Der schlimmste Eisenbahnunfall Griechenlands erschüttert das Land. Immer mehr haarsträubende Details kommen zum Vorschein. Überrascht ist niemand. Die griechischen Eisenbahnen leiden seit Jahrzehnten unter Misswirtschaft und Sicherheitsmängeln.
Kathari Deutera (wörtlich: der saubere Montag) läutet in Griechenland die Fastenzeit ein – 40 Tage bis Ostern. Es ist ein Familienfest, bei dem man erstmals den Frühling spürt, fastet, mit der Familie ausgeht und Drachen im Wind steigen lässt. So reisten auch viele Studenten der Universität Thessaloniki zu ihren Familien in Athen.
Der letzte Intercity Athen–Thessaloniki verliess Athen am Dienstagabend um 19.22 Uhr. Bei Tempi – eine Gegend in der Nähe von Larissa, die früher für viele Autounfälle bekannt war – kollidierte der mit mehr als 300 Personen besetzte Personenzug mit einem entgegenkommenden Güterzug. Beide Züge waren in voller Fahrt. Die Bilanz: mindestens 57 Tote und eine Szenerie, die an einen Bombenangriff erinnert.
Der für das entsprechende Stellwerk verantwortliche Stationsvorstand wurde festgenommen und Transportminister Kostas A. Karamanlis trat zurück. Wie ist die Tragödie einzuschätzen? Für definitive Urteile ist es zu früh, aber es ergibt sich ein provisorisches Bild des Unvermögens und des Missmanagements.
Von der Museumsbahn zur Hochgeschwindigkeitsstrecke
Ich beobachte die Entwicklung der griechischen Bahn seit mehr als dreissig Jahren. Benutzt habe ich sie selten, weil das Netz, wenn man von einem Netz sprechen kann, sehr weitmaschig ist und der Verkehr nur unzuverlässig funktioniert. Vor dreissig Jahren konnte man von einer Museumsbahn sprechen; abgesehen von der Umstellung auf Diesel war seit dem Dampfzeitalter nichts geschehen. Einmal fuhr ich in den späten Neunzigerjahren ins thessalische Trikala. Der Intercity von Athen war ein Produkt aus der DDR mit entsprechendem Charme und beim Umsteigen in Palaiofarsala nahm uns eine klappernde kleine Blechkiste auf. Ich beobachtete, wie bei einigen Diensthalten der Zugführer aussteigen und die Weichen von Hand stellen musste.
Bei einer Reise vom nordgriechischen Amintaio nach Athen wollte ich den Zug nehmen. Es fuhren zwar Züge, aber es waren keine Billette erhältlich. Weder gab es einen offenen Billettschalter noch einen Automaten. Das war nach dem Jahr 2000.
Die Peloponnesbahn wurde dann mit EU-Geldern für etwa hundert Millionen Euro renoviert – und kurz darauf der Verkehr fast zur Gänze eingestellt. Seither fahren auf dem Peloponnes nur noch an der Nordküste und auf wenigen kurzen Strecken teilweise Züge. Dieses Geld ist praktisch komplett verschwendet. Immerhin wurde in und um Athen eine Vorortsbahn gebaut, die den Flughafen erschliesst.
Lahmendes Prestigeprojekt
Prestigeprojekt verschiedener griechischer Regierungen aber war die Haupttransversale von Athen nach Thessaloniki. Im 19. Jahrhundert gebaut und vor zwanzig Jahren noch praktisch auf diesem technischen Stand, konnte die Bahn in keiner Art und Weise mit der schrittweise ausgebauten Autobahn oder mit dem regelmässig verkehrenden Flugzeug in Wettbewerb treten.
Das Ziel war, die Fahrzeit von etwa sechs Stunden auf unter vier zu drücken. Das sollte erreicht werden durch Elektrifizierung der Strecke und Ausbau auf Doppelspur, sowie durch Begradigung des ursprünglich kurvenreichen Trassees durch Tunnels und teilweise Neutrassierung.
Das Projekt erhielt ständig Verspätung. Mal gab es Lieferengpässe, mal wurden wegen der Finanzkrise die Budgets gekürzt. Wie in der EU üblich, wurde dann der Bahnverkehr vom Schienennetz getrennt, 2017 privatisiert und unter dem Namen Trainose an die italienische Bahn verkauft. Die Italiener sind damit für den Betrieb verantwortlich, nicht aber für die Infrastruktur, die nach wie vor in den Händen der staatlichen Bahnverwaltung OSE ist.
