Kaum jemand glaubt mehr, dass die Regierung Berlusconi die Krise lösen kann. „Das Kabinett ist nicht mehr handlungsfähig“, sagt Roberto Antonione. Jetzt tritt der einstige Berlusconi-Intimus aus Berlusconis Partei aus.
Im Belpaese herrscht Untergangsstimmung, Lethargie, Götterdämmerung. Wie oft wurde Berlusconi schon tot gesagt. Noch immer ist er da. Totgesagte leben bekanntlich länger. Aber auch sie leben nicht ewig.
Schlägt jetzt dann doch Berlusconis Stunde? Zwei Abgeordnete, Alessio Bonciani und Ida D'Ippolito, sind am Donnerstag aus Berlusconis Partei ausgetreten. Sie haben sich der oppositionellen Zentrumspartei UDC angeschlossen. Damit hat Berlusconi in der Abgeordnetenkammer die Mehrheit verloren. Er verfügt nur noch über 314 der 630 Sitze.
Goldfisch im Aquarium
Sechs weitere Abgeordnete seiner Partei haben ihn zum sofortigen Rücktritt aufgefordert. Vier weitere Deputierte lassen öffentlich über ihren Absprung spekulieren. „Wie lange dauert dieser Verfall noch?“ fragt „L’Espresso“.
Noch ist Berlusconi da und zappelt an der Macht: wie ein Goldfisch im Aquarium, dessen Wasser man langsam ablässt. Sein Spielraum wird immer kleiner. Sogar der Generalsekretär von Berlusconis PDL-Partei fürchtet einen Massenexodus.
Am nächsten Dienstag wird im Senat über das Budget abgestimmt. Dann wird Berlusconi einmal mehr die Vertrauensfrage stellen. Doch im Senat verfügt er noch über eine Mehrheit. Ein Sieg in der Kleinen Kammer ist für ihn wertlos.
Gelähmt, zerstritten, handlungsunfähig
Im Moment tun die italienische Regierung und das Parlament das, was sie am besten können: streiten und nichts entscheiden. So palavert man denn. Jeden Abend sagen Politiker in Talk Shows das Gleiche. Und nichts bewegt sich. Fast drei Viertel aller Italiener sind der Ansicht, dass die Ära Berlusconi entweder schon vorbei ist - oder demnächst zu Ende geht. Dies geht aus einer Meinungsumfrage (1) der links-liberalen Zeitung „La Repubblica“ hervor.
Berlusconi war von der EU ultimativ aufgefordert worden, endlich ein konkretes Sanierungskonzept vorzulegen. Wieder legte er einen Wischiwaschi-Plan vor. Die EU begnügte sich zunächst damit, kapitulierte und zog die Krallen ein. Schon atmete Berlusconi auf. Auch deshalb, weil die Griechenland-Krise die Medien von der Italien-Krise ablenkte.
Doch beim G-20-Gipfel in Cannes kam es faustdick. Der IWF/FMI, der Internationale Währungsfonds, will die Italiener nicht mehr allein wursteln lassen. FMI-Experten sollen - gegen den Willen Berlusconis - Italiens Wirtschaftspolitik mitbestimmen. Italien unter internationaler Vormundschaft – eine schreckliche Demütigung für den „besten Ministerpräsidenten seit der Vereinigung Italiens“ (Berlusconi über Berlusconi).
Zwar hat jetzt Staatspräsident Giorgio Napolitano, einer der wenigen weisen Politiker im Land, die Regierung zu schnellem Handeln aufgefordert. Doch das Kabinett ist gelähmt, zerstritten, handlungsunfähig.
Trostloses Warten
So wartet denn Italien. Es ist ein bleiernes, ein trostloses Warten. Doch auf was wartet man? Dass alles noch schlimmer wird? Dass es dann zur Explosion kommt? Dass Standard & Poor‘s Italien weiter zurückstuft? Dass die EU noch rabiatere Drohungen ausstösst? Dass der Zorn auf der Strasse zum Chaos wird? Dass sich endlich genügend Abgeordnete bereitfinden, um Berlusconi zu stürzen?
