In Washington wollten die Staats- und Regierungschefs der Nato-Mitgliedsländer ihr 75-Jahr-Jubiläum feiern – 31 von 32 zeigten sich demonstrativ in Feststimmung. Der 32. (Ungarns Premier Viktor Orbán) machte grollend mit, aber nur, um gleich nach dem Ende der Tagung mit seinem Flugzeug nach Florida zu fliegen. Sein Ziel dort: die Villa Mar-a-Lago und Donald Trump, den unsichtbaren Elefanten im Nato-Festsaal.
Was Orbán dort will, ist offenkundig: Er möchte sondieren, ob seine eigene Vision für ein Ende des Ukraine-Kriegs mit jener des wahrscheinlichen Nochmals-Präsidenten der USA übereinstimmt.
Wie diese Vision aussieht, ist einigermassen klar: Der Angreifer Russland friert den Konflikt etwa auf den jetzigen Linien ein, die Ukraine soll sich mit dem Verlust von rund 20 Prozent ihres Territoriums abfinden, rund ein Fünftel der Ukrainerinnen und Ukrainer nehmen Abschied vom Traum einer Zukunft in Freiheit und begeben sich unter die Fuchtel von Wladimir Putin, die anderen vier Fünftel können sich warm anziehen, um auf die nächste russische «Spezial-Operation», also eine Aktion Moskaus im Sinne der Wiederherstellung der 1991 erloschenen Sowjetunion zu warten. All das bedeutet eher das Gegenteil von Friede, Freude, Eierkuchen.
Viktor Orbán ist mit seinen Irrflügen (die ihn auch schon nach Moskau und Peking geführt haben) übrigens nicht ganz allein: Der Regierungschef der Slowakei, Robert Fico, entwickelt sich allmählich zu einem Genossen im gleichen Geiste. Was zu den Fragen führt, ob die Nato wirklich das verschworene Bündnis ist, als das es der Noch-Generalsekretär, Jens Stoltenberg, darstellt. Und was aus diesem Bündnis wird, sollte sich die Befürchtung bestätigen, dass am 5. November Donald Trump nochmals zum US-Präsidenten und damit zum Leitstern des Westens gewählt wird.
In einer Grauzone halten
Das Abschluss-Dokument der Tagung in Washington enthält problematische Passagen. Ein Nato-Beitritt der Ukraine wurde zwar als irreversibel, als unumkehrbar, deklariert, aber auf einen Zeitplan will man sich, Drängen von Wolodymyr Selenskyj hin oder her, nicht festlegen. Das ist verständlich – würde die Ukraine während des Abwehrkriegs gegen Russland in die Allianz aufgenommen, könnte sie sich auf die Beistandsklausel berufen und andere Nato-Mitglieder dazu verpflichten, direkt am Krieg teilzunehmen. Dieses Risiko scheuen fast alle – mit der Ausnahme der drei baltischen Länder und, bereits mit Vorbehalten, Polens.
Die grössten europäischen Nato-Mitgliedstaaten (also Deutschland, Grossbritannien, Italien und Spanien) drängen die Allianz dagegen, ihre Verpflichtungen gegenüber Kiew in einer Grauzone zu halten, so dass ihnen die direkte Konfrontation mit der Atommacht Russland erspart bleibt. Also, u. a. keine Entsendung eigener Kampftruppen in die Ukraine und Warnsignale an die Adresse Selenskyjs, westliche Waffen gegen russische Ziele fern der Grenze einzusetzen. Sie beharrten in Washington, mit Nuancen, auch darauf, dass die Ukraine-Hilfen die Summe von jährlich 40 Milliarden vorerst nicht übersteigen (Selenskyj hatte um 100 Milliarden ersucht). Die Politologin Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin kommentierte diese Summe in einem SRF-Interview mit den Worten: «Die Europäer und die Amerikaner machen sehr viel. Aber es reicht nicht.»
Putin wird sich nicht beeindrucken lassen
Es reicht, das zeigt die Erfahrung, gewiss nicht, um Russland zu besiegen, d. h., um dessen militärische Übermacht in die Knie zu zwingen, wahrscheinlich aber auch nicht, um Wladimir Putin zur Einsicht zu bringen, nun sei es genug, die so genannte Spezialoperation übersteige die Kräfte seiner Nation. Der Kreml wird sich auch weder durch den Beschluss der Nato beeindrucken lassen, im deutschen Wiesbaden ein Koordinationszentrum für die Ausbildung von ukrainischen Soldaten (mit 700 Experten) zu schaffen, noch durch die Entscheidung der USA, wieder atomar bestückbare Langstreckenwaffen auf europäischem Boden zu stationieren.
Fazit: Die fast einheitlich demonstrierte Entschlossenheit der Nato wirkt zwar auf den ersten Blick beeindruckend, das Gespenst einer zweiten Trump-Präsidentschaft konnte die Tagung in Washington aber ebenso wenig verscheuchen, wie die Drohkulisse eines weiterhin eisern entschlossenen Wladimir Putin, den Krieg gegen die Ukraine weiterzuführen, und das Risiko einer Nato-internen Spaltung durch die Eskapaden von Viktor Orbán.