Venedig, Opfer des Overtourism, Kulisse für Millionen Besucher, die den flüchtigen Eindruck geniessen oder sich selbst in Szene setzen wollen. Doch Venedig ist Inszenierung, ein immer wieder neu aufgeführtes Stück um Werden und Vergehen, an dem teilzuhaben es sich lohnt.
Seit dem 18. Jahrhundert lebt Venedig von seiner glorreichen Vergangenheit. Junge Männer aus der britischen Aristokratie besuchten auf ihrer Grand Tour die Stadt. Canaletto und Francesco Guardi versorgten sie mit den passenden Gemälden, die später als Zeugnis der erworbenen Bildung in den Londoner Salons hingen.
Venedig verwertete sein in den Jahrhunderten zuvor akkumuliertes kulturelles Kapital, das dadurch nicht geschmälert wurde, sondern immer weiter anwuchs. Je mehr aber die kulturelle Bedeutung anwuchs, je mehr Venedig zum Sehnsuchtsort der europäischen Elite wurde, desto mehr schwand die politische Macht des Stadtstaates. Als Napoleon im Jahr 1797 Venedig besetzen liess, war dies nur noch die Feststellung des klinischen Todes der alten Republik. Napoleon reichte die erbeutete Stadt samt ihrem Herrschaftsgebiet auf dem Festland an Österreich. Die geraubten und nach Paris verbrachten Kunstdenkmäler mussten nach Napoleons Niederlage zurückgegeben werden, Venedig aber blieb österreichische Provinzstadt.
Erst 1866, nach den italienischen Einigungskriegen, wurde aus der österreichischen eine italienische Provinz. Unter Mussolini wurde Venedig mit der auf dem Festland gelegenen Industriestadt Mestre vereinigt. Seither können die Nachkommen der einst die Meere beherrschenden Stadt nicht einmal mehr über ihre eigenen Angelegenheiten selbst bestimmen.
Dekadenz, Todeskult – und moderne Kunst
Doch die kulturelle Bedeutung stieg im Zeitraum des politischen Abstiegs beinahe ins Unermessliche, wobei der Verehrung alter Grösse und der Feier der Dekadenz, verkörpert in der Gestalt Casanovas und im Karneval, auch ein Kult des Todes innewohnt. Aber die Ausbeutung vergangener Grösse allein kann die bis in unsere Gegenwart andauernde Faszination Venedigs nicht erklären. Als neuer, eigenständiger Bedeutungsstrang etablierte sich die moderne Kunst in all ihren Ausprägungen und Gattungen.
Zehrte noch das 19. Jahrhundert von der Vergangenheit, von der pittoresken Kulisse alter Gemäuer und Kanäle, brachte das 20. Jahrhundert die aktuelle Kultur in die Lagunenstadt. Seit 1895 wird die Biennale ausgerichtet, die schon bald den Charakter einer Welt-Kunstausstellung annahm, an der die Länder in eigenen Pavillons ihre Kunst präsentierten.
Die Kunstwelt, die Architektur, der Film, alle kommen nach Venedig! Man kann darin eine Parallele erkennen zur Ausschmückung von San Marco in den Zeiten, als Venedig den Welthandel beherrschte und seine Seefahrer immer neue Kunstgegenstände anschleppten, einige gekauft, manche geraubt. Anders als die Beutestücke von San Marco führt die aktuelle Kunst ein Eigenleben. Neue Tendenzen und Entwicklungen besetzen die Hallen und Plätze, hinterlassen ihre Spuren und geben alten Gemäuern neuen Sinn.