In ihrem Zynismus zitieren die Italiener ihre alte Lebensweisheit: „Italien funktioniert am besten ohne Regierung.“
Doch das stimmt nicht mehr. Die Wirtschaft ist gelähmt, neue Impulse fehlen, Investitionen fehlen, die Konsumentenstimmung ist miserabel, der Risikoaufschlag für italienische Staatsanleihen steigt und steigt. Vor dem Römer Regierungspalast hat sich am Donnerstag ein 66Jähriger aus Verzweiflung angezündet – wegen finanzieller Probleme. Die Jugend hat kaum eine Perspektive.
Solange Berlusconi da ist, wird das so bleiben. Er hätte 20 Jahre Zeit gehabt, Italien zu reformieren. Heute gehört das Land zu den europäischen Schlusslichtern mit einem riesigen Schuldenberg. Ein desillusioniertes Land.
Der Ruby-Prozess? Was soll’s?
Wird Berlusconi seine letzte Chance nutzen? Er spielt jetzt seine letzte Karte. Wird es ihm doch noch gelingen, harte, grundsätzliche Strukturreformen zu beschliessen und durchzuführen - und nicht nur anzukündigen? Es fällt schwer, daran zu glauben. Und jetzt streitet er sich noch mit seinem Wirtschaftsminister Giulio Tremonti. Laut Zeitungsberichten sprechen die beiden nicht mehr miteinander.
Umfragen machen ein tiefes Misstrauen gegenüber den politischen Institutionen und der Polit-Klasse deutlich. Das Interesse an Politik und an Berlusconi ist drastisch gesunken. Die Polit-Shows im Fernsehen verzeichnen sinkende Quoten. Selbst über Bunga-Bunga spricht man kaum noch. Der Ruby-Prozess? "Was soll’s?" Berlusconi wird sich aus der Schlinge ziehen. Die Korruptionsprozesse? „Sie dauern schon ewig und werden ewig dauern“. Reformen? „Wo sind die Reformen, die er uns seit Jahren verspricht?“. Die Italiener scheinen sich ihrem Schicksal zu fügen.
Die Opposition profitiert nicht von seiner Schwäche
Dass Berlusconi von seinen eigenen Leuten noch nicht gestürzt wurde, liegt am Egoismus der Parlamentarier. Sie wollen keine Neuwahlen mit dem Risiko, ihren Sitz und damit ihre Privilegien zu verlieren. Und wieso stützen ihn Umberto Bossi und seine Lega Nord? Weil auch die Lega im Sinkflug ist und vor Neuwahlen zittert.
Wenn die Regierung Berlusconi dann doch zusammenbricht, ist das nicht das Verdienst der Opposition. So erstaunlich es sein mag: Die Opposition hat vom Zerfall des Ministerpräsidenten nicht profitiert. Das sagt viel über den Zustand der Opposition aus.
Noch 22,4 % sind für Berlusconi
Berlusconi hat laut der jüngsten Demos-Umfrage innerhalb eines Jahres genau zehn Prozent an Zustimmung verloren. Nur noch 22,4 Prozent unterstützen ihn heute. Auch Umberto Bossi sackte ab, von 30,6 auf 20,1 Prozent. Doch auch alle Oppositionsführer verloren an Zustimmung. So fiel Pierluigi Bersani innerhalb eines Jahres von 40,8 auf 34, 1 Prozent zurück. Bersani ist Chef der grössten Oppositionspartei, des links stehenden Partito Democratio (PD).
Auch Berlusconis Partei, die PDL (Volk der Freiheit), verlor seit den Europawahlen von 2009 neun Prozent an Zustimmung. Sie liegt heute bei 26,1 Prozent. Doch auch von dieser Schwäche konnte die Opposition kaum profitieren. Der linke Partito Democratico gewann einzig zwei Prozent und kommt jetzt auf 28,1 Prozent. Tendenz erneut leicht rückläufig. Auch die IDV-Partei (Italien der Werte) des lauten Antonio di Pietro kommt kaum vom Fleck und klebt bei 8,2 Prozent.
