Zwar hat Berlusconi nicht gewonnen, aber er hat erreicht, dass auch die Linke nicht gewonnen hat. Vor einem Jahr wurde er noch totgesagt. Er verkroch sich in seine Gemächer an der Via del Plebiscito in Rom und lamentierte vor sich hin. Dann entschloss er sich erneut zum Kampf.
Zwar gelangt er nicht an die Macht zurück. Doch die Linke, die als uneinholbar scheinende Favoritin galt, zwingt er in die Knie. Sie kann jetzt nicht regieren. Weder die Linke noch die Rechte erzielte eine Mehrheit im Senat.
Der gescheiterte Populist
Der 76-jährige Berlusconi, „die Mumie“, wie ihn die französische Zeitung Libération kürzlich titulierte, triumphiert. Mit ihm ist weiter zu rechnen. Er wird weiterhin Schlagzeilen machen und Unfug anrichten. Die Mumie lebt, und wie.
Man kann sich jetzt fragen: Ist das italienische Volk so dumm? Hat es vergessen, welchen Schaden Berlusconi dem Land zugefügt hat? Vergessen, dass er es war, der Italien an den Abgrund steuerte? Der das Land polarisierte, auseinanderriss wie kein anderer? Hat es seine unappetitlichen Eskapaden vergessen? Vergessen auch, dass sich die Investoren von Italien zurückzogen, dass er das Land der internationalen Lächerlichkeit preisgab? Dass er mit dubiosen Kräften paktierte, dass er Gesetze verabschieden liess, die nur auf ihn zugeschnitten waren?
Normalerweise werden gescheiterte Populisten davongejagt, in Italien nicht. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat kein Ministerpräsident so lange regiert wie er. Er hätte Zeit gehabt, etwas zu erreichen, das Land zu reformieren. Er tat nichts.
Berlusconis Wahlversprechen
Berlusconi ist nur stark, weil ein Teil seines Volkes ein schlechtes Gedächtnis an. Oder noch pointierter: Jedes Land hat die führenden Politiker, die es verdient. Sind die Italiener auf billigen Populismus anfälliger als andere Länder?
Schauen wir die Sache differenziert an. Berlusconi hat bei den Wahlen vor fünf Jahren 48 Prozent der Stimmen eingefahren. Jetzt kommt seine eigene Partei (nicht sein Bündnis) auf 21 Prozent – weniger als die Hälfte.
Berlusconi ist ein geborener Rattenfänger. Seine Steuerversprechen waren ein billiger, doch wirkungsvoller Wahlkampf-Coup. Da gibt es Leute, denen finanziell das Wasser zum Hals steht, die sich sagen: „Vielleicht zahlt er wirklich Steuern zurück. Versuchen wir es doch mit ihm. Die andern versprechen nicht einmal etwas.“
Die fehlende Mitte
Es ist paradox: Er hat das Land in den Ruin gestürzt, und weil es vielen Leuten schlecht geht, wählen sie wieder ihn – weil er es versteht, ihnen wieder Hoffnung zu machen. Er ist der Verursacher des Chaos und spielt sich als Retter auf.
Mario Monti, der scheidende Ministerpräsident, ist kein Politiker. Er konnte dem Schreihals Berlusconi nicht die Stirn bieten. Zudem hat er vor allem die Mittelschicht und ärmeren Italiener allzu arg mit neuen Steuern zur Kasse gebeten. Es gelang ihm nicht, dringend notwendige Strukturreformen durchzuführen. Eine breite Schicht von Italienern hat heute echte finanzielle Probleme. Das weidete der Populist Berlusconi weidlich aus. Mit Erfolg.
Seit dem Zusammenbruch der Democrazia Cristiana (DC) Anfang der Neunzigerjahre gibt es in Italien keine eigentliche Mitte-Partei, die eine bürgerliche Alternative zu Berlusconi sein könnte. Monti wollte diese Lücke füllen. Das ist ihm nicht gelungen. Zugegeben: Man kann innerhalb von zwei Monaten keine neue schlagfertige Bewegung aufbauen.
Bersani, Figur der alten Garde
Pierluigi Bersani, der Führer der Linken, ist zwar ein rechtschaffener, pragmatischer und intelligenter Mann. Doch er gilt als Figur der alten Garde. Die Linke ist vor allem eine Partei, die den Besitzstand wahren will. Reformen mit ihr zu betreiben, ist schwierig. Frühere linke Regierungen fielen nicht durch Reformfreudigkeit auf. Dieses Image hat der Linken geschadet.
Die Italiener sind ein stolzes Volk. Auch ein verletztes Volk. Sie wissen, dass sie auf internationalem Parkett wenig Bedeutung haben und oft nur belächelt werden. Sie haben die Tendenz, die Schuld stets den anderen zuzuweisen: ausländischen Mächten, Europa, den reichen Schweizern, der dominierenden Merkel. Berlusconi hat diesen Nerv im Wahlkampf wunderbar getroffen. Er kritisiert die EU, Merkel, den Euro – und will in der reichen Schweiz Steuergelder holen.
Grillo, der Schreihals
Und da ist Grillo, auch er ein Schreihals. Man könnte sagen, fast die Hälfte der Italiener haben für Populisten, für Schreihälse gestimmt: 30 Prozent für das Berlusconi-Lager, 25 Prozent für Grillo. Doch sie sind keine geballte Macht: Das eine Schreihals-Lager (Grillo) kämpft gegen das andere. Und wenn Berlusconi versuchen würde, mit Grillo eine Allianz zu bilden?
Dass Grillo gut abschneidet, kann man erklären. Viele Italiener haben genug von den etablierten Parteien. Sie wollten ein Zeichen setzen und das sagen, was Grillo ihnen zurief: "Geht nach Hause, ihr Politiker, ergebt euch."
Aber weniger erklärbar ist, dass die Italiener glauben, Berlusconi sei nun doch die Lösung. Ein Land muss leiden, weil ein egomanischer Mensch, der reichste Mann Italiens, der fast alles hat, was er will, tief verletzt war, weil er vor 15 Monaten mit Schimpf und Schande davongejagt wurde. Jetzt hat der Egozentriker in seinem krankhaften Machttrieb Rache genommen.
Die verlorene Generation
Italien steht vor schwierigen Zeiten. Das Land bräuchte jetzt dringend eine solide, starke Regierung. Die ist heute in weite Ferne gerückt. Und die Probleme werden immer grösser. Die Arbeitslosigkeit wird im nächsten Jahr auf 14 Prozent steigen. Mehr als jeder dritte Junge ist arbeitslos – eine verlorene Generation. Kaum ein Land hätte eine solche wirtschaftliche Potenz, solch wunderbar innovative Menschen, und in kaum einem Land wurden diese Möglichkeiten durch Korruption, eine stupide Bürokratie und machtbesessenen Politiker zunichte gemacht. Armes Italien.
Wie geht es jetzt weiter? Möglich sind baldige Neuwahlen. Werden Sie eine Änderung bringen? Oder wird Berlusconi im neuen Wahlkampf noch weiter Auftrieb erhalten und dann doch noch gewinnen? Wird die Linke Pierluigi Bersani auswechseln durch den jungen Bürgermeister von Florenz, Matteo Renzi? Oder werden sich die grossen Parteien wieder zusammenraufen und eine technische Übergangsregierung à la Monti (ohne Monti) bilden? Einer solchen Regierung wären von Anfang an die Hände gebunden. Da das Ergebnis knapp ist, ist auch nicht ausgeschlossen, dass Berlusconi das Resultat anzweifelt.
Es sieht nicht gut aus in Italien.