Valeria Mazzanti ist Schweizerin und Facebook-Fan. Jeden Tag sitzt sie am Computer und verfolgt, was ihr Sohn auf Facebook so treibt. Letzte Woche war sie Gast der Radiosendung „Un giorno da pecora“. „Mein Sohn hat sich nie betrunken, er kehrte nie spät nach Hause, er ging selten aus, er hat nie geraucht.“ Der im Studio anwesende Sohn lächelt verlegen.
Valeria Mazzanti hat schneeweisses Haar und geht an einem Stock. Am Sonntag wurde sie von ihrem Sohn ins Wahllokal in der Montessori-Schule bei der Piazza Fiume begleitet. Sie scherzt mit den Journalisten und Fotografen. „Natürlich ist mein Sohn der beste.“ Das fanden jetzt auch 63,93 Prozent der Römer Wählerinnen und Wähler.
Absturz des rechten Kandidaten
Der überraschend hohe Sieg von Ignazio Marino ist eine schreckliche Demütigung für Gianni Alemanno. Er, der bisherige Römer Bürgermeister mit arg neofaschistischer Vergangenheit, erlebte einen eigentlichen Absturz (36,07 %). Alemanno, einst Shootingstar von Berlusconi, ging vielen Römern schon lange auf die Nerven. Seine Überheblichkeit und Ineffizienz waren keine Wahlkampftrümpfe.
Alemannos Demontage hatte sich schon im ersten Wahlgang vor zwei Wochen abgezeichnet. Damals lag er zwölf Prozentpunkte hinter Marino. In der jetzt entscheidenden Stichwahl verlor er weiter an Terrain und liegt mit über 27 Prozent hinter dem Links-Kandidaten.
Debakel für die Rechte
Nicht nur in Rom triumphiert der linke Partito Democratico (PD). Auch in Siena, Ancona, Avellino, Lodi schwingen die linken Kandidaten obenauf. Schmerzhaft für die Rechte ist, dass sie in ihren bisherigen Stammlanden einbrach. Vor allem der Machtverlust in Brescia, Treviso, Viterbo und Imperia ist ein Schock für die Rechtsallianz.
Dass sich dieser Linksrutsch unmittelbar auf die nationale Politik auswirken wird, ist eher unwahrscheinlich. Zwar sind diese Gemeindewahlen Balsam auf die Seele des bisher wenig effizienten linken Ministerpräsidenten Enrico Letta. Doch über ihm hängt das Damoklesschwert von Berlusconi. Letta muss tun und lassen, was Berlusconi will - sonst droht seine fragile Regierung auseinanderzubrechen. Berlusconi lag bisher in den nationalen Meinungsumfragen vorn. Allerdings muss er sich jetzt fragen, ob der Wind doch nicht etwas gedreht hat.
Viereinhalb Millionen Wahlberechtigte konnten in 67 Städten und Gemeinden ihre Bürgermeister neu bestimmen. Doch das Interesse konzentrierte sich auf die Hauptstadt, wo es um das Schicksal des politischen Schwergewichts Alemanno ging.
Schillernde Figur
Mit seiner Niederlage tritt – zumindest vorläufig – eine der schillerndsten Figuren aus dem Scheinwerferlicht. Alemanno hatte vor fünf Jahren die Bürgermeisterwahl gewonnen – nicht, weil ihn die Römer besonders toll fanden, sondern weil Francesco Rutelli, sein damaliger linker Gegenkandidat, eine farblose Figur war.
Der heute 55-jährige Alemanno war schon früh in die Jugendorganisation des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) eingetreten. Verbrieft sind seine Tätlichkeiten gegen sogenannt linke Studenten. Alemanno wurde deshalb festgenommen. Einmal warf er einen Molotov-Cocktail gegen die sowjetische Botschaft.
Im Jahr 1995 mauserte sich der MSI zur Alleanza Nazionale (AN). Alemanno wurde als AN-Vertreter ins nationale Parlament, in die Abgeordnetenkammer, gewählt. Ein grosser Teil der Partei, und mit ihm Alemanno, sagte sich später vom neofaschistischen Gedankengut los und positionierte sich rechts und konservativ. 2009 ging die Alleanza Nazionale in Berlusconis Popolo della Libertà (PdL) auf.
Natürlich gibt es keine Sippenhaft. Trotzdem soll erwähnt sein, dass Alemanno mit der Tochter von Pino Rauti verheiratet ist. Rauti war bis zu seinem Tod vor zwei Jahren bekennender Faschist und Anhänger von Mussolinis Gedankengut.