Biennale
Mit der Biennale kommen andere Vergangenheiten und Gegenwarten nach Venedig, zu erleben etwa im Pavillon der Vereinigten Staaten. Die afroamerikanische Künstlerin Simone Leigh befreit die Geschichte der Schwarzen vom kolonialen Blick und gibt schwarzen Frauen ihre eigene Würde und Geschichte zurück. Aus einer alten Postkarte, die eine folkloristisch anmutende Szene mit einer schwarzen Waschfrau zeigt, wird die überlebensgrosse Skulptur einer starken und schönen Frau, aus der alltäglichen Tätigkeit eine würdevolle Handlung. Aber Simone Leigh geht noch weiter. Sie stülpt die verborgene afroamerikanische Geschichte nach aussen, indem sie den ganzen Pavillon mit einem Schilfdach und Säulen aus Holz überformt. Die dorischen Säulen und der klassizistische Fries, die Referenzen an die europäische Hochkultur, verschwinden beinahe vollständig darunter. Leben, Vergehen und neues Leben kommen so zu ihrer Geltung.
Auf Vergänglichkeit hin angelegt ist Latifa Echakhchs Installation im Schweizer Pavillon. Aschehaufen sind das erste, was man sieht, dann einen aus Holzspänen zusammengeklebten überlebensgrossen Kopf. Auch diese Figur ist teilweise verkohlt und umweht von Asche. In einem dunklen Raum schliesslich begegnet man weiteren solchen Skulpturen. Sie werden abwechselnd erhellt durch Lichtblitze und wandernde Farbprojektionen, sodass nie das Ganze überblickt werden kann. Latifa Echakhch nennt ihre Installation «The Concert», und wie in einem richtigen Konzert entsteht ihre Kunst erst durch das unmittelbare Erleben der flüchtigen Eindrücke, durch den Rhythmus der Abfolge immer neuer Farben und Formen, aber auch durch den Nachhall dieses Erlebens, materialisiert in der Asche, die langsam verweht.
Todessehnsucht
Venedig weigert sich zu sterben, verführt aber zur Nekrophilie. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb sich Thomas Mann für seine Novelle «Der Tod in Venedig» diesen Schauplatz ausgesucht hat. Die Vertuschung der aufkeimenden Seuche in der Stadt, das Versagen der Behörden und das heimliche Sterben bilden bloss den Hintergrund, vor dem sich der Persönlichkeitszerfall von Aschenbach, der Hauptfigur der Erzählung, abspielt. Der Leser kann mitverfolgen, wie der prinzipienfeste, einst gefeierte Schriftsteller jedem seiner Grundsätze untreu wird und sich zusehends selbst aufgibt. Am Ende lauert das Verderben in einer reifen roten Erdbeere, die mit Cholera-Bakterien verseucht ist. Aschenbach weiss um die Gefahr, ignoriert sie aber und verzehrt die Frucht in einem Akt der Selbstaufgabe.
Aschenbach stirbt an seinem ungelebten Leben, seine Lebenskraft reicht gerade noch aus, lange unterdrückte Leidenschaften zu wecken, ohne dass sie wirklich lebendig werden. Sie reichen gerade noch aus, ihm den Tod zu geben. So bietet sich Venedig denen an, welche ihre Todessehnsucht mitbringen. Aschenbachs Ableben ist schliesslich ein banales Ereignis, das von Thomas Mann auf bloss fünf Zeilen am Ende seiner Erzählung rapportiert wird.
Venedig selbst bleibt vom Tod des Schriftstellers völlig unberührt, es stirbt auf seine Weise und bleibt doch lebendig. Sollte es einmal sterben, wird dies geschehen, weil die Stadt durch die Konservierungsbemühungen zur entkernten Hülle mutiert ist, die nichtsahnenden Touristen eine nette Kulisse bietet, die losgelöst von Ort und Zeit auch in Las Vegas stehen könnte.
Tango im Kloster
Tango gehört zu Venedig. Auch wenn diese Musik nicht ganz so traurig und todessehnsüchtig ist, wie es das Klischee behauptet, steckt darin doch die Erfahrung von Sehnsucht und Tod und die besungene Liebe ist meistens unglücklich. Doch diese Musik ist alles andere als tot, denn sie lebt im Tanz, in der Umarmung der Paare, die sich auf der Tanzfläche drehen. Tango entstand in Buenos Aires und Montevideo um die vorletzte Jahrhundertwende als Mischung afrikanischer und europäischer Kulturen, deren Beiträge nicht mehr eindeutig zu identifizieren sind. Auch italienische Einwanderer hatten daran einen wesentlichen Anteil. Deren Einsamkeit und deren Sehnsucht nach der verlorenen Heimat sind immer noch gegenwärtig.
In Venedig gibt es eine Tangoszene, die nicht zum offiziellen Besichtigungsprogramm gehört. An verschiedensten Orten finden Milongas statt, an denen man Tango Argentino tanzen kann. Richtige Venezianerinnen und auswärtige Tänzer sind dort gleichermassen anzutreffen. Getanzt wird in Klostersälen, auf Strassen und Plätzen, in einem Festsaal eines Palazzo oder auf einer Dachterrasse. Und gegen Mitternacht kann es geschehen, dass sich die Tänzer und Tänzerinnen spontan auf dem Markusplatz einfinden. Tanzend erobern sie diesen tagsüber durch Touristen besetzten Platz zurück.
Überlebenswichtige Lagune
Venedig besteht nicht nur aus den sechs Quartieren oder Sestieri, die das städtische Zentrum bilden. Venedig könnte unmöglich bestehen ohne seine Lagune. Diese Lage zwischen dem offenen Meer und dem Festland macht den unvergleichlichen Charakter der Stadt aus. Als Venedig noch eine grosse Handelsmacht war, erwies sich diese Lage jedoch als überlebenswichtig. Die Lagune schirmte die Stadt zuverlässig ab vor allen Angreifern, die Venedig zu Lande oder zu Wasser angreifen wollten. War Gefahr im Verzug, rissen die Verteidiger die Pfosten aus, mit denen die Wasserstrassen in der Lagune markiert waren. Feindliche Schiffe liefen auf Grund und wurden so manövrierunfähig.
Bis zur Ankunft der napoleonischen Truppen wurde Venedig deshalb nie erobert. Damit die Lagune ihre Schutzfunktion erfüllen konnte, musste sie gepflegt werden. Flüsse wurden umgeleitet, um der Verlandung vorzubeugen. Über Jahrhunderte kümmerte sich Venedig um die Erhaltung dieses Ökosystems. Erst mit der Industrialisierung geschahen schwerwiegende Eingriffe wie der Bau vertiefter Wasserstrassen für die Hochseeschifffahrt oder die Einleitung giftiger Abwässer der chemischen Industrie. Und ob die erst kürzlich in Betrieb genommene Sperranlage zur Verhütung von Hochwassern ihren Zweck erfüllen wird, muss sich erst noch weisen.
Aber wie die Stadt selbst ist auch die sie umgebende Lagune erstaunlich widerstandsfähig. Das Ökosystem ist zwar gefährdet, stirbt aber nicht. Nach wie vor existiert ein erstaunliches Biotop von Pflanzen, die nur im Brackwasser überleben können, und seit einigen Jahren nisten sogar Flamingos auf einer der Inseln.
Das Fest des Lebens feiern
Venedig besuchen? Ja, unbedingt! Der Besuch dieser Stadt ist unvergleichlich, wenn man sich auf sie einlässt, neugierig ist und die ausgetretenen Pfade der Massentouristen meidet. Manchmal genügt es, in einer Gasse eine ungewohnte Abzweigung zu nehmen, sich im Gewirr der Wege zu verlieren und an einer überraschenden Stelle wieder aufzutauchen, wo die alten Geheimnisse der Stadt zu erahnen sind. Auch das Angebot an Kunst ist derart überwältigend, dass man sich darin nur verlieren kann. Umso eindrücklicher sind die überraschenden Entdeckungen. Schliesslich wird Thomas Manns «Tod in Venedig» am Schauplatz des Geschehens zu einer völlig neuen Lektüre.
Venedig wird wegen des Klimawandels vielleicht einmal im Meer versinken. Zuvor aber wird das Fest des Lebens gefeiert.