Wer sich seit Freitag quer durch die hiesigen und die europäischen Medien las, muss unweigerlich zur Überzeugung gelangt sein: Der Tod der Queen und die Übernahme der obersten Verantwortung im Vereinigten Königreich durch Charles III. ist ein Welt-Ereignis.
70 Jahre lang hat Elizabeth II. Stil, Standvermögen und moralische Geradlinigkeit bewiesen – aber ob sie, so bewundernswert ihre Haltung auch in jeder Lage, bei politischen Stürmen oder Flauten, auch in der Politik irgend etwas bewirkte, wissen weder wir in der Schweiz noch die Menschen in Grossbritannien oder jenen Ländern, die durch die Institution des Commonwealth mit «London» verbunden sind – und die vom Tod der Queen stärker, direkter, betroffen sein sollten als Menschen in anderen Staaten der Welt.
Selbst für die Mehrheit der Menschen innerhalb des Vereinigten Königreichs ist nicht klar, welche Befugnisse und Verantwortung die Monarchin/der Monarch tatsächlich hat. Gerhard Dannemann, Direktor des Grossbritannien-Zentrums der Humboldt-Universität in Berlin, sagte dazu in einem Interview, es gebe eigentlich nur auf Tradition basierende «Rituale», etwa dass die Queen einmal pro Woche mit dem Premierminister zusammen gekommen sei. Wenn die Queen Gesetze verkündete, so geschah das durch das «Verlesen» von Entscheidungen des Parlaments oder der Regierung. Wenn König Charles III. demnächst mit Premierministerin Truss zusammen treffen wird, kann er, so Dannemann, «Fragen stellen» oder sich einfach berichten lassen, aber er sollte sich hüten, eine eigene Meinung zu äussern.
Moralische Instanz
Klar wurde ständig spekuliert, ob die Queen gegenüber Premierministerin Theresa May oder Premier Johnson nicht doch (allenfalls) ihre Skepsis gegenüber dem Brexit geäussert habe, aber Beweise dafür oder dagegen gibt es nicht. Und es wird sie wahrscheinlich auch nie geben, weil die Begegnungen nicht protokolliert wurden.
Solche und ähnliche Ungewissheiten können die Menschen in Grossbritannien ohne Probleme verkraften, weil ihnen klar ist: Verantwortung tragen die Regierung, das Parlament und die Justiz, während die Monarchie nur repräsentiert und bestenfalls moralische Instanz ist. Doch wie wird dieses Zusammen- oder Nebeneinander-Spiel aus geografisch fernerer Perspektive wahrgenommen, etwa aus jener der Länder, die sich durch die Institution des Commonwealth mit London verbunden fühlen und den ehemaligen Kolonien des Königreichs?
Keine Entschuldigung für die von den Briten verübte Gewalt
Ein Quer-Blick durch Medien ausserhalb von Europa ist da recht interessant. Erster Eindruck, erste Erkenntnis: In all jenen Ländern, die keine demokratische Tradition haben, ist schlicht unverständlich, wie sich die britische Monarchie jahrzehntelang verhalten hat. In afrikanischen Ländern zeigen sich Leitartikler wichtiger Medien irritiert darüber, dass Königin Elizabeth sich nicht für die in der Kolonialzeit verübte Gewalt entschuldigt habe. Sechs Millionen Menschen habe Grossbritannien aus Afrika als Sklaven über das Meer verfrachtet, wird vielfach angeprangert, und in Kenia seien die Mau-Mau-Rebellen – dies sogar noch in der Zeit nach der der Inthronisierung von Elizabeth – zu unrecht blutig verfolgt worden.
In Südafrika publizierte das «Pan-African Movement» ein Statement des Inhalts, seine Mitglieder würden sicher nicht den Tod der Monarchin betrauern, denn diese habe sich nie dazu durchgerungen, die Gräueltaten der Briten in Afrika zu kritisieren. Besonders hart kommentierte die aus Nigeria stammende, in den USA tätige Sprachwissenschaftlerin Uju Anya das Schicksal der Queen – sie wünschte der 96-jährigen Todesqualen, weil ihr Land unsägliches Leid über ihre Familie gebracht habe. Und in Indien tauchten in den Social Media mengenweise Forderungen auf, die britische Krone möge doch bitte wenigstens den Diamanten Koh-i-nuur an Indien zurück geben, dann könne man einen Strich ziehen unter die Verbrechen der Briten in der Kolonialzeit (die 1947, also neun Jahre vor der Inthronisierung Elizabeths, endete).
Zusammenarbeit mit rassistischen Autokraten
A propos Koh-i-nuur (der Ausdruck ist Persisch, bedeutet «Berg des Lichts»): Dieser Diamant, 108 Karat schwer, wurde vor allem deshalb berühmt, weil er prominent, ja fast schon provozierend, in die Krone der Mutter von Königin Elizabeth II. eingearbeitet und so der Öffentlichkeit immer wieder präsentiert wurde. Aber wenn in Indien Anspruch auf Rückgabe ganz grosser Diamanten erhoben würde, dann müsste vor allem der «Darya-i-Nuur» ins Visier geraten: 182 Karat, auf ähnlich krummen Umwegen ins Ausland verbracht wie der „Koh-i-nuur“, derzeit aber eher diskret der Öffentlichkeit präsentiert, nämlich im (öffentlich zugänglichen) Keller der iranischen Zentralbank in Teheran.
Uns, nicht betroffene Europäerinnen und Europäer, mögen einige der globalen Empörungs-Ideen irritieren, aber einfach beiseiteschieben sollten wir sie nicht. Denn: Der britische Kolonialismus und die Kooperation Londons mit rassistisch orientierten Autokraten hat Spuren hinterlassen. Beispielsweise in Simbabwe, dem früheren Süd-Rhodesien. Die britische Regierung (unter Tony Blair) war mitverantwortlich für die Radikalisierung des Mugabe-Regimes, weil sie finanzielle Verpflichtungen (nachzulesen in den Texten des sogenannten Lancaster-Abkommens) nicht erfüllte und so Diktator Mugabe einen Vorwand lieferte für die Enteignung der weissen Farmer – die beitrug zum Ruin der Landwirtschaft Simbabwes.
Das nicht-zuständige Staatsoberhaupt
Die britische Krone, also konkret Königin Elizabeth, war für das Versäumnis der Blair-Regierung nicht verantwortlich – aber wie sollte man, wie kann man selbst heute noch, Menschen in Simbabwe plausibel erklären, dass das Staatsoberhaupt für solche Themen nicht zuständig sei, also keine Verantwortung getragen haben soll? Ein Präsident, eine Präsidentin, ein König, eine Königin, die können, müssen doch entscheiden? So lautet die Spontan-Meinung zumindest in all jenen Ländern, die autoritär regiert werden.
Das sind, gemäss dem vom britischen Economist erstellten Index, 54 Länder weltweit. Hinzu zählen können wir prinzipiell auch jene 56 Länder, die im betreffenden Index als «hybrid» gekennzeichnet sind. Also, vielleicht etwas (aber nur etwas) pauschalisierend: zusammen die Mehrheit der Länder der Welt.
Sich aus der Verantwortung stehlen
In all diesen Ländern verstehen die Menschen nicht, wie es kommen kann, dass ein Präsident oder gar ein König oder eine Königin, sich einfach so aus der Verantwortung stehlen kann, wenn es um Übeltaten in der Geschichte geht.
Und daher auch die in den Medien, teils auch bei den Regierungen, erkennbare Distanz gegenüber der Trauer um den Tod der Queen.