In Interviews mit dem britischen „Economist“ während des Wahlkampfes hat Donald Trump mit robustem Selbstbewusstsein versichert, dass er die Präsidentschaft mit Hilfe der „silent majority“ gewinnen werde. Das seien „hart arbeitende, grossartige Leute in Amerika, die marginalisiert worden sind“. Was immer man von solchen Definitionen halten mag – Trumps mitunter bizarr anmutenden Siegesprophezeiungen sind am 8. November zur Konsternation der gesamten Meinungsforschungs-Industrie bestätigt worden.
630'000 Stimmen mehr für die Verliererin
Allerdings, die Mehrheit der Stimmen hat Trump nicht bekommen. Nach dem jüngsten Stand der Auszählung haben rund 630'000 mehr Stimmberechtigte für seine Rivalin Hillary Clinton gestimmt als für Trump. Das sollte eigentlich das Trump-Lager und dessen Apologeten dazu veranlassen, mit Schlagworten wie „We the people“ oder triumphierenden Slogans vom „siegreichen Volkswillen“ und einer angeblichen „Volksrevolution“ etwas vorsichtiger umzugehen.
Wegen der Eigenheiten des amerikanischen Wahlsystems, das gewichtige föderalistische Komponenten enthält, hat Trump dennoch eine klare Mehrheit im Electoral College, dem Wahlmännergremium, gewonnen. Diese Instanz wird erst im Dezember zusammentreten und Trump formell zum neuen Präsidenten ernennen. Trotz einiger Proteste gegen den Wahlsieg des republikanischen Kandidaten wird an diesem Ergebnis nicht ernsthaft gerüttelt. Hillary Clinton hat das bei ihrem gefassten Auftritt nach dem Wahltag ohne Wenn und Aber bestätigt.
Das spricht für ihren Respekt vor den über zweihundert Jahre alten Spielregeln des amerikanischen Wahlprozesses, auch wenn diese inzwischen teilweise reformbedürftig erscheinen. Hätte Hillary Clinton im Wahlkampf auch den Trump-Anhängern einen gewissen Respekt erwiesen, anstatt die Hälfte von ihnen mit atemraubender Instinktlosigkeit als „einen Korb von Bedauernswerten“ (Deplorables) herabzuwürdigen, wäre sie am Ende vielleicht nicht als Verliererin dagestanden.
Jetzt ist nicht mehr vom „gezinkten System“ die Rede
Ob der Überraschungssieger Trump ähnlich souverän und verantwortungsvoll reagiert hätte, wenn er zwar die Stimmenmehrheit gewonnen, aber im Electoral College nur eine Minderheit bekommen hätte, darf man füglich bezweifeln. Schliesslich hatte er im Wahlkampf immer wieder behauptet, das Wahlsystem sei zu seinen Ungunsten „rigged“, das heisst getürkt oder gezinkt. Vor vier Jahren, als Obama gegen den damaligen republikanischen Kandidaten Romney mit Vorsprung im Rennen lag, hatte er einen Tag vor dem Wahltag folgenden Tweet abgesetzt: „Das Electoral College ist ein Desaster für die Demokratie.“
Damals wurde seine politische Meinung allerdings nicht ernst genommen und kein Mensch rechnete damit, dass der New Yorker Immobilien-Mogul jemals Präsident werden könnte. Jetzt, da er dank diesem angeblichen Desaster-Mechanismus ins Weisse Haus einziehen kann, ist von solchen Sprüchen natürlich nichts mehr zu hören.
Tocquevilles Warnung
Der französische Edelmann und Historiker Alexis de Tocqueville hat in seinem noch heute viel zitierten Klassiker „Über die Demokratie in Amerika“ von der „Diktatur der Mehrheit“ gewarnt, die den zu seiner Zeit noch jungen amerikanischen Bundesstaat bedrohe, falls die Mehrheit der damals Stimmberechtigten (Frauen und die schwarzen Sklaven und Indianer zählten nicht dazu) ihre Macht ohne Rücksicht auf Minderheiten und Andersdenkende durchpauke. Auch wenn Trump als Präsident nicht die Mehrheit der Wähler hinter sich hat, so besteht für ihn doch die Möglichkeit, dank republikanischen Mehrheiten im Kongress und einer wahrscheinlich bald realisierbaren konservativen Machtverschiebung im Obersten Gericht radikale Kehrtwendungen in der amerikanischen Innen- und Aussenpolitik zu vollführen.
Der harte ideologische Kern seiner Wähler und Anhänger wird das zweifellos von ihm erwarten. Doch er hat ebenso die Möglichkeit, mit den Demokraten im Kongress konstruktiv zusammenzuarbeiten und Kompromisse einzugehen, die auch ausserhalb seiner Wählerschaft als vernünftig oder zumindest akzeptabel beurteilt würden. Beispiel dafür wären Teilreformen beim Krankenkassen-System anstatt der im Wahlkampf posaunten völligen Abschaffung von Obamacare, oder punktuelle Verbesserungen bei der Grenzkontrolle mit Mexiko anstelle des vollmundig verkündeten Baus einer totalen Mauer, für die laut Trump erst noch die Mexikaner bezahlen werden.
Reagans Fähigkeit zu Kompromissen
Ronald Reagan, der von den meisten Republikanern als Vorbild verehrte Präsident, hat in seiner achtjährigen Regierungszeit in den 1980er Jahren verschiedentlich zu pragmatischen Kompromissen mit den Demokraten Hand geboten, was in einigen Fällen den Hardlinern und rabiaten Falken in den eigenen Reihen gar nicht passte. Das gilt etwa für das Abkommen mit dem während seiner Amtszeit zum Kremlführer aufgestiegenen Gorbatschow zur völligen Abschaffung von nuklearen Mittelstreckenraketen (INF) in Europa.
Die parteiinternen Kritiker solcher Kompromisse agitierten damals mit dem Slogan „Let Reagan be Reagan!“, was suggerieren sollte, der Präsident werde von ideologischen Weicheiern in seinem Umfeld zu prinzipienloser Nachgiebigkeit gedrängt. In Wirklichkeit war Reagan aber mehr ein pragmatischer Konservativer als ein sturer Ideologe. Über seine vorherige Politik als Gouverneur in Kalifornien hatte er einmal erklärt: „Wenn mir klar wurde, dass ich nicht hundert Prozent von dem bekommen konnte, was ich forderte, so entschied ich mich eben für achtzig Prozent.“
Politik ist mehr als Business-Deals
Ob Donald Trump, der anders als Reagan vor dem Einzug ins Weisse Haus noch nie ein politisches Amt ausgeübt hat, auch zu solchen Kompromissen und zu partieller Kooperation mit der Opposition fähig sein wird, weiss vorläufig niemand zuverlässig vorauszusagen. Trump ist zwar kein Ideologe, aber im Wahlkampf hat er – wie das Ergebnis nun zeigt – als instinktsicherer Rattenfänger agiert, der keinerlei Mühe hatte, widersprüchlichste Behauptungen und bizarre Versprechungen dem Zielpublikum als so etwas wie ein kohärentes Programm zu verkaufen.
Als erfolgreicher Dealmaker, als der er sich mit Vorliebe stilisiert (sein von einem Ghostwriter verfasster Bestseller heisst „The Art of the Deal“) dürfte er grundsätzlich kein Problem haben, auch Kompromisse zu schliessen. Die Frage ist, ob er die Reife und die nötige politisch-historische Einsicht haben wird, vernünftige Vereinbarungen einzugehen, wenn es nicht nur um Business-Interessen geht, sondern um nationale politische Verbindlichkeiten und deren bündnispolitische Implikationen. Bedenkt man Trumps flapsige Bemerkungen im Wahlkampf etwa zur Nato oder zu den Handelsbeziehungen mit China, hat man einigen Grund, sich Sorgen über sein zukünftiges Handeln zu machen.
Doch auch in diesem Fall gilt die alte Theater-Weisheit: Man soll ein Stück nicht schon nach dem ersten Akt beurteilen. Und im politischen Stück der Trump-Präsidentschaft hat noch nicht einmal der erste Akt begonnen. Was wir bisher gesehen haben, war nur das Vorspiel in Form eines zwar spannungsreichen, aber reichlich burlesken Wahlkampfes.