Kurt R. Spillmann war bis zu seiner Emeritierung 2002 Professor für Sicherheitspolitik und Konfliktforschung an der ETH Zürich und Professor für Geschichte der Neuzeit, besonders amerikanische Geschichte, an der Universität Zürich. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel aus den Gebieten Amerikanische Geschichte, Schweizer und internationale Sicherheitspolitik und Konfliktforschung herausgegeben und publiziert. 1986 gründete er die Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktforschung an der ETH (heute Center for Security Studies), die er bis zu seinem Rücktritt leitete. Mit Kurt Spillmann sprach Heiner Hug.
Journal21.ch: Kurt Spillmann, der frühere Sicherheitsberater John Bolton stellt in seinem Buch dem Präsidenten ein vernichtendes Urteil aus. Trump fehle grundlegendes weltpolitisches Wissen. Sind Sie auch dieser Ansicht?
Kurt Spillmann: Trump ist ein schlauer und verschlagener Ignorant, keineswegs unintelligent, aber an wirklichem Wissen nicht interessiert. Darum liest er auch nichts. Er braucht seine Schlauheit nur, um seine narzisstischen Bedürfnisse zu bedienen. Dass er geschworen hat, dem Land zu dienen, ist für ihn nicht mehr relevant. Der Wahlsieg 2016 war für ihn selber eine Überraschung. Doch das Königsein gefällt ihm. Er versteht sich als absoluter Monarch, wie Ludwig XIV. von Frankreich, der gesagt haben soll: „L’État c’est moi!“. (Ganz ähnlich formulierte es Trump in einem FOX-Interview vom 03.11.2017: „I am the only one that matters.“) Er ist beratungsresistent und selbstherrlich und folgt seinen Stimmungen. Auf Wissen gibt er wenig.
China könnte eines der wichtigen Wahlkampfthemen werden. Laut Bolton soll Trump China um Wahlkampfhilfe gebeten haben. Andererseits provoziert er China in der Aussenwirtschaftspolitik. Was soll man von Trumps China-Politik halten?
Was Trump für nützlich hält für seine Wiederwahl, das macht er. Also ist es durchaus möglich, dass er den chinesischen Präsidenten zeitweise für seine Pläne gewinnen wollte, um ihn dann wieder durch Handelshindernisse zu brüskieren, wenn er seinen Wählern den starken Mann vorspielen will. Alles ist gedacht und geplant für seine Wählerschaft, deren Bedürfnisse er bisher so gut abdecken konnte. Bis zur Corona-Krise hat er kaum jemals weniger als 40 Prozent Wähler-Zustimmung erhalten. Trumps „China-Politik“ ist also keine amerikanische Aussenpolitik, schon gar nicht eine internationale Stabilisierungspolitik, sondern persönliche Wahlkampfpolitik.
Trump versucht, die amerikanische Wirtschaft von der chinesischen zu entkoppeln. Die amerikanische Aussenwirtschaftspolitik besteht darin, China vermehrt zu isolieren, mit Handelskrieg und Zöllen zu drohen und die einst nach China verlagerte Produktion zurückzuholen. Er will viele Firmen zwingen, China zu verlassen. Wird das gelingen?
Glücklicherweise ist die Verzahnung der internationalen Wirtschaft so dicht, dass höchstens das Corona-Virus, nicht aber Trumps Wahlkampfbedürfnisse diese globalisierten Netzwerke zu sprengen vermögen.
Seit Trump an der Macht ist, hat China enorm weiter an Bedeutung gewonnen. Längst ist das Land nicht nur ein Zulieferer für ausländische Firmen, sondern ein wichtiger Global Player. Hat sich die Weltordnung endgültig verschoben? Ein stärker werdendes China und ein schwächer werdender Westen mit den USA an der Spitze?
Der Aufstieg und Machtgewinn Chinas ist unübersehbar. Entsprechend werden China die finstersten Absichten in Richtung Weltbeherrschung zugeschrieben. Aber die USA sind noch immer bei weitem die stärkste militärische Macht der Welt. Hingegen machen die tiefe innere Spaltung und die daraus resultierende politische Lähmung die Fortsetzung von Amerikas Rolle als Ordnungsmacht, die die USA nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm, unmöglich. Auch die Uno wird von den USA nicht mehr getragen und durchläuft deshalb auch eine Phase der Schwäche.
Könnte es sein, dass die USA wegen der Corona-Pandemie und der Unruhen geschwächt aus der Pandemie hervorgehen, China aber dank seiner gelenkten Wirtschaft gestärkt ist?
Ja, das könnte sehr wohl der Fall sein, weil China wegen seiner autoritären Führungsstruktur in allen Bereichen koordinierter und damit wirkungsvoller die negativen Auswirkungen der Pandemie bekämpfen kann.
Spielt die Aussenpolitik (ausser jene gegenüber China) für die amerikanischen Wählerinnen und Wähler überhaupt eine Rolle?
Für kleine Kreise der Wirtschaft, der Politik und der Universitäten ist das Ausland von Bedeutung. Für die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung sind die „Brot- und Butterfragen“ von fast ausschliesslicher Bedeutung. Besonders die Kernwählerschaft von Trump gehört zu dieser Mehrheit.
Trump hat mehrere mühsam ausgehandelte internationale Abkommen über Bord geworfen. Ist die Welt wegen Trump unsicherer geworden?
Leider ist das der Fall, und besonders schwerwiegend sind die beiden Bereiche Klimaveränderung und Nuklearwaffen. Aber alle diese Abkommen sind ja nur von internationalem Wert, wenn die Regierungen der teilnehmenden Staaten sie respektieren, und genau das ist bei den USA mit diesem Präsidenten nicht der Fall. Die pathologische Persönlichkeit Trumps spielt auch in dieser Hinsicht die zentrale Rolle.
Könnte sein Nahost-Plan, der die Annexion palästinensischer Gebiete vorsieht, im Nahen Osten einen Flächenbrand entfachen?
Der Nahe und Mittlere Ostern befinden sich in einem chaotischem Zustand. Es gibt unzählige Brandherde unterschiedlicher Intensität von Syrien über Irak, Iran, Libanon, Israel/Palästina, Ägypten, Libyen, Algerien und über die Golfstaaten bis nach Saudi Arabien und Pakistan. Auch Trump würde es nicht gelingen, alle die unterschiedlichen Interessen der sich in diesen lokalen und regionalen Konflikten bekämpfenden Gruppierungen zu einem Flächenbrand zu vereinigen.
Nordkorea geht wieder auf Konfrontationskurs, die Taliban ziehen die USA über den Tisch, Maduro ist noch immer da, die Europäer sind verprellt – Trumps aussenpolitische Bilanz zieht mager aus.
Mehr als das: Trumps Bilanz ist ausgesprochen negativ. Ausser vollmundigen Ansagen (z. B. betreffend nuklearer Abrüstung Nordkoreas aufgrund seiner persönlichen guten Beziehungen zu Kim Jong Un) und beendeten oder ausgelaufenen internationalen Verträgen und einem impotent gemachten Aussenministerium hat Trump nichts – vor allem nichts Konstruktives – vorzuweisen.
Wie beurteilen Sie den angedrohten amerikanischen Truppenrückzug aus Deutschland?
Der Streit zwischen den USA und den Europäern über die Lastenverteilung für die Nato-Truppen ist schon viele Jahrzehnte alt. Seit dem Ende des Kalten Krieges wird die Bedrohung aus dem Osten im Westen weniger dramatisch empfunden. Entsprechend ist die mögliche amerikanische Truppenverlagerung aus Deutschland (evtl. nach Polen oder ins Baltikum) keine existentielle Bedrohung Deutschlands, denn die russischen Streitkräfte haben die Stärke der 70er und frühen 80er Jahre längst verloren.
Bei strategischen Sandkastenspielen reden alle von den USA und China. Wie weit spielt Russland überhaupt noch eine Rolle.
