Vordergründig ging es um vier Sachvorlagen. Unter anderem wurde darüber abgestimmt, ob in Italien Atomkraftwerke gebaut werden sollen. So emotional dieses Thema auch sein mag, es rückte schnell in den Hintergrund. Es ging bei dieser Volksbefragung um viel mehr: Die Abstimmung war ein Referendum für oder gegen Berlusconi.
Der Ministerpräsident hatte die Italiener aufgerufen, die Volksbefragung zu boykottieren. Wenn in Italien nicht 50 Prozent der Stimmberechtigten zur Urne gehen, ist das Resultat ungültig. Hätten weniger als 50 Prozent an der Abstimmung teilgenommen, wäre dies einem Sieg Berlusconis gleichgekommen.
Berlusconi: "Schweigen wir die Abstimmung tot"
In einer beispiellosen Mobilisierungskampagne versuchten nun Berlusconis Gegner, die Wähler an die Urnen zu trommeln. Bis zuletzt stellten sie sich die bange Frage: „Erreichen wir die 50 Prozent oder nicht?“. Die Vorzeichen waren ungünstig: Seit 1995 erreichte keine der sechs Volksabstimmungen das nötige Quorum von 50 Prozent. Auch diesmal waren die Prognosen eher düster.
Berlusconis Kalkül war simpel: Schweigen wir die Abstimmung tot, dann merken die Leute gar nicht, dass sie stattfindet: dann gehen sie auch nicht zu den Urnen. Seinen Medien befahl er, das Thema nicht zu erwähnen. Seinen Parteifreunden verbot er, an Politdiskussionen teilzunehmen, um die Sache vergessen zu lassen.
Die Nerven lagen blank, hüben und drüben. Die Meteo-Sendung der RAI-Tagesschau, des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders, prophezeite am Samstag sonniges Pfingstwetter und empfahl der Bevölkerung, „einen schönen Spaziergang“ zu machen. Schon witterten Berlusconis Gegner Abstimmungsmanipulation: Spazieren statt abstimmen.
Wahlen und Abstimmungen finden in Italien traditionsgemäss an einem Sonntag und dem folgenden Montag statt. Schon am Mittag des Pfingstsonntags fassten Berlusconis Gegner Mut. Eine erste Hochrechnung über die Stimmbeteiligung zeigte einen Wert von über elf Prozent. Jetzt meldeten sich die Auguren zu Wort: Wenn am Sonntag um zwölf Uhr ein zweistelliger Wert erreicht ist, deute dies auf eine Stimmbeteiligung von über 50 Prozent hin.
Am Sonntagabend um 19.00 Uhr kam die zweite Hochrechnung: 25 Prozent. Um 22.00 Uhr waren es überraschende 41 Prozent. Die Linke frohlockte. Es fehlten also nur noch neun Prozent, und am Montag waren die Abstimmungslokale noch bis 15.00 Uhr geöffnet. Schon begannen Berlusconis Gegner Freudenfeste für den Montagabend zu organisieren.
94 Prozent gegen Atomkraftwerke
Am Montag um 15.03 Uhr zischte eine Feuerwerksrarekte über den Römer Campo dei Fiori. Das Schlussresultat ist ein „Tritt in den Hintern“, wie ein älterer Mann kommentiert. Über 57 Prozent haben an der Abstimmung teilgenommen. Sie alle haben Berlusconis Aufruf nicht befolgt, den Urnengang zu ignorieren.
Mindestens 25'209'345 Italienerinnen und Italiener hätten zu den Urnen gehen sollen, um das 50 Prozent-Quorum zu erreichen. Es waren schliesslich weit mehr als 30 Millionen. Eugenio Scalfaro, der grosse alte Mann des italienischen Journalismus, analysierte: Das jetzige Resultat ist „ein grosser Schritt vorwärts“. "Die Schlinge um Berlusconi zieht sich zu", kommentiert die Oppositionszeitung "La Repubblica".
Alle Vorlagen wurden angenommen. Das heisst: Italien hat sich deutlich gegen den Bau von Atomkraftwerken ausgesprochen. Über 94 Prozent der Stimmenden haben gegen AKW votiert. Deutlicher geht es nicht. Die Wasserversorgung wird nicht privatisiert und das Gesetz, das hohen Politikern erlaubt, Prozesse unendlich hinauszuzögern, wurde weggefegt.
Berlusconi hat schon erklärt, das Ergebnis betreffe einzig Sachthemen und werde nichts an der nationalen Politik ändern. „Ich nehme das Resultat zur Kenntnis und basta“, sagte er. Doch er kann es drehen und wenden wie er will: Das Ergebnis ist die dritte schallende Ohrfeige innerhalb von zwei Monaten. Zuerst konnte er in Mailand und Neapel seine Kandidaten im ersten Wahlgang nicht durchbringen. Dann im zweiten Wahlgang erlitt er ein schreckliches Debakel. Und jetzt dies.
Selbst der Papst rief zum Urnengang auf
Die Italiener haben genug von ihm. Sie hatten jetzt zum ersten Mal Gelegenheit, sich gegen Berlusconi auszusprechen, ohne sich für eine Oppositionspartei entscheiden zu müssen. Dies erklärt das Ausmass von Berlusconis Niederlage. Denn wenn sich bei Wahlen die Italiener für die Opposition entscheiden müssen, dann zögern sie. Viele sagen sich, wer stimmt schon für die zerstrittene Opposition mit ihren Dutzenden von Strömungen und Dutzenden von Möchte-gern-Häuptlingen? Diesmal war es einfach: Berlusconi „Ja“ oder Berlusconi „Nein“. Die Linke täte schlecht daran, dies als ihren Sieg zu deklarieren.
Natürlich kamen den Berlusconi-Gegnern auch die Sachthemen zugute. Italien ist traditionsgemäss ein Anti-Atom-Land. Berlusconis Absicht, jetzt AKW zu bauen, war von Anfang an unpopulär. Abgestimmt wurde auch über die Privatisierung der Wasserversorgung. Auch da kamen Emotionen hoch. Das Wasser sei doch ein Allgemeingut, hiess es, und dürfe nicht zum Geschäftsinteresse einiger Weniger werden, wie dies Berlusconi wollte.
Auch die Aufrufe von Intellektuellen, Filmregisseuren, Theaterleuten, Schriftstellern und Sängern, wie Adriano Celentano oder Gianna Nannini, haben wohl viele mobilisiert. Dazu kam Hilfe von unerwarteter Seite: Der Papst rief die Bevölkerung - indirekt, aber deutlich - auf, an der Abstimmung teilzunehmen. Dass Benedikt XVI. kein Freund von Berlusconi und seinen Bunga Bunga-Allüren ist, weiss man. Auch Staatspräsident Giorgio Napolitano, der alte beliebte Mann im Quirinal, machte sich stark für den Urnengang.
Natürlich wird Berlusconi nicht zurücktreten
Pech hatte Berlusconi auch, als wenige Tage vor der Abstimmung die neuesten Wirtschaftszahlen veröffentlicht wurden. Italien geht es schlecht, nur Griechenland, Portugal und Irland geht es noch schlechter. Die Wirtschaft wächst kaum, die Staatsschuld nimmt in gigantischem Ausmass zu.
Natürlich fordert jetzt die Opposition sogleich den Rücktritt des Ministerpräsidenten. Und natürlich wird Berlusconi nicht zurücktreten. Er wird sich winden und neue Gesetze zu seinem Schutz präsentieren. Doch innerhalb seines Machtapparates hat bereits eine Absetzungsbewegung begonnen. Seine Regierung „wird bald implodieren“, prophezeit Eugenio Scalfaro. Berlusconi ist zur Geisel von Lega-Führer Umberto Bossi geworden. Wenn Bossi nicht mehr will, stürzt Berlusconi. Berlusconis Zeit ist abgelaufen, er ist so schwach wie nie zuvor.
Verlorener Geruchsinn
Berlusconi, der jetzt 17 Jahre an der Macht ist, besass früher einen ausgeprägten Geruchsinn. Darauf beruhten seine Erfolge. Er wusste, was das Volk hören wollte. Wenige haben den Populismus so raffiniert betrieben wie er. Doch in jüngster Zeit ist ihm dieser Geruchsinn abhanden gekommen.
Die Kommunalwahlen in Mailand und Neapel erklärte er zunächst zu einem nationalen Test für seine Regierung. Als es schief lief, sagte er: „Alles ist lokal, kein Einfluss auf die Regierung“. Hätte er die Wahlen nicht zum nationalen Test ausgerufen, hätte er sich aus der Schusslinie genommen.
Den zweiten kapitalen Fehler beging er, indem er sagte: „Ich gehe nicht abstimmen“. Damit zementierte er die Fronten und machte die Abstimmung erst recht zu einem Referendum über seine Person.
Berlusconi wird wohl noch einige Zeit ausharren können. Und dann? In Italien Prognosen zu stellen, ist ein gefährliches Unterfangen. Die meisten Prophezeiungen erweisen sich als falsch. Doch einiges könnte darauf hindeuten, dass dann Wirtschaftsminister Giulio Tremonti an die Macht gelangt. Selbst viele Linke könnten für Tremonti stimmen. Sie wollen vorerst nur eins: den verhassten Berlusconi vom Platz fegen.