sie sich und gingen zur Polizei. Der Bürgermeister erfuhr davon und explodierte vor Wut. „Doch“, so sagt er, „gegen Wucher kann ich nichts tun“.
Am Freitag vor Ferragosto wurde die Eisdiele von der Polizei geschlossen. Nicht wegen Wucherpreisen – „aus hygienischen Gründen“.