Spezialist für Lebertransplantationen
Ignazio Marino, der jetzt gewählte Kandidat des sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) wurde in Genua geboren. Sein Vater war Sizilianer. Mit 14 Jahren zog seine Familie nach Rom. Nach seinen Studien hat sich Marino auf Chirurgie und Gefässchirurgie spezialisiert. 25 Jahre seines Lebens verbrachte er im Ausland, vor allem in Cambridge, Pittsburgh und Philadelphia. Endlich ein Römer Bürgermeister, der nicht nur Italienisch spricht. 1999 gründete er in Palermo das erste Lebertransplantationszentrum Siziliens.
2001 führte Marino die erste Lebertransplantation an einem seropositiven Mann in Italien durch. Der junge Mann, der einen Teil der Leber seines Vaters erhielt, lebt noch heute und ist gesund.
2006 kandidierte Marino bei den Senatswahlen als Unabhängiger auf der Liste des Partito Democratio. Schnell wurde er Vorsitzender der Hygiene- und Gesundheitskommission. 2008 sowie im Februar 2013 wurde er wiedergewählt. 2009 wollte er Chef des Partito Democratico werden. In den Primärwahlen unterlag er jedoch klar Pier Luigi Bersani.
Zielscheibe von Tierversuchsgegnern
Ignazio Marino ist ein bekennender Katholik. Er hat mehrere Bücher über Ethik und Medizin geschrieben. 2009 hatte er im Internet einen Appell veröffentlicht und ein Gesetz für ein biologisches Testament gefordert. So sollte sichergestellt werden, dass bei Patienten im Endstadium – sofern sie es verlangen - die Hydrierung und die künstliche Ernährung eingestellt werde.
Dieses Thema wurde jetzt auch im Wahlkampf ausgeschlachtet. Marino wurde in den letzten Wochen auch von Gegnern von Tierversuchen scharf attackiert. Sein Gegenkandidat Alemanno nahm den Ball noch so gern auf und liess sich mit einem netten Kätzchen im Arm fotografieren.
Tiefe Wahlbeteiligung
Alemanno, der Marino schon zu seinem Sieg gratulierte, versucht sein schlechtes Ergebnis mit der tiefen Wahlbeteiligung zu erklären. Tatsächlich haben die Römer – und nicht nur sie – die Urnen gemieden wie selten zuvor. Im Durchschnitt lag die Wahlbeteiligung bei 48,5 Prozent, das sind mehr als elf Prozent weniger als vor zwei Wochen.
Im Rom, wo im ersten Durchgang noch 52,8 Prozent der Wählerinnen und Wähler an die Urnen gingen, sackte die Beteiligung erneut um sieben Prozent ab und liegt jetzt bei 45 Prozent – ein für italienische Verhältnisse miserables Ergebnis. Der Grund ist klar: Die Italiener haben kein Vertrauen mehr in ihre Politiker.
Lammkoteletts oder Carbonara
Tief ist die Wahlbeteiligung offenbar auch auf Sizilien, wo erst der erste Wahlgang in vielen Gemeinden (also noch nicht die Stichwahl) stattfindet. Unter einer schlechten Beteiligung könnte vor allem die Protestbewegung "Movimento 5 stelle" des Ex-Komikers Beppe Grillo leiden. In Catania, Messina, Syrakus und Ragusa hatten sich die 5-Sterne-Leute eine gewisse Chance ausgerechnet.
Auf dem Festland ist es nach unschönen internen Streitereien um die "5 Sterne" schon etwas ruhig geworden. Die Bewegung gewann allerdings, wie erwartet, das Bürgermeisteramt von Pomezia, südlich von Rom und in Assemini bei Cagliari auf Sardinien.
Der Schweizerin Valeria Mazzanti ist es egal, was andernorts geschieht. Sie ist überglücklich heute Abend. Dass Gianni Alemanno nicht gewählt wurde, erleichtert sie: „Er gefällt mir absolut nicht. Er erzählt Lügen über meinen Sohn. Ich gebe ihm die Note Null.“
Das Radio fragte sie, was sie denn jetzt zur Feier des Tages seinem Sohn koche? „Eine schöne Pastasciutta sowie einige Römer Gerichte, Lammkoteletts oder auch eine schöne Carbonara.“