Mit vielen Jahren Verspätung ist nun der durchgehend doppelspurige elektrische Bahnverkehr zwischen Athen und Thessaloniki möglich und auf der Strecke werden Geschwindigkeiten von bis zu 200 km/h gefahren. Die Strecke ist auch deshalb wichtig, weil der Hafen von Piräus in den letzten Jahren zum Hub ausgebaut wurde und viele Güter von dort ihren Weg zum europäischen Verbraucher finden.
Schlechter Netzausbau und notorische Sicherheitsprobleme
Zwei Probleme bestehen: Ausserhalb der Hauptstrecke gibt es wenig Eisenbahnverbindungen. Wer von A nach B kommen will und nicht von Athen nach Thessaloniki, ist mit der Bahn meist schlecht bedient. Und Gerüchte über Sicherheitsprobleme machen seit längerem die Runde.
Wer nach dem Unglück die griechischen Medien verfolgte, las die Version der Regierung: grosses Unglück, wird restlos aufgeklärt, jahrzehntelange Versäumnisse, die die jetzige Regierung nicht in vier Jahren aufholen kann.
Wenn man dann in Blogs und Kommentarspalten etwas tiefer gräbt, entsteht ein anderes Bild, zwar ebenfalls ein provisorisches, aber eines, das für die aktuelle Regierung alles andere als schmeichelhaft ist.
Praktisch gesichert ist, dass den italienischen Betreiber und die Privatisierungspolitik der linken Vorgängerregierung keine Schuld trifft. Zuerst tauchten Gerüchte auf, dass die ehemals in der Schweiz als Cisalpino bekannten Schrott-Züge etwas mit dem Unfall zu tun hätten. Nun zeigt aber ein kurzer Blick auf die verheerenden Bilder des Unfalls, dass es sich bei diesem Zug um einen konventionellen lokbespannten Intercity handelte. Zusätzlich ist klar, dass Gleise, Stellwerk und Zugsicherung in den Verantwortungsbereich der nicht privatisierten, staatlich-griechischen OSE fallen. Auch der modernste Zug verunfallt, wenn man ihn auf Kollisionskurs schickt.
Sündenbock gefunden
Damit sind wir bei den Unfallursachen. Auffällig ist, dass beide Züge auf dem gleichen Gleis auf Kollisionskurs waren, obwohl die Strecke neuerdings zweigeleisig ausgebaut ist, was solche Unfälle an sich vermeiden sollte. Offensichtlich waren also die Weichen auf Kollision gestellt und die Signale auf grün. Der IC dürfte mit bis zu 160 km/h unterwegs gewesen sein, der Güterzug mit mehr als 100 km/h.
Der Stationsvorstand hatte vorher einen weiteren Zug umgeleitet und dann wohl vergessen, die Weiche wieder zurückzustellen. Dadurch geriet der Unglückszug auf das Gleis der Gegenrichtung. Folgerichtig wurde der für das entsprechende Stellwerk verantwortliche Stationsvorstand festgenommen. Es ist nun zu befürchten, dass er zum Sündenbock wird und ihm die alleinige Schuld in die Schuhe geschoben wird – und dass, falls die Regierungspartei ungeschoren davonkommt, Karamanlis in einem anderen Ministerium wieder auftaucht.
Folgenlose Warnungen der Gewerkschaft
Die entscheidende Frage ist: Wie kann es sein, dass auf der Hauptstrecke mit hohen Geschwindigkeiten gänzlich ohne Zugsicherung gefahren wird? Warum ist es möglich, dass ein einzelner Bahnhofsvorstand Züge auf Kollisionskurs schickt ohne ein Vieraugenprinzip oder ein Sicherheitssystem? Tatsächlich kommunizieren die Bahnhöfe über Funk miteinander, wer gerade auf der Strecke ist.
In der Tat ist das mit der Zugsicherung und allgemein mit dem Zustand der griechischen Eisenbahninfrastruktur so eine Sache. Die Eisenbahnergewerkschaft hatte die Regierung in einer Erklärung noch am 7. Februar geradezu prophetisch vor einer solchen Tragödie gewarnt: «Wir werden nicht warten, bis der Unfall kommt, damit ihr so tun könnt, als ob ihr weint.» Damals hatte die Gewerkschaft angesichts zweier glimpflich abgelaufener Unfälle auf die fehlenden Schutzmassnahmen hingewiesen.
