Dies ist das Schicksal vieler Revolutionen. Die ersten Urheber sind notwendigerweise radikale Idealisten, die alles Bisherige sofort verändern wollen. Früher oder später jedoch werden sie von den Realisten eingeholt und überholt.
Eine unvollendete Revolution
Die ägyptische Revolution ist keine vollständige Revolution gewesen. Der mächtigste Pfeiler des Staates, seine Armee, blieb erhalten. Er übernahm die Macht, und er sorgte im Laufe des ersten Revolutionsjahrs dafür, dass die meisten Institutionen des Staates, wenig oder gar nicht verändert, fortbestehen.
Das Parlament ein "Geschenk" der Armee
Der SCAF (Supreme Council of the Armed Forces) ist der neue Machthaber Ägyptens. Er hat nur eine Institution wirklich verändert. Unter Mubarak gab es ein Parlament, doch es war ein zahnloses Ja-Sager-Parlament. Der SCAF hat erlaubt, ja sogar mitbewirkt, dass diesmal ein echtes Parlament in ehrlichen Wahlen bestellt wurde.
Eine gewählte Versammlung besteht
Wahlen hatte die Militärführung ursprünglich auf den Juni 2011 versprochen, doch es war erst im Dezember 2011 gewählt worden. Jetzt gibt es ein Parlament. Es hat seine Eröffnungssitzung, die zwölf Stunden lang dauerte, am 24. Januar durchgeführt. Dieser Umstand gibt Anlass zum Jubel. Natürlich jubeln in erster Linie jene politischen Formationen, die in den Wahlen den Sieg davon getragen haben: die Muslimbrüder, die von den total 510 Sitzen im Parlament deren 235 erobert haben – und die Salafisten mit ihren 123 Sitzen. Weit zurück liegen als die nächstgrossen Formationen die beiden säkularen Parteien des Zentrums, Wafd und Ägyptischer Block mit 38 und 34 Sitzen.
Sechs Monate weiterer Herrschaft von SCAF
Doch Anlass zur Trauer und zu Aufrufen zur "Rettung der Revolution" geben zweierlei Tatsachen. Zum ersten der Umstand, dass bisher die anderen Institutionen des Staates nicht wirklich "gereinigt" oder "reformiert" werden konnten. Dort sitzen unverändert die Sicherheitsschergen, die Bürokraten und Richter der vorrevolutionären Zeit. Die Regeln, unter denen sie agieren, haben sich auch nicht verändert.
Zweitens: Jetzt gibt es einen neuen, nicht vom Volke gewählten obersten Machthaber, der an die Stelle des abgesetzten Präsidenten getreten ist: eben der SCAF. Die Militärführung hat versprochen, sie wolle zurücktreten, sobald ein ägyptischer Präsident vom Volke gewählt worden sei. Nach dem neuesten Zeitplan soll dies im Juni dieses Jahres geschehen. Doch solange der SCAF an der Macht bleibt, kann der Offiziersrat weitgehend tun und lassen, was er will.
SCAF als provisorischer Souverän
Die Militärführung begründet dies formell so: Der SCAF ist an Stelle von Präsident Mubarak getreten. Die Verfassungsregeln, die unter Mubarak galten, sind nur leicht abgeändert und im vergangenen März in dieser abgeänderten Form von der Bevölkerung durch Plebiszit angenommen worden. Die Änderungen betrafen primär die Regeln, unter denen die Wahlen durchzuführen seien, sowohl für das Parlament wie auch für die Präsidentschaft. Fast alle anderen Regeln blieben bestehen.
Dadurch ergab sich, dass der SCAF die Machtfülle Mubaraks erbte. Zu dieser Machtfülle gehört, dass der SCAF durch Dekret Gesetze erlassen und regieren kann. Der SCAF ernennt auch die Regierung, ohne Mitwirkung des Parlaments. Der SCAF kann Gesetze, die das Parlament formuliert, oder die die Regierung vorschlägt, annehmen oder ablehnen. Doch der SCAF und die vom SCAF ernannte Regierung können auch selbst Gesetze und Dekrete mit Gesetzeswirkung erlassen. Ob das Parlament sich diesen widersetzen kann, ist zurzeit nicht klar.
Wer entscheidet über die Verfassung?
Zu den gesetzlichen Schritten der kommenden Monate und Wochen gehören auch die Regeln, unter denen die neue Verfassung Ägyptens geschrieben werden soll, einschliesslich der Frage, wer sie zu schreiben hat. Dazu gehören auch die Regeln, unter denen die Wahl des Präsidenten erfolgen soll.
Die Verfassung wird unter vielen anderen vitalen Fragen auch festlegen, welche Macht dem künftigen Präsidenten und welche Befugnisse dem Parlament zustehen werden. "Legal" gesehen ist der SCAF in der Lage, in all diesen Belangen entscheidenden Einfluss auszuüben. In der politischen Praxis wird der SCAF allerdings die Parlamentarier und die Bevölkerung, soweit sie sich zu Wort melden, zu berücksichtigen haben.
Die Armee hat ihre eigenen Anliegen
Das vergangene Jahr hat deutlich gemacht, dass die Militärs ihre eigenen politischen Anliegen besitzen und gedenken, diesen Geltung zu verschaffen. Wie weit diese Anliegen allerdings gehen, ist ungewiss. Es könnte sein, dass der SCAF sich mit Zusicherungen einer besonderen Stellung der Streitkräfte in Ägypten begnügen könnte. Es ist aber auch denkbar, dass die Offiziersführung davon ausgeht, sich eine Kontrollfunktion über den Staat zu sichern. Sie könnte diese über einen ihr nahestehenden Staatschef ausüben, etwa einen pensionierten General, oder auch durch die Einrichtung eines Sicherheitsrates, in dem die Militärs eine beherrschende Stellung einnähmen. Natürlich sind auch beide Varianten gleichzeitig denkbar.
Haben die Militärs die Revolution "gestohlen"?
Dies gibt Anlass zur Trauer und zu den Rufen nach sofortigem Abtreten der Militärs. Die politischen Köpfe der Revolutionsgruppen, die im neuen Parlament nur mit sieben Sitzen vertreten sind, sagen sich, die Militärs müssen nur die Vollmachten wahrnehmen, die sie sich zugeteilt haben. So können sie bewirken, dass sie in Zukunft die wahre Macht über Ägypten ausüben.
Nicht nur sie, sondern auch viele andere nicht auf Revolution ausgehende Ägypter vermuten, die Parlamentsmehrheit der Muslimbrüder oder gar jene noch viel erdrückendere aller muslimischen Parteien, könnten sich mit den Generälen verständigen. Dadurch erhielten sie eine Zusage, dass sie die Bühne der staatlichen Herrschaft besetzen könnten, wenn sie zuliessen, dass die Generäle hinter den Kulissen die entscheidenden Massnahmen anordneten oder kontrollierten.
Gibt es einen Pakt der Muslimbrüder und der Offiziere?
Viele Ägypter argwöhnen, dieser Pakt sei schon geschlossen. Sie sehen sich in dieser Vermutung bestärkt durch den Umstand, dass das bisherige Regime unter der Leitung der Offiziere sehr weitgehend bewahrt worden ist. "Offenbar in der Absicht", so argwöhnen sie, "das alte Gebäude aufrechtzuerhalten und nur gerade die Person des bisherigen Machthabers und seiner engsten Mitarbeiter durch neue Köpfe zu ersetzen."
Dieser Schluss ist nicht zwingend. Es wäre auch denkbar, dass die Generäle einfach keine Zeit und keine Bedürfnisse hatten, unter ihrem Übergangsregime tiefgreifende Reformen des ägyptischen Staates einzuleiten. Dass diese zunächst die Unsicherheit im Land noch weiter gefördert hätten, war anzunehmen, und die Generäle waren gewiss nicht daran interessiert und auch nicht qualifiziert, einen Umbau des ägyptischen Staatsgefüges in die Hand zu nehmen. Vielleicht sagten sie sich, das könne später die Aufgabe der gewählten Behörden werden. Allerdings dürften viele von ihnen der Meinung sein, Umbau ja, aber ohne die Interessen der Armee zu schädigen. Wobei sie der Ansicht sind, dass es ihnen obliege, diese Interessen der Armee zu definieren und zu bewahren.
Der Zusammenhalt der Armee
Die Erfahrungen des vergangenen Jahres haben gezeigt, dass die Offiziersführung unter dem Druck der Demonstrationen elastisch nachgibt. Sie nimmt nie die Forderungen "der Strasse" vollständig an. Doch sie geht Konzessionen ein, lässt Teilerfüllungen zu, wenn "die Strasse", angetrieben von den Revolutionsgruppen, ihre Forderungen nachdrücklich und einstimmig laut werden lässt.
Dies ist höchst wahrscheinlich eine Nachwirkung der ersten Revolutionswochen, in denen die Militärs sich gezwungen sahen, Staatschef Mubarak abzusetzen, um den Zusammenhalt der ägyptischen Streitkräfte zu bewahren. Sie weichen nun der Gefahr aus, erneut in die Lage versetzt zu werden, dass sie ihre Tanks auf den Strassen einsetzen und sich fragen müssen: "Werden diese Tanks, wenn es zum Schiessbefehl kommt, auf die Bevölkerung schiessen oder auf die Machthaber, die den Schiessbefehl erteilt haben?"
Der SCAF spaltet die Massen
Es dient ihrem Zweck, einen Teil der Forderungen der Bevölkerung anzunehmen und andere Teile, meist die entscheidenden, zu ignorieren. Ein Teil der Bevölkerung begnügt sich mit diesen Zugeständnissen, ein anderer nicht und versucht weiter zu demonstrieren. Die Protestierenden sind gespalten. Der SCAF kann Teile der Ägypter beruhigen, andere sogar als Sympathisanten gewinnen.
Solche Entwicklungen haben sich im Verlaufe des Jahres mehrmals wiederholt. Doch die Brutalität der Sicherheitskräfte bei der Niederschlagung des harten Kerns der Revolutionäre hat auch mehrmals bewirkt, dass erneut Einmütigkeit auf den Strassen entstand und wieder grosse Massen von Demonstranten zusammenkamen, worauf die Militärs sich veranlasst sahen, Zugeständnisse zu machen.
Nachgeben mit Einschränkungen
Zu diesen Besänftigungsgesten gehörte die jüngste Ankündigung, dass die verhassten Gesetze des Ausnahmezustandes aufgehoben würden. Laut diesen Gesetzen waren die Militärgerichte für viele zivile Vergehen zuständig. Aufgehoben werden diese Gesetze allerdings nur mit Einschränkungen: für "Thuggerie" ("Gewaltverbrechen") gelten sie noch immer. Wie die "Thuggerie" definiert werden soll, weiss noch niemand, immerhin dürften gewaltlose Streiks, die bisher ebenfalls von den Militärgerichten bestraft werden konnten, sowie Kritik an den Streitkräften nicht unter "Thuggerie" fallen.
Ebenfalls eine Konzession der jüngsten Tage war die Entlassung von 1500 Gefangenen. Einige von ihnen waren unter den Militärgesetzen angeklagt und verurteilten worden. Andere waren ohne Anklage der Militärs festgehalten und nicht selten misshandelt worden. Laut Menschenrechtsorganisationen soll es ingesamt 12‘000 solcher Gefangener geben.
Entgegengesetzte Grundinteressen
Das nun eröffnete Parlament wird wahrscheinlich als ein Gegenspieler des SCAF wirken. Sogar wenn der erwähnte, vermutete Pakt zwischen der parlamentarischen Mehrheit und den Offizieren wirklich bestehen sollte, werden sich Konfrontationen zwischen den beiden Mächten, dem gewählten Parlament und den selbsternannten "vorläufigen", aber sehr absoluten Herrschern, ergeben.
Auch das Parlament ist spaltbar
Dabei können die Offiziere im Parlament ebenso gut wie bisher im Falle der "revolutionären Massen" damit rechnen, dass auch ihre Gegner nicht immer einig sein werden. Schon in der zweiten Sitzung des Parlamentes wurde der Ärger der parlamentarischen Minderheiten über die Mehrheit der Muslimbrüder sichtbar, als diese ihre Mehrheit dazu benützten, die parlamentarischen Kommissionen überwiegend mit ihren Parlamentariern zu besetzen. Nun täten die Muslimbrüder dasselbe, was die Mitglieder der Mubarak-Partei zur Zeit ihrer Vorherrschaft getan hätten, lautete die Kritik.
Kein Zwang zu Koalitionen
Vor dem Zusammentreten der Versammlung war viel darüber spekuliert worden, mit wem die Muslimbrüder sich verbünden würden, um eine Koalition mit absoluter Mehrheit zu bilden. Die Brüder hatten erklärt, sie würden die Parteien der säkularen und liberalen Mitte als Partner suchen, nicht ihre islamischen Konkurrenten der Salafiya. Doch die liberalen Gruppen zögerten ihrerseits, sich als mögliche Partner der Brüder zu erklären. Die Ernennung des Parlamentssprechers, des sehr fähigen und beliebten Muslimbruders, Saad al-Katatni, erfolgte jedoch auf Grund einer Übereinkunft der beiden islamischen Parteien.
Geplante Gesetzesvorlagen der Brüder
Weil die von den Militärs eingesetzte Regierung bis auf die Zeit nach der Präsidentenwahl (Juli?) im Amt bleiben soll, ist es für die Parteien nicht dringend, Koalitionen zu bilden. Die Muslimbrüder sagen, sie hätten bereits 51 Gesetzesvorlagen vorbereitet, die sie durchzubringen hofften. Sie können bei jeder dieser Vorlagen um Unterstützung entweder auf der muslimischen Seite oder auf der säkularen zählen, ohne sich auf permanente Zusammenarbeit mit einer der beiden Seiten festlegen zu müssen. Koalitionen dienen in erster Linie der Regierungsbildung, und eine solche scheint vorläufig nicht in Betracht zu kommen.
Anliegen der gesamten Revolution
Die Gesetzesvorlagen der Muslimbrüder packen Anliegen an, die der gesamten Revolution dienen. Sie wollen zum Beispiel die Sicherheitskräfte der Polizei und der zivilen Sicherheitsdienste neu organisieren und unter transparente, kontrollierbare zivile Aufsicht stellen. Daneben werden allerdings - vorläufig? - die militärischen Sicherheitsdienste weiter bestehen und wirken. Die Muslimbrüder sagen auch, sie wollten maximale und minimale Löhne einführen, wie dies schon vor dem Zusammentreten des Parlamentes mehrfach versprochen worden war. Die Aufhebung der Notstandsgesetze steht auch auf ihrem Programm, was nun nach dem Aufhebungsversprechen des SCAF in erster Linie bedeuten dürfte, wie "Thuggerie" zu definieren sei. Weiter haben sie versprochen, eine Entschädigung der Opfer der Revolution zu erwirken, auch dies eine alte Zusage aller politischen Gruppen, die bisher keine Verwirklichung gefunden hatte. Gesetze über das Arbeitswesen, einschliesslich einer gerechteren Regelung der Gewerkschaften und der Streiks, stehen auch auf dem Programm. Wie weit all dies unter den heute gegebenen Umständen verwirklicht werden kann, bleibt abzuwarten.
Stets müssen die Gesetze, welche die Versammlung formuliert, dem Plazet des SCAF unterbreitet werden. Wenn der SCAF ihnen zustimmt, werden sie vom SCAF promulgiert werden.