„Die Rippe hat den Brustkorb verschluckt“, bemerkte der Kommentator der Tageszeitung La Regione trocken, als er am Montag nach den Tessiner Kommunalwahlen die neue politische Ausgangslage in Lugano analysierte.
Harmonie und beidseitiger Nutzen
Er spielte damit auf das viele Jahre gültige Bild an, wonach die Lega dei Ticinesi als die Rippe der rechtliberalen FDP in Lugano funktionierte – stets zu Diensten und immer gerne als Sütze herbeibemüht, wenn der Luganeser Wirtschaftsfreisinn die Protestbewegung benötigte, die ja auch in der Stadtregierung einsass. Zwar gab es, wie in jeder guten Beziehung, auch zuweilen Meinungsverschiedenheiten - so wandte sich die populistische Lega mit dem Argument knapper Kassen gegen den Bau des luxuriösen Luganeser Kulturzentrums - doch das änderte nichts an der harmonischen Grundstimmung. Man brauchte und (be)nützte sich gegenseitig.
Doch am vergangenen Sonntag rächte sich für die FDP die jahrzehntelange Kungelei mit Rechtsaussen – das Wahlergebnis wurde zu einem Tessiner FDP-Horrorszenario. Ganze 7 Prozent mehr als der „Partitone“ FDP erhielt die Lega von den Stimmenden, und gegen den fast drei Jahrzehnte lang autokratisch regierenden Bürgermeister und „König“ Giorgio Giudici trumpfte der populäre Lega-Kandidat und bisherige kantonale Umwelt- und Baudirektor Marco Borradori mit fast 1500 Stimmen mehr auf.
Absurde interne Grabenkämpfe
Bis auf die Vertreter der FDP selbst waren sich die Beobachter der Wahlen einig: Den „Tsunami am Ceresio“ hat sich die Partei selbst zuzuschreiben. Den Parteivertretern fiel es in diesen Tagen allerdings sichtlich schwer, öffentlich zuzugeben, wie die Dinge jetzt stehen: Viele Jahre regierte sie, als gebe es in Lugano keine bevölkerungsreichen Quartiere, in denen viele nicht mehr wissen, wie sie die Miete und die Krankenkasse bezahlen sollen. Auch dann noch, als - wie seit einigen Jahren der Fall - auch die Mittelschicht ökonomisch ins Rutschen geriet und in ihrer Verunsicherung zunehmend für die Lega stimmte.
Es schien, als sei die Partei blind geworden für die gesellschaftliche Entwicklung. Sie rieb sich auf in internen Machtspielen zwischen dem rechts- und dem linksliberalen Flügel, die historisch mächtigste Partei des Kantons verschleuderte durch absurde interne Grabenkämpfe das „Familiensilber“, indem sie an der Mittelschicht vorbeiregierte und setzte auf das Image der Lega als Klamaukpartei – mit der letztlich leicht zu verhandeln war, wenn man es nur geschickt genug anstellte.
Das Problem des Wohnens
Nun wurde sie von den Geistern, die sie rief, überwältigt. Zaghaft werden in diesen Tagen Überlegungen laut, dass sich die Partei erneuern müsse. Schuldige für die grandiose Niederlage werden aussen gesucht: Auch der Tod des langjährigen Lega-Präsidenten Giuliano Bignasca und die daraus resultierenden Emotionen werden als Gründe für die FDP-Misere herangezogen. Dabei gab es bereits vor zwei Jahren ein nicht überhörbares Alarmsignal, als die Tessiner FDP bei den kantonalen Wahlen einen Sitz in der Regierung an die Lega verlor und seither nur noch mit Wirtschaftsdirektorin Laura Sadis im Staatsrat präsent ist.
Die übrigen Parteien spielten im Wahlkampf nur marginale Rollen. CVP und SP hielten ihre Sitze und die Grünen, die selbst nur für die Legislative antraten, setzen bei einer noch ausstehenden Stichwahl zwischen den beiden potentiellen Bürgermeistern Borradori und Giudici auf Borradori, der ihnen entgegenkam und den grassierenden Bauboom in Lugano kritisierte und im Vorfeld der Wahlen versprochen hatte, sich für mehr günstigen Wohnraum stark zu machen. Der „Koordinator“ der Grünen, Sergio Savoia, drückte sich auf Facebook klar aus: „Ich setze auf Borradori - er verkörpert das neue Lugano, Giudici steht für das alte Lugano“.
Der Spiegel des Tessin
So wie ihm geht es vielen – und das hat vermutlich nur indirekt mit der Lega zu tun. Borradori sei liberaler als die FDP, konnte man im Nachtrag zu diesen Wahlen hören. Und noch etwas zeichnet ihn aus. Zwar wurde er lange Jahre leicht herablassend als „Taglianastro“ als „Bänderdurchschneider“ tituliert, der an keinem noch so kleinen Anlass fehlte, wo es blaue Bänder durchzuschneiden gab.
In all diesen Jahren schuf der als Single lebende 53-Jährige ein dichtes Beziehungsnetz quer durch alle Bevölkerungsschichten. Er hat eine grosse Begabung für Freundschaften, scheint für alle und jeden ein offenes Ohr zu haben und besitzt ein enormes Integrationsvermögen, gepaart mit persönlichen Anstand und Loyalität. Auch wenn er um Machtposten kämpft, geht er dabei nicht über die Regeln des Comme-il-faut hinweg. Dadurch gewinnt er auch politische Gegner – oder bleibt zumindest mit ihnen im Dialog.
Lugano spiegelt das Tessin. Anders als von politischen Beobachtern in der Deutschschweiz vermutet, wird diese Kommunalwahl den ganzen Kanton verändern. Borradoris Nachfolger im Staatsrat ist ein Bauunternehmer, der bisher , ausser seinen eigenen wirtschaftlichen Interessen, wenig Profil zeigte. Und das Erstarken der Lega in Lugano wird sich auf alle Gemeinden auswirken. Es kann sein, dass sich die übrigen politischen Parteien bald sehnsüchtig an Zeiten zurückerinnern werden, als ein polternder und zur Unflätigkeit neigender, aber berechenbarer Bauunternehmer in der Luganeser Via Monte Boglia seine Getreuen am kurzen Zügel hielt.