«Es ist empörend, dass diese (Unfälle, Red.) fast täglich vorkommen und keine substanziellen Massnahmen ergriffen, keine Verbesserungen in Infrastruktur und Betrieb eingeleitet, keine Kontrollen bei den Beteiligten durchgeführt und keine Verantwortlichkeiten gesucht werden», heisst es in der Erklärung der Gewerkschaft weiter. «Wie frühere Regierungen hat auch die derzeitige andere Prioritäten und nicht die Sicherheit der Bürger. Für sie ist Sicherheit ein Kostenfaktor.»
«Wir stellen immer wieder fest», fuhren die Gewerkschafter weiter, «dass die Eisenbahninfrastruktur in schlechtem Zustand ist, dass sie nicht gewartet wird, dass die Lichtsignale und die Fernsteuerung seit Jahren nicht funktionieren, dass das Zugbeeinflussungssystem ETCS, dessen Inbetriebnahme vor menschlichem Versagen schützt, nicht funktioniert, obwohl es auf den Lokomotiven installiert ist! Die unzureichende Umzäunung der Infrastruktur führt dazu, dass Fussgänger an vielen Stellen leicht Zugang haben, was zu ständigen Todesfällen führt. Die dichte Vegetation in der Nähe der Infrastruktur schränkt die Sicht ein, verdeckt die Streckenmarkierungen und die Sicherheits- und Beleuchtungssysteme in den Tunneln der Athener Vorortbahn bei Megara funktionieren seit 15 Jahren nicht. Die fehlende Wartung des Stromnetzes führt zu Verspätungen. Am 25. Oktober 2022 wurde unser Lokführer verletzt, (…) da ein Zug der Athener Vorortbahn mit hängenden Oberleitungskabeln kollidierte, die unter Spannung standen!»
Die Proteste der Eisenbahner blieben unbeantwortet.
EU bemängelt fehlende Zugsicherung
Aber damit nicht genug: Vierzehn Tage vor der Eisenbahntragödie verklagte die Europäische Kommission Griechenland vor dem Europäischen Gerichtshof, weil das Mitgliedsland seinen Verpflichtungen aus der europäischen Richtlinie zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums (2012/34/EU) nicht nachgekommen ist. Die Kommission hatte schon im Dezember 2020 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland eingeleitet. Doch Hellas verstiess auch 2023 immer noch gegen die Richtlinie. Deshalb die Klage.
Es handelt sich also nicht nur um menschliches Versagen des eher unerfahrenen Stationsvorstandes, sondern vor allem um ein politisches Problem, für das die derzeitige Regierung Mitsotakis verantwortlich ist. Sie hat den Verkehr für hohe Geschwindigkeiten frei gegeben, ohne in den letzten vier Jahren dafür zu sorgen, dass gleichzeitig ein Zugbeeinflussungssystem fertig installiert wird, das solche Unfälle vermeidet – trotz Warnungen von Fachleuten der Gewerkschaft und trotz Klage der EU. Die Tatsache, dass moderne Signalisierungs- und Zugbeeinflussungssysteme noch nicht auf der gesamten Länge der Haupteisenbahnachse von Athen nach Thessaloniki installiert sind, schafft Sicherheitslücken. Diese führen zu Verspätungen und machen konventionelle, veraltete Betriebsmethoden wie die Information über Funk notwendig.
Explosiver Cocktail von Versäumnissen
Ein Zugbeeinflussungssystem würde dafür sorgen, dass die Züge von einem System überwacht werden und nicht nur von Menschen, die keinen Echtzeitüberblick über das gesamte Geschehen auf allen Strecken haben. Ein solches System würde zum Beispiel Züge auf Kollisionskurs blockieren oder warnen. Die griechische Bahn ist aber immer noch auf den Faktor Mensch angewiesen. Es gibt keine Absicherung gegen Fehler. In der Schweiz begann die SBB mit der Installierung des ersten derartigen Systems, Integra Signum, in den Dreissigerjahren. Ab den Achtzigerjahren wurden das System ZUB eingebaut und seit 2002 wurden die Hauptlinien kontinuierlich auf ETCS umgestellt.
Ignorierte Warnungen, veraltete Systeme, unfertige Modernisierungen und die Verschwendung von Mitteln in unsinnigen Prestigeprojekten schwächen die Bahn. Deren Netz leidet unter zu hohem Wartungsaufwand und Pannenanfälligkeit. Je länger die Probleme nicht gelöst werden, desto mehr wurde das Ganze zu einem wahrhaft explosiven Cocktail, der sich in täglichen Verspätungen, liegengebliebenen Zügen, Pannen und Betriebsausfällen auswirkt. Und nun auch zu einem Unfall mit mindestens 57 Toten und nach wie vor vielen Vermissten.
(Alle Zitate aus dem Griechischen übersetzt durch den Autor)