Russland ist der grösste und rohstoffreichste Flächenstaat der Erde. Doch dieses gewaltige Potenzial ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr wirkungsvoll militärisch einsetzbar. Einzig die nuklearen Mittel erhalten Russland noch seinen Grossmachtstatus. Russland scheint bei allen sichtbaren Modernisierungsbemühungen in allen Truppenbereichen das militärische Schwergewicht auf die militärische Cybertechnik verlagern zu wollen.
Militärisch ist doch Russland den USA weit, weit unterlegen. Von einer Supermacht kann nicht mehr gesprochen werden. Welche Bedeutung hat Russland in Trumps Kalkül?
Trump wollte am Anfang seiner Regierungszeit das Verhältnis der USA zu Putin im Sinne einer Propagandamassnahme sichtbar verbessern. Trump musste diese Pläne fallen lassen und auf Abstand gehen zu Russland, als durch die Mueller-Anhörungen Russlands Eingreifen im amerikanischen Wahlkampf zu Gunsten Trumps gegen Hillary Clinton bestätigt wurde. Trump schätzt Russland nach wie vor als Störfaktor ein in der Weltpolitik, der sich z. B. in Syrien oder durch Drohgebärden im Baltikum bemerkbar macht.
Trump scheint immer wieder von Putins Person und seinen autoritären Allüren fasziniert zu sein. Gleich und Gleich gesellt sich gern?
Selbst sehr autoritär hat Trump keine Mühe mit autoritären Staatschefs zu verkehren, so mit Putin, Xi Jin-Ping, Kim Jong Un, Duterte, Bolsonaro, etc. Für die Schwerfälligkeit der demokratischen Politik scheint er wenig übrig zu haben. Dass er sich der Anstrengung des Wahlkampfes im kommenden Herbst stellt, hat damit zu tun, dass er als narzisstische Persönlichkeit aus dem Bad in der Menge der Wahlkampfveranstaltungen grosse Befriedigung und Kraft bezieht.
Die USA waren schon durch die Finanzkrise geschwächt. Jetzt kam Corona, George Floyd und ein aggressives China. Gehen die USA geschwächt aus den vier Trump-Jahren hervor?
Wirtschaftlich, aber vor allem politisch ist die Bilanz von vier Jahren Trump negativ. Er hat der amerikanischen Demokratie und dem Rechtsstaat bereits grosse Schäden zugefügt.
Und Europa? Wird es nach vier Jahren Trump nur noch eine Statistenrolle spielen?
Der Zustand Europas ist nicht von Trump abhängig. Die europäischen Staaten wären stark genug, gemeinsam eine wichtige Rolle in der Welt zu spielen. Doch es gelingt den europäischen Staaten auch nach langer Zeit immer noch nicht, gemeinsam – z.B. im Rahmen der EU – aufzutreten. Die nationalen Teilinteressen sind noch immer zu stark und zu unterschiedlich. Die Europäer müssen froh sein, dass die europäischen Nationen sich wenigstens nicht wie über viele Jahrhunderte in Bruderkriegen gegenseitig bekämpfen.
Wie sieht die Weltordnung aus: Weniger Zusammenarbeit? Mehr Egoismus, mehr Konfrontation zwischen den Staaten und den Blöcken, mehr Konkurrenz, mehr Rivalität?
Das Corona-Virus hat eins gezeigt: Die Welt braucht mehr, nicht weniger Zusammenarbeit. Pandemien, aber auch andere natürliche und menschengemachte Gefahren haben in der globalisierten und vernetzten Welt Bedeutung für alle Erdenbewohner. Die neue Weltordnung muss das Gleichgewicht zwischen einem Rahmenwerk von globalen Verhaltensregeln und den regionalen, nationalen und lokalen Bedürfnissen nach Selbstverwaltung und Selbstbestimmung neu etablieren. Das ist eine Mammutaufgabe, die die Menschen bisher stets überfordert hat. Es ist zu wünschen, dass wir Menschen die Zeit noch haben, diese neue Weltordnung herzustellen.