Ist es nicht ein mühsames Schlangestehen in der Hitze und Kälte, das Aussortieren von Parteisymbolen, das Geplärre der Lautsprecher, die ihre Versprechen wie Konfetti von den Fahrzeugen – sei’s Lastwagen oder Fahrrad – herunterregnen lassen? Und dies, wenn doch der Wähler die Hoffnung schon lange aufgegeben hat, den schwerfälligen Koloss Staat mithilfe von Wahlen in ein Dienstleistungsunternehmen zu formen.
‚If you can’t beat them, join them‘. Das scheint die Losung zu sein, die sich die Bewohner meines Dorfs als Wahlslogan gewählt haben. Zwar geht es nicht um grosse Namen, und es wird nicht über schicksalsschwere Themen wie Kaschmir oder Nuklearenergie abgestimmt.
In Maharashtra stehen Lokalwahlen an, genaugenommen die Besetzung der Zilla Parishad, eine Art Parlament auf der Ebene des Teilbezirks. In Europa würde dies keine Seele aus dem Hause locken. In Awas scheint sich jeder zweite – männliche - Bewohner in den Kampf geworfen zu haben, er klebt Posters, steckt Fähnchen, verteilt Stickers und Schals, neuerdings sogar frottierte Armbänder. Vikas Vakhre, der Bruder unseres Hausangestellten, ist sonst nur auf dem Ochsenkarren zu sehen, wenn er, im schläfrigen Schleppgang, Mist führt. Letzte Woche sah ich ihn am Steuer eines Tata Sumo-Jeeps, die Hintersitze voll von Werbematerial für die ‚Hand‘-Partei – Kurzform für die Kongresspartei (ihr Wahlsymbol ist eine Hand).
Unabkömmlicher Staatsapparat
Seit Wochen haben sich die Zeichen gemehrt, dass der Inder Lieblingssport wieder einmal alle anderen Tätigkeiten – Arbeit, Gebet, Cricket – in den Schatten stellt. Ich wollte in einem nahen Stammesgebiet eine NGO besuchen, die ein interessantes Solarlampen-Projekt entwickelt. „Können wir ein anderes Datum finden?“ e-mailte mir die Verbindungsperson vor vierzehn Tagen. „Die Dorfleute sagen, sie seien sehr beschäftigt mit den Wahlen“. Impact India, eine andere ‚Non-Profit‘, verschob meinen Termin zweimal; der gesamte lokale Staatsapparat ist „unabkömmlich, da mit Wahlen beschäftigt“. Und da Lehrer immer als Erste für Wahldienst mobilisiert werden, würde ich auch keine Schulen besuchen können. Obwohl das offizielle Zirkular nur von zwei schulfreien Tagen sprach, waren bei uns die Schulen fünf Tage geschlossen. Geht es den Leuten – und den Parteien – einfach um das Gaudi, das etwas Betrieb in den öden Alltag bringt? Natürlich nicht. Auch die kleinste Dorfwahl ist heute ein ökonomischer Faktor, und es geht um Geld und Einfluss. Die Zilla Parishad, die im Fall des Teilbezirks Alibagh etwa achtzig Dörfer mit rund 130‘000 Wählern abdeckt, ist zwar weniger wichtig als der Dorfrat, über den immer mehr staatliche Entwicklungsgelder fliessen. Aber auch er kanalisiert eine Reihe von Projekten, die über die Wirkungsbereich eines einzelnen Dorfs hinausgehen – Teile des Strassenbaus, der Strom- und Wasserversorgung, die Schulmittelstufe, Forstwesen, Gewässer.
Win-Win
Der Zilla Parishad-Versammlung kann also Projekte durchwinken und Gelder sprechen. Die Parteien haben auf der nationalen Ebene ideologisch gefärbte Programme, hier geht es ihnen darum, ihren Mitglieder zu helfen, an Aufträge kommen. Und da viele der Bauern nebenbei als Kleinunternehmer tätig sind – im Strassen- oder Hausbau, als Ziegelhersteller, mit einem selbstgelernten Handwerk, als Tagelöhner – sehen sie in den Parteien Hilfsmittel zum Akquirieren neuer Aufträge. Die Partei ihrerseits kann mit Freiwilligen im Wahlkampf rechnen, und ihre Kasse ist zudem gefüllt mit Kommissionsgeldern, die sie unter der Hand für erfolgte Staatsaufträge kassiert hat. Es ist ein perfektes ‚Rigi-Figi‘, wie wir als Kinder beim Mühlespiel solche Win-Win-Kombinationen genannt haben. Der Staat tut seine Pflicht, der Dorfbewohner erhält einen neuen Strassenbelag, die Parteien haben Geld, um die Landschaft mit Postern zuzukleben. Geld zirkuliert. Und Alle halten sich gegenseitig den Rücken frei.