Jeder will Ministerpräsident werden
Nur noch 20,5 Prozent der Befragten sind mit der Regierung zufrieden. Doch nur genau gleich viele sind mit der Opposition einverstanden. Die Italiener wenden sich von Berlusconi ab, doch der Opposition trauen sie nicht.
Das hat seinen Grund: Von der Opposition wäre wohl wenig Gutes zu erwarten. Sie ist sich einzig in einem Punkt einig: Berlusconi muss gehen. Doch wenn er geht, werden die Hahnenkämpfe ausbrechen. Pier Luigi Bersani, ein gescheiter Mann, hat kaum das Charisma, die verschiedenen Oppositionsströmungen unter einen Hut zu bringen. Die Opposition besteht aus fünf Hauptströmungen. Jeder Anführer einer Hauptströmung will Ministerpräsident werden.
Wenn Berlusconi gestürzt wird, wird er also nicht von der Opposition, sondern von den eigenen Leuten gestürzt. Also doch: „Selbstzerstörung“. Und dann?
Staatspräsident Napolitano könnte dann die jetzt regierende Berlusconi-Partei auffordern, weiter zu regieren – ohne Berlusconi: mit einem neuen Ministerpräsidenten aus Berlusconis Partei.
Notstandsregierung? Neuwahlen?
Napolitano könnte auch eine sogenannt „technische Regierung“ einsetzen. Eine solche Übergangsregierung bestünde aus Wirtschaftsexperten und Technokraten. Mit Carlo Azeglio Ciampi (1993/94) und Lamberto Dini (1995/96) hatte Italien keine schlechten Erfahrungen mit technischen Regierungen gemacht. Ciampi und Dini kamen von der italienischen Zentralbank. Als möglicher Ministerpräsident einer solch technischen Regierung wird jetzt der 68jährige Wirtschaftsprofessor Mario Monti genannt.
Eine weitere Möglichkeit wäre eine Notstandsregierung, eine Grosse Koalition, mit Beteiligung der Linken. Schon hat die Lega Nord angekündigt, sie würde sich nicht an einer solchen Grossen Koalition beteiligen. Eine Notstandsregierung hatte Anfang Woche auch der italienische Grossunternehmer Luca Cordero di Montezemolo gefordert. Montezemolo war früher Präsident des Industrie-Dachverbandes Confindustria. Er hat sich selbst einmal als möglicher Spitzenpolitiker ins Spiel gebracht.
Bis auf weiteres Blockade
Napolitano hätte auch die Möglichkeit, Neuwahlen anzusetzen. Er hat mehrmals angedeutet, dass er dies nicht für die beste Lösung hält. Neuwahlen könnten im jetzigen Parteigefüge ein weiteres Patt bringen.
Und natürlich gäbe es die Möglichkeit, dass Silvio Berlusconi plötzlich genug von seinem „Scheissland“ hat, wie er es selbst nennt. Gerüchte besagten letzte Woche, dass er bereit wäre abzutreten, vorausgesetzt, das Parlament würde noch ein Gesetz verabschieden, das ihn von allen Strafverfolgungen schützt.
Doch selbst in Italien wäre ein solches Gesetz nicht möglich. Das Gerücht wurde umgehend dementiert. Und es liegt wohl auch nicht im Charakter des Kämpfers Berlusconi, die Waffen freiwillig zu strecken.
So ist er denn noch immer da. Und Italien wartet, gelähmt und deprimiert. Worauf wartet es?
(1) Die Umfrage wurde Ende Oktober vom Meinungsforschungsinstitut Demos & Pi für die Zeitung La Repubblica durchgeführt. Die Umfrage hat eine mögliche Fehlerquote von plus/minus drei Prozent.