Kürzlich ging ich an eine Abdankung in Zürich. Es war ein düsterer Tag auf dem Sihlfeld, nicht nur weil wir einem Freund den letzten Abschied gaben. Die Feier fand im Freien statt, und es regnete. Die Schirme verdunkelten die darunter kauernden Teilnehmer in ihren nassgeschwärzten Mänteln. In die Stimmen der Trauerredner mischten sich Klatschen und Klopfen der Regentropfen und der nahe Verkehrslärm.
Es war ein Tag wie für die Trauer gemacht. Dennoch hatte er für mich etwas Erhebendes. Wie schön, dachte ich, dass wir Abschied nehmen können, dass uns ein Augenblick gewährt wird, in dem wir auf eine lange Beziehung zurückblicken können und Ungesagtes doch noch still äussern dürfen. Und dann sind wir es, die mit einer Schaufel voll Erde die Tür schliessen können, die der Tod uns vor der Nase zuknallen wollte.
Erst später begann ich zu ahnen, was mir dieses Gefühl der Erleichterung beschert hatte. Es war die Erinnerung an die vielen Angehörigen von Corona-Opfern überall auf der Welt. Sie konnten oft nicht einmal mehr einen letzten Blick auf eine geliebte Person werfen und manchmal wussten sie nicht einmal, in welches Gemeinschaftsgrab man sie verscharrt hatte. Sie mussten ihre Trauer an einer trockenen Nachricht festmachen, dass ihr Mann, Sohn, ihre Tochter, Freundin oder Grossmutter verschieden und begraben sei.
Vergewaltigt und verscharrt
Vor allem aber hatte mich in den Tagen vor dieser Trauerfeier ein Ereignis umgetrieben, das sich in einem Dorf tief in der nordindischen Ganges-Ebene zugetragen hatte. Eine 19-jährige Frau war von vier jungen Männern in eine Hütte geschleppt und dort auf derart brutale Art vergewaltigt worden, dass sie Tage darauf in einem Bezirksspital verschied.
Selbst ein brutaler Gewaltakt wie dieser wird in Indien kaum noch wahrgenommen, so sehr ist er ein Alltagsereignis geworden, kaum einer medialen Fussnote wert. Auch die Umstände wiederholen sich immer wieder: Es sind meist mehrere Täter, die sich über das Opfer hermachen, als stelle die Kumpanei sicher, dass bei diesem Intimakt keine Gefühle hochkommen. Üblicherweise sind sie auch Mitglieder einer hohen, ökonomisch dominanten Kaste. Und das Opfer ist unweigerlich eine junge Frau, bitterarm, als Dalit oder Shudra einer stigmatisierten Kaste angehörig.
Doch für einmal blieb diese Untat keine Kurznotiz. Es lag am Umstand, dass die Polizei die Erinnerung an die tote Frau durchkreuzte und damit das Elend der Familie noch vertiefte. Sie bemächtigte sich im Spital der Leiche, liess diese mitten in der Nacht ohne Anwesenheit von Angehörigen verbrennen und verscharrte die Asche an einer anonymen Stelle.
Kaltblütige Indifferenz des Staats
Es war wie eine weitere Vergewaltigung, ein zweiter Mord. Selbst bei hingerichteten oder erschossenen Verbrechern wird die Leiche überall auf der Welt – und auch in Indien – den Angehörigen übergeben. Es ist ein Akt minimaler Humanität, der Trauer zulässt: das Zeugnis eines geteilten Lebens, das Reinigen einer gemeinsamen Geschichte. Er schafft einen Raum für Erinnerung und ermöglicht es, die Tür zum Tod selber zu schliessen – und zurück ins Leben zu finden.
Die Familie war untröstlich über diese Verweigerung des Abschiedsrituals. Der brutale Akt einzelner Täter war durch die kaltblütige Indifferenz des Staats noch einmal wiederholt worden. Es war diese Koppelung, die einen Sturm der Entrüstung entzündete, der das ganze Land erfasste. Es war, als sei (nachdem der Schutz vor sexueller Gewalt und vor einem Mord versagt hatte) mit der Verweigerung der Trauer ein weiteres Kernstück des Sozialvertrags geschändet worden.