Vikas Vakhre zum Beispiel führt nicht nur Mist, ich sehe ihn auch manchmal, wie er am Strand Sand auf den Karren lädt und auf einer Baustelle löscht. Dieses ‚Sand-Mining‘ ist höchstwahrscheinlich illegal (Dorfbewohnern ist es nur für den Eigengebrauch gestattet). Da ist es sicher klug von Vikas, wenn er sich für Bezirksratskandidaten einsetzt, die eine Hand über ihn halten, falls ein neidischer Nachbar ihn bei der Polizei verpfeift. Ähnlich ist es mit Srinivas Bhagat. Er ist ein Baumeister, der zwar keine Pläne lesen kann (ich weiss es, er hat unser Haus gebaut), dafür aber pfeilgerade Mauern hochzieht. Seine Schwäche sind Ochsenkarren-Rennen. Sie sind kürzlich vom Obersten Gericht in Bombay als „Tierquälerei“ taxiert und damit verboten worden. Sie finden noch immer statt, dank der Rennlobby in den Gemeinderäten und im ‚Zilla Parishad‘, für den Niwas diesmal kandidiert. „Wie könnt Ihr einen Gerichtsbeschluss missachten, dazu noch vom Obersten Gericht des Bundesstaats?“, fragte ich ihn kürzlich. „(We) manage“, antwortete er kurz, begleitet von einem Lächeln, das so vieldeutig war wie das englische Wort ‚manage‘, das im lokalen Marathi bequem Platz gefunden hat.
500 Rupien für eine Stimme
Dienstag und Mittwoch waren die beiden Wahltage in Alibagh. Wie immer hatte die strenge Wahlkommission öffentliche Veranstaltungen und Lautsprecher-Einsätze schon am Vortag verboten - es sei denn, eine Partei hätte, wie im Nachbardorf Dokhode, einen Abend mit religiöser Musik gesponsert und sich diskret als Wohltäterin in Umlauf gebracht. Bei den Wahllokalen in Awas und Sasawne – es sind jeweils die Schulhäuser – waren die Zufahrtstrassen in je hundert Metern Entfernung mit weissen Streifen markiert worden. Die Parteien durften nicht näher heran, um den Wähler ja nicht zu beeinflussen. Sie hatten ihre Tische mit den Wahllisten daher ausserhalb der Sperrzone platziert, für den Fall, dass ein Wähler nicht sicher war, ob er auch registriert sei.
Werbung war offenbar gar nicht mehr nötig. Als ich am Dienstagnachmittag hinfuhr, lief alles geordnet und routiniert ab. Die Leute hatten ihre Wählerkarten und Stimmzettel in der Hand, und sie schienen zu wissen, welchem Symbol sie den Zuschlag geben würden. Als wir unsere Angestellten am Abend fragten, für welche Partei sie denn gestimmt hatten, gab es zunächst ein peinliches Lächeln und nervöses Füsse-Scharren. Dann rückte der Gärtner Suresh heraus. Er habe von der ‚Sichel‘(-Partei) fünfhundert Rupien erhalten und für diese gewählt. Wir fragten weiter, bei den Familienmitgliedern, bei Nachbarn. Alle hatten sie, sei es von der ‚Hand‘, dem ‚Lotus‘, dem ‚Wecker‘ oder der ‚Sichel‘, einen Fünfhunderter zugesteckt erhalten. Die Parteivertreter auf den Strassen vor den Schulhäusern, so erfuhr ich, waren nur da, um zu prüfen, ob die Empfänger auch zur Urne gingen. Ob diese dann auch für die spendable ‚Hand‘ wählten würden, das war offenbar einkalkuliertes ‚Geschäftsrisiko‘. Bei ‚Pinky‘, die hie und da unsere Gäste massiert, hatten sie sich jedenfalls verrechnet: sie hatte sich gleich von zwei Parteien auszahlen lassen.