Offenbar ist es eine beschlossene Sache. Die Amerikaner werden ihre Truppen aus Syrien abziehen. Bisher hatte es mindestens 2000 amerikanische Soldaten in Nordsyrien gegeben, deren offizielle Aufgabe es gewesen war, die kurdischen und arabischen SDF-Kämpfer gegen den IS auszubilden und zu unterstützen. Nach anderen Aussagen gab es bis zu 5000 Mann. Es heisst, der amerikanische Abzug habe bereits begonnen.
Ist der IS wirklich besiegt?
Man weiss, dass die hohen Offiziere im Pentagon gegen diesen Entschluss waren und einige Tage lang versuchten, Trump umzustimmen. Der amerikanische Verteidigungsminister, General Mattis, kündigte seinen Rücktritt an. Trump hat ihn angenommen, und er soll im kommenden Februar wirksam werden.
Die Spitzen des Pentagons führten zwei Hauptgründe an, weshalb ihre Truppen bleiben müssten und sollten. Der Kampf gegen den IS sei noch nicht beendet, und die Gegenwart der Amerikaner sei notwendig, um zu verhindern, dass die Iraner sich in Nordsyrien festsetzten. Als dritter Grund wurde auch genannt, die Gegenwart der Amerikaner in Syrien könne dazu dienen, eine Friedenslösung in Syrien zu finden, die nicht rein russisch und iranisch wäre. Doch dieser dritte Grund ist der schwächste, weil es schwierig bis unmöglich sein dürfte, die verlorenen Positionen der westlichen Mächte in Syrien zu retten.
Die syrischen Kurden im Stich gelassen
Was seltener erwähnt wird, jedoch auch von Bedeutung ist, ist die Tatsache, dass mit diesem Schritt die Amerikaner die syrischen Kurden ihrem Schicksal überlassen, nachdem diese ihnen als militärisches Fussvolk gegen den IS mit Tausenden von Todesopfern gedient hatten. Ohne den Schutz der amerikanischen Luftwaffe sind die Kurdenkämpfer der YPD („Volksverteidigungseinheiten“) sowohl der syrischen wie der türkischen Luftwaffe ausgesetzt wie auch den beiden Landheeren, Milizsoldaten und Geheimdiensten beider Staaten. Auf die Dauer werden sie sich nicht gegen sie halten können.
Erdogan will sie „eliminieren“, und Assad will seine Herrschaft in den heute von den Kurden regierten Grenzprovinzen Syriens wieder voll etablieren. Als die Baath Partei Asads dort herrschte, wurden die kurdischen Bevölkerungsteile als Nicht-Araber diskriminiert und waren weitgehend rechtlos. Auch die Iraner, die versuchen, weiterhin eine politische und militärische Rolle in Syrien zu spielen, sind keine Freunde der Kurden.
Israel auch enttäuscht
Israel agiert als ein bitterer und militärisch aktiver Gegner der Präsenz Irans in Syrien. Daher hat der Entschluss Trumps zum ersten Mal das enge Zusammenspiel Israels mit dem Trump-Regime gestört. Wenn die amerikanische Präsenz in Syrien schwindet, wird es für die Russen etwas leichter sein als bisher, Israel dazu zu veranlassen, ihre Luftaktionen über Syrien, die sich gegen Iran richten, zu reduzieren oder ganz zu beenden.
Der „territoriale Krieg“ ist beendet, sagt Trump
Trump hat erklärt, der „territoriale Kieg“ gegen den IS sei „gewonnen“. In der Tat ist in der vergangenen Woche ein letztes Gebiet, in dem der IS sich noch gehalten hatte, das syrische Städtchen Hajin, am Euphrat, nah an der irakischen Grenze, nach verlustreichen Kämpfen der von den YDP angeführten SDF, „Syrische Demokratische Kräfte“, gefallen. Die verbliebenen möglicherweise noch gegen 20’000 IS Kämpfer, nach anderen Schätzungen vieleicht sogar 30’000, unter ihnen wohl immer noch der „Kalife“ al-Bagdadi, befinden sich nun verstreut und versteckt in der Grenzwüste zwischen Syrien und dem Irak sowie in den Weiten der irakischen Wüstenprovinz Anbar.
Verstärkter Untergrundkrieg
Dazu kommt eine unbekannte Zahl von Anhängern und Sympathisanten des IS, die im Untergrund leben und fortwirken, wie man es aus den beständig stattfindenden Bombenanschlägen in beiden Ländern dunkel erkennen kann. Angesichts der blinden und grausamen Rache, die im Irak gegen die IS-Leute genommen wird, auch gegen ihre Frauen und Kinder, einschliesslich der Kleinkinder, ist eine Zunahme der heimlichen Sympathisanten und Bombenleger des IS in der Zukunft zu erwarten.
Im Irak sind etwa 150’000 tatsächliche und angebliche Angehörige und Sympathisanten der IS-Kämpfer und Aktivisten in Wüstenlagern untergebracht, wo die Frauen von ihren Wächtern systematisch vergewaltigt werden und wo man sehr viele Leichen von Neugeborenen findet. Die „Wächter“ sind meist Schiiten, die Vergewaltigten Sunniten. Die Berichte von einigen Menschenrechtsgruppen, die über die Lage Bescheid wissen, sind grauenerregend.
Emotional Entschlüsse des US Präsidenten
Die Gründe, die Präsident Trump zu seinem Syrien-Entscheid bewogen haben, sind vielfältig und gewiss teilweise blosses Bauchgefühl. Er hat nichts gegen Asad, für dessen Taten er Amerika als nicht zuständig sieht. Trump hat sich mit Erdogan in Verbindung gesetzt, dem absoluten Herrscher über den Nato-Eckpfeiler Türkei, der Miene macht, sich mit Russland nicht nur zu verständigen, sondern auch zu verbünden, falls die Amerikaner die syrischen Kurden nicht fallen lassen. Dem Entschluss Trumps war ein Telefongespräch mit Erdogan vorausgegangen.
Raketen von beiden Seiten für Erdogan?
Wahrscheinlich ist die Frage der Luftabwehrraketen von zentraler Bedeutung. Erdogan hat einen Vertrag über die Lieferung russischer S-400 abgeschlossen, von dem Moskau sagt, er stehe fest und die Lieferungen würden im kommenden Jahr beginnen. Die Nato hat die Türkei gewarnt, die S-400 seien nicht kompatibel mit Nato-Material. Neue Berichte aus dem Pentagon sagen, der Verkauf von amerikanischen Luftabwehrraketen in der der Höhe von 3,5 Milliarden Dollar an die Türkei sei vorgesehen. Wie sich dies mit dem russischen Kauf vereinbaren lässt, ist unklar. Möglicherweise gibt es legale Hindernisse in den USA. Doch für Trump sind die Aussichten für die amerikanische Waffenindustrie gute Gründe, um seine Aussenpolitik nach ihnen zu richten. Am deutlichsten zeigt dies sein Verhältnis zu Saudi Arabien und dessen Kronprinz MBS.
Die ungeklärte Auslieferung Gülens
Die Türkei hat in dem Streit um den gefangen gesetzten amerikanischen Missionar Burnson nachgegeben und ihn freigelassen. Der türkische Aussenminister Cavusoglu hat erklärt, Trump habe auch über den zweiten Streit mit Ankara, den viel gewichtigeren über die Auslieferung des muslimischen Gottesgelehrten und Sektenführers, Gülen, der in den USA lebt, positiv gesprochen. Was die amerikanische Seite dementiert.
Ankara will Gülen richten, dem die Urheberschaft des fehlgeschlagenen blutigen Militärputsches vom 15. Juli 2016 zugeschrieben wird. In der Türkei gibt es offenbar Spezialgefängnisse für angebliche Anhänger Gülens, die dort gefoltert werden, damit sie sich als Zeugen gegen ihn und für Agentenarbeit unter seinen Anhängern zur Verfügung stellen. Zwei dieser Personen, die einander nicht kannten und denen es gelang, ins Ausland zu fliehen, wurden von einem Journalisten-Kollektiv der grossen europäischen Zeitungen befragt und gaben im wesentlichen übereinstimmende Darstellungen. Die türkische Prozessordnung lässt zu, dass Zeugen, verborgen hinter einem Vorhang, vor Gericht aussagen.
Syrien den „Anderen“ überlassen
Welches Gewicht, diese unterschiedlichen Gründe für den Entschluss des Präsidenten gehabt haben, bleibe dahingestellt. „Für Syrien sollen nun andere sorgen“, zwitscherte er in der vergangenen Woche. Diese Woche erklärte Trump auf Twitter, „fake news“ behaupteten, dass die Russen, die Iraner und die Türkei den amerikanischen Abzug willkommen hiessen. In Wirklichkeit müssten nun sie dem IS gegenübertreten. Die Amerikaner täten dies nicht mehr an ihrer Stelle.
Divergierende Ziele im syrischen Endspiel
Es ist erkennbar, dass die vier nun noch am Geschehen in Syrien Beteiligten unterschiedliche Ziele anstreben:
- Asad plant, seine volle Herrschaft über Syrien wie bisher wieder zu errichten, wahrscheinlich noch mehr als früher mit Hilfe seiner alawitisch gesteuerten Geheimdienste, die sich als Sieger im Bürgerkrieg sehen.
- Russland möchte eine baldige Beruhigung und Friedensregelung zu Gunsten Asads, sowie, wenn möglich, internationale Hilfe, auch aus Europa und den USA für den bevorstehenden Wiederaufbau des weitgehend ruinierten Landes Syrien. Iran hingegen möchte Syrien als erweiterte Basis gegen Israel nützen, gewissermassen als Ausdehnung der iranisch gestützten Hizbullah Präsenz in Libanon.
- Teheran sieht seine Finger in Syrien nicht nur als die Grundlage für eine künftige Offensive gegen Israel, falls diese einmal stattfinden sollte, sondern auch und schon heute als defensive Abwehrposition im Fall einer Abwehr israelischer und amerikanischer Kriegshandlungen gegen Iran, welche die Revolutionswächter nicht erst auf iranischem Boden, sondern im syrischen Vorfeld und im Persischen Golf abwehren wollen.
- Die Türkei möchte die Kurden aus den syrisch-türkischen Grenzprovinzen, wo sie heute die Herrschaft ausüben, vertreiben. Wie ihr Verhalten in der türkisch besetzten, einst kurdischen Mehrheitsregion von Afrin zeigt, schrecken die Türken dabei vor ethnischer Säuberung nicht zurück.