Die landesweiten Proteste fanden zusätzliche Nahrung, als bekannt wurde, dass die Polizei nicht einfach mit kalter Gefühllosigkeit gehandelt hatte. Die Verweigerung der Übergabe und hastige Verbrennung der Leiche hatte ein tieferes Motiv: Den Behörden des Bundesstaats Uttar Pradesh war daran gelegen, wenn nicht den Mord, so doch die Vergewaltigung zu verneinen.
Solidarität mit den Vergewaltigern
Deshalb wurde nicht nur das Corpus delicti zum Verschwinden gebracht. Die obersten Polizei-Offiziere der Region behaupteten, eine Obduktion habe ergeben, dass im Opfer keine Samen-Überreste gefunden worden seien; eine Vergewaltigung habe daher gar nicht stattgefunden. Der Bezirkschef besuchte inkognito die Familie und bat sie dringend, diese Behauptung gegenüber Nachbarn und Medien nicht mehr zu äussern.
Dagegen kam es zu Solidaritätsveranstaltungen der Rajput-Kaste; sie nahmen die Täter in Schutz und stellten den Gewaltakt als Kavaliersdelikt hin – im Ton von „Boys will be boys“. Die weitverbreitete frauenfeindliche Grundhaltung macht die Schuld für sexuelle Gewalt fast immer im weiblichen Körper fest. In deren perverser Logik ist er es, der die Männer provoziert und zu Opfern macht.
Inzwischen weiss man auch, was die Regierung veranlasst, Vergewaltigungen gegen Dalits und Adivasis zu kaschieren und gleichzeitig die Täter zu schonen. Die Hindutva-Ideologie – wie überhaupt der Hinduismus als Religion – ist eng verzahnt mit Kastenhierarchie und -diskriminierung.
Tief verwurzeltes Kastendenken
Immer wieder kommt es, neben Vergewaltigung von Frauen, zu Fememorden an Kastenlosen, wenn diese es wagen, Kastentabus zu verletzen. Selbst der Besitz eines Autos kann dazu führen, dass ein Dalit von hochkastigen Schlägern spitalreif geprügelt wird. Einem wie ihm steht nicht das Recht zu, sich aus dem „angeborenen“ Status des besitzlosen Wasserträgers zu emanzipieren.
Doch Indien ist – immer noch – eine Demokratie, und die Dalits und Adivasis verfügen mit ihrem Bevölkerungsanteil von 23 Prozent über grosse Stimmkraft. Deshalb muss die regierende BJP alles versuchen, sich diese Vote Bank nicht abspenstig zu machen. Sie verdankt ihr absolutes Mehr im Parlament dem Majorz-Wahlsystem. Dahinter versteckt sich ein Stimmenanteil von bloss 37 Prozent.
Umso widerwärtiger ist daher der Zynismus, mit dem der BJP-Staat Vergewaltigungen gegen Dalits als Kavaliersdelikte behandelt und dazu den Opfern einen existenziellen Akt – das Trauer-Ritual des Abschiednehmens – aus den Händen entwindet.
Einmal mehr zeigt sich auch, wie tief das Kastendenken in den Köpfen der Hindus weiterhin verwurzelt ist. Der Blick auf einen alten Brauch in Rajasthan zeigt auch, dass es sich sogar der Totenfeier bemächtigt hat. Dort gibt es eine eigene (Dalit-)Kaste, die Rudaalis, die als professionelle Trauernde beim Begräbnis hochkastiger Hindus fungieren.
Kastendenken tötet Emotionen
Sie begleiten die Begräbnisprozession und fallen durch ihr lautes Weinen und Klagen auf. Die männlichen Angehörigen (Frauen sind nicht zugelassen) laufen derweil mit steinernen Mienen daneben her. Der Grund: Es käme einem Statusverlust gleich, als Kastenhindus wie auch als Männer, wenn sie offen ihre Gefühle kundtun würden.
Solche Bräuche sind ein Indiz dafür, schreibt Brahma Prakash, ein Professor der Nehru-Universität in Delhi, in einem Beitrag für die News Portal Scroll.in, wie „Kastendenken auch menschliche Emotionen tötet“. Die Verweigerung der Übergabe der Leiche eines vergewaltigten Mädchens wird zur administrativen Massnahme degradiert. „Echte Trauer kann man nicht ‚outsourcen‘. Man kann sie nur mit anderen teilen.“