Mehrmals täglich – ich lebe seit einigen Jahren in Washington DC – ertappe ich mich in der Hoffnung auf ein schnelles Ende. Dann werfe ich einen Blick auf die neusten Schlagzeilen in den hiesigen Medien. Bricht ein neuer Skandal, eine dramatische Enthüllung Donald Trump das politische Genick? Wenn er sich nur selber zu Fall bringen würde. Es wäre eine Entlastung, denke ich.
Präsident Trump ist anstrengend. Ständig fordert er Aufmerksamkeit, ja Wachsamkeit, und man ist oft verunsichert: Ist der Mann verrückt, oder einfach widerlich, anti-demokratisch – oder kriminell? Masha Gessen, eine russisch-amerikanische Doppelbürgerin und heute hauptberuflich Journalistin beim «New Yorker», ist sich ihrer Diagnose sicher, sie erkennt das Muster: Trump verübt einen autokratischen Anschlag. Die Vereinigten Staaten befinden sich in einer Vorstufe der Autokratie, sagt sie.
Autokratie, Phase eins
Die USA befinden sich heute im ersten Stadium eines „autokratischen Wandels“ (autocratic transformation). Das ist, gestützt auf ein vom ungarischen Politiker Balint Magyar entwickeltes Schema zur Beschreibung der postsowjetischen Entwicklung Ungarns von 1989 bis zur Herrschaft Orbans, die Kernthese von Gessens neuem Buch, „Surviving Autocracy“: Nach dem erfolgreichen Anschlag kämen die Phasen des autokratischen Durchbruchs und anschliessend der Konsolidierung.
Chronologisch erinnert Gessen an die fast unglaublich wirkenden Episoden der Präsidentschaft Trump: Von den während des Wahlkampfs 2016 erschienenen Aufnahmen seiner krassen, respektlosen Äusserungen zu Frauen bis zur Corona-Krise, die der Präsident abwechslungsweise leugnet oder fest im Griff zu haben behauptet. „Trump News sind schockierend und kommen doch nicht überraschend“, schreibt Gessen richtig. Denn Trumps Umgang mit der Wahrheit ist wesentlicher Bestandteil des Selbstherrschers, der sagen will, was ihm passt, und sich jegliche Kritik verbietet.
Im Gegensatz zu totalitären Regimen, die die Presse zu kontrollieren versuchten, möchten moderne Autokratien dominieren, schreibt Gessen wieder mit Bezug auf Magyar. Heutige Autokraten verordnen nicht eine von oben kontrollierte Kommunikation, sondern fördern eine ungeordnete, in der nichts mehr gültig ist und parallele Realitäten gleichzeitig geschaffen werden.
Normalisierung der Verwirrung
Mit den unklaren, abschweifenden, oft widersprüchlichen und regelmässig erwiesenermassen falschen Aussagen dieses Präsidenten konfrontiert, unterstützten sogar grundsätzlich Trump-kritische Medien mit ihrem „pedantische Beharren, immer nur empirisch nachweisebare Fakten zu berichten“, einen unscharfen Journalismus. Als Beispiele nennt Gessen die Entscheide einiger grosser Medien, wie etwa das National Public Radio (NPR), das Wort „Lügen“ im Zusammenhang mit Trumps Aussagen nicht zu verwenden, da dies wertend sei. Auch die New York Times erklärte, das Wort nur selten verwenden zu wollen, um dessen Aussagekraft nicht zu schwächen.
Als ob man, meint Gessen, bei dem von Trump geführten „Anschlag auf die Realität“ die Wahl habe, nicht Stellung zu beziehen. Sollte Trump eines Tages behaupten, die Erde sei eine Scheibe, so reiche der Hinweis nicht, dass Wissenschaftler ihm widersprechen. Sie fordert eine klarere Unterscheidung der vierten Gewalt (also der Medien), zwischen wahr und nicht wahr, eine Berichterstattung, die das korrumpierende, destruktive, autokratische Wesen dieses Präsidenten beim Namen nennt.
Fragile Institutionen
Immer wieder erstaunlich ist, wie einfach sich die Republikanische Partei von Donald Trump beschlagnahmen liess. Nachdem sich prominente Republikaner vor der Wahl 2016 noch gegen ihn ausgesprochen hatten, fiel fast die gesamte Fraktion mit Trumps Wahl in einen völlig unkritischen Gleichschritt und überbietet sich mich absurder Lobhudelei. Nur zehn Monate nach Trumps Amtsantritt prophezeite etwa Orrin Hatch, damals bereits seit über 40 Jahren Republikanischer Senator aus Utah, diese Präsidentschaft werde „eine der besten seit Generationen, und vielleicht sogar in der Geschichte“ des Landes.
Masha Gessen mahnt, dass man solche Episoden eben nicht bloss als groteske, letztlich aber bedeutungslose Rhetorik abtun kann. Wie in der nach ihrer Meinung allzu zurückhaltenden Reaktion der Medien erkennt sie eine kompromittierte legislative Gewalt, die dem Präsidenten totale Deutungsfreiheit einräumt. Als Trump im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung behauptete, niemand, „mit der möglichen Ausnahme Lincolns“ – der für die Abschaffung der Sklaverei steht – habe mehr getan als er für die schwarze Bevölkerung Amerikas, kam kein Widerspruch aus dem Republikanischen Lager, nur tosende Stille.
Autokraten erkennen
Gessens Buch, enstanden aus einer Sammlung von Essays, die seit Trumps Wahl 2016 in verschiedenen amerikanischen Medien erschienen sind, ist eine Polemik. Aber angesichts ihres an russischen Erfahrungen geschulten Scharfblicks sollte man ihrer Mahnung Beachtung schenken: Institutionen sind nicht unfehlbar, nur weil sie auf Papier festgehalten sind. Sie müssen von ihren Amtsinhabern verteidigt werden, um die vielgerühmte Kraft der „Checks and Balances“ zu entfalten. Und für Gessen verkennen wichtige amerikanische Institutionen, darunter die Medien und auch die Legislative, das Wesen dieses Präsidenten und unterschätzen seine Absicht.
Ist das amerikanische System vor einem Politiker geschützt, der gar nicht die Absicht verfolgt, demokratische Regeln zu respektieren? Klar ist: Wenn Trump nach der kommenden Wahl vom 3. November das Resultat in Frage stellt, sich im Weissen Haus verschanzen und per Twitter seine militantesten Befürworter mobilisieren sollte, wäre das ein weiteres Mal schockierend. Wirklich überraschend wäre es nicht.
Masha Gessen: Surviving Autocracy. Riverhead Books, 2020.
Deutsche Ausgabe: Autokratie überwinden. Aufbau-Verlag, Berlin 2020.