Jemen ist das Armenhaus des Mittleren Ostens und rangiert in den Statistiken humanitärer Organisationen sogar weltweit in den meisten Bereichen an der zweit- oder drittletzten Stelle. Nur Somalia und Afghanistan sind noch ärmer.
70 bis 80 Prozent der etwas mehr als 30 Millionen Menschen leben in Armut und sind auf Nahrungshilfe angewiesen; 3,6 Millionen sind Flüchtlinge im eigenen Land. Doch, man kann es irgendwie nicht glauben, ausgerechnet von diesem Armenhaus aus agitiert eine Miliz, jene der Huthi, derart vehement gegen das 1800 Kilometer entfernte Israel, dass eine Eskalation des Nahost-Konflikts denkbar geworden ist.
Die Droge Qat
Wie? Aus Jemen wurden mehrere Langstreckenraketen über die Distanz von gut 1800 Kilometern in Richtung Israels, dann auch gegen zwei US-amerikanische Kriegsschiffe im Roten Meer geschossen. Ausserdem beschossen die Huthi, von jemenitischem Territorium aus, Frachtschiffe in der Meerenge zwischen der Arