Zahllose Menschen in der 60’000 Einwohner zählenden Stadt in Südtunesien bereiteten dem Gewerkschaftler einen begeisterten und lautstarken Empfang. Haddād war aus bis heute nicht geklärten Gründen am 17. Juli 2018 verhaftet worden. Damals meinten die Sicherheitsbehörden wohl, dass mit seiner Verhaftung der Protest in den Städten nahe den Erdölfördergebieten in Südtunesien bald zusammenbrechen würde. Doch die Behörden machten sich ein falsches Bild von dem Konflikt, der schon seit Jahren in Südtunesien gärt.
Tatāwins Mythos
Zentrum des Protests ist die Stadt Tatāwin, eine Gründung aus der Anfangszeit der französischen Protektoratsherrschaft über Tunesien. Es ist eine soziologisch junge Stadt: Die meisten Familien haben sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hier niedergelassen, nachdem sie ihre meist halbnomadische Lebensweise aufgegeben hatten. Zwei Drittel der Bewohner verstehen sich als Berber.
Ausserhalb Tunesiens ist Tatāwin vor allem dadurch bekannt geworden, dass es als „Location“ im ersten Star War-Film eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Immer wieder wollten Touristen den Ort sehen, der als Wüstenplanet Tatooine (!) Heimatort von Luke Skywalker war. In gewisser Hinsicht trug dies zur Herausbildung eines starken Lokalbewusstseins der Jugendlichen aus Tatāwin bei. Nicht wenige idealisierten ihren eigenen Widerstand gegen den Staat mit Skywalkers Auseinandersetzung mit der „Macht“.
Erste Proteste
Im März 2017 machten erstmals junge Bewohner der Region von sich reden, als sie sich zu Sit-Ins auf den Zufahrtswegen zu den Erdölförderstätten von El Kamour (al-Kāmūr), die etwa 120 km südlich von Tatāwin liegen, versammelten. Zunächst waren es nur wenige junge Aktivisten vor allem aus dem Umfeld des lokalen Gewerkschaftsdachverbands Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT), die den Export des geförderten Erdöls verhindern wollten.
Doch bald schon solidarisierten sich mehr und mehr Bewohner der Stadt mit dem Anliegen der Protestierenden. Diese forderten die Einrichtung eines staatlichen Fonds, der zur Schaffung von 2’000 Arbeitsplätzen in der Region genutzt und der aus den Gewinnen der Erdölförderung finanziert werden sollte. Schon damals lag die Jugendarbeitslosigkeit in der Region bei über 40 Prozent. Die Demonstranten beklagten, dass die lokale Bevölkerung keinerlei Gewinn aus der Erdölförderung in ihrer Region ziehen würde.
Ein Vertrag zwischen Gesellschaft und Staat
Der tunesische Gewerkschaftsführer Noureddine Taboubi (Nūr ad-Dīn Tabūbī) verhalf dem Anliegen zu einer breiteren Öffentlichkeit. Ende April 2017 eskalierten die Proteste. Fast alle Zufahrtswege auch in Richtung libysche Grenze waren nun durch Demonstranten blockiert. Erste Schlichtungsversuche scheiterten, da sich die Regierung nicht zu konkreten Verpflichtungen durchringen konnte. Drei Monate dauerten damals die Proteste, die Regierung gab schliesslich nach.
Im sogenannten Abkommen von El Kamour vom 16. Juni 2017, das mit Zustimmung der Gewerkschaft vom damaligen Arbeitsminister ʿImād Hammāmī (zurzeit für das Ressort Gesundheit zuständig) unterzeichnet worden war, verpflichtete sich die Regierung, 80 Millionen Dinar (etwa 25 Millionen Euro) für die Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten für arbeitslose Jugendliche in der Region bereitzustellen. Zudem garantierte das Abkommen, dass 1’400 junge Menschen Anstellung bei den Mutterkonzernen der Erdölgesellschaften finden würden, weitere 500 junge Menschen sollten Lohn und Brot in Umweltschutzfirmen finden und weitere 500 Jugendliche sollten mit einem monatlichen Stipendium im Erdölbereich ausgebildet werden. Und darüber hinaus sollten 70% der Arbeitsplätze in den Erdölgesellschaften an junge Menschen in der Region vergeben werden.
Die Rolle des Erdöl- und Erdgassektors
Seit etwa 15 Jahren hat die Erdöl- und Erdgasförderung in Tunesien an Bedeutung gewonnen. Sie erwirtschaftet bis zu 7 Prozent des BIP und 18 Prozent der tunesischen Exportwerte. Das ist natürlich nichts im Vergleich zu Algerien und Libyen, aber für das kleine Tunesien bildet die Förderung eine wichtige Ressource, die Ökonomie des Landes einigermassen zu stabilisieren. Doch ein Produktionsrückgang nach 2013 und der fast gleichzeitige Preisverfall haben die Revenuen auf ein Drittel des Stands von 2012 verringert.
Von 31 Fördergebieten können nur fünf Förderraten aufweisen, die für die Exportwirtschaft eine grössere Bedeutung haben. Die Konzessionen teilten sich British Gas und der italienische Konzern ENI. Im April 2016 übernahm Shell die Konzessionen von British Gas. Der dritte Player ist der österreichische Konzern OMV, der neben seinen Upstream-Aktivitäten in Libyen und Jemen Tunesien zu seinen wichtigsten Konzessionsgebieten in der arabischen Welt erkoren hat.
Für die Konzerne, die über 60 Prozent der Förderung kontrollieren, hat Tunesien auch deshalb eine besondere Bedeutung, da das Land über das beste Ressourcen-Management-System in der arabischen Welt verfügt. Daher gilt das Land als verlässlicher Partner der Konzerne, trotz der sozialen Revolten, die sich immer wieder in den süd- und mitteltunesischen Städten entfalten.
Doch der wirtschaftliche Einbruch nach 2013 hat die Partnerschaft von Staat und Konzernen deutlich geschwächt. Mit dem Abkommen von El Kamour hatte sich der Staat praktisch verpflichtet, die Konzerne für eine Umsetzung der vertraglichen Massnahmen zu gewinnen. Doch daraus wurde nichts. Der Staat liess schon 2018 erkennen, dass von ein paar kosmetischen Massnahmen abgesehen die Klauseln des Abkommens in nächster Zeit nicht umgesetzt würden. Und wie zum Beweis wurde der Gewerkschaftler Haddād, der die südtunesische Spielart einer Occupy-Bewegung organisiert hatte, ins Gefängnis geworfen. Zu einer Anklage kam es nie.
Der erneuerte Protest 2020
Im Januar 2020 machten die Gewerkschaften in Tatāwin erneut Druck. Sie mobilisierten zu einer weiteren Besetzungsbewegung, um den Export von Erdöl zu verhindern. Unter der Parole „Keine Arbeit, kein Öl“ wurden erneut die Zufahrtswege zu den Erdölfördergebieten besetzt. Der Zuspruch unter der lokalen Bevölkerung war gross, doch im März nahmen die Proteste wegen des durch die Covid-19-Pandemie auch in Tunesien verhängten Lockdowns ein unfreiwilliges Ende.
Kaum aber lockerte der Staat im Juni 2020 die Restriktionen im öffentlichen Raum, mobilisierten die Aktivisten zur Fortführung der Sit-ins. Diesmal waren es schnell mehrere Tausend Menschen, die sich in den Steppengebieten versammelten und den Abtransport des Erdöls verhinderten. Manches erinnerte nun an eine grosse Streikbewegung, nur mit dem Unterschied, dass die Streikenden nicht die Arbeit bestreikten, sondern das Fehlen von Arbeit. Ihre Forderungen waren klar: Vollständige Umsetzung des Abkommens von El Kamour.
Die Ausgangssituation war günstig. Im Februar 2020 hatte sich das tunesische Parlament nach monatelangem parteipolitischem Gerangel auf die Wahl des ehemaligen Finanzministers Elyes Fakhfakh von der im Parlament nicht vertretenen sozialdemokratischen Takāwul-Partei geeinigt. Gestützt wird die Regierung von der islamischen an-Nahda-Partei, die ihre Hochburgen lange Zeit in Südtunesien hatte. Auch bei den Wahlen 2019 hatten die nationalkonservativen Islamisten in Tatāwin eine deutliche Mehrheit erringen können. Doch die soziale Erosion bedroht die Machtbasis der Nahda. Immer wieder bilden sich kleinere ultraislamische Bünde, die sich mit aus Libyen geschmuggelten Waffen ausrüsten und kleine isolierte Machtgebiete behaupten. Manche Jugendliche in der Region sehen in den ultraislamischen Bünden die einzige Möglichkeit, ihrer desolaten Lebenssituation zu entkommen.
Kompromissfähigkeit auch bei den Konzernen?
Die Gewerkschaftler und viele Demonstranten grenzen sich deutlich von diesen Bünden ab. Sie sehen sich als zivilgesellschaftliche Akteure, die die soziale und wirtschaftliche Rekonstruktion des vernachlässigten und teilweise verwahrlosten Südens selbst in die Hand nehmen wollen und dafür die Konzerne zu verpflichten versuchen. Kleinere Firmen haben auf diese Herausforderung zum Teil schon reagiert und sich ihrerseits zu einem Code of Conduct verpflichtet, der die Förderung der lokalen sozialen Entwicklung auch unter ökologischen Gesichtspunkten zum Ziel hat.
Die Freilassung von Tāriq Haddād ist ein Zeichen dafür, dass auch die Sicherheits- und Justizbehörden an einer Deeskalation interessiert sind. Gelingen kann diese aber nur, wenn sich auch die drei grossen Konzerne, die die ökonomische Entwicklung des Landes massgeblich kontrollieren, also Shell, ENI und OMV, gezwungen werden können, sich ihrer sozialen Verantwortung in Tunesien zu stellen. Gelingt dies nicht, dürfte sich der Protest vor Ort neue, weniger zivilgesellschaftliche Formen suchen. Nutzniesser wären dann wohl allein die ultraislamischen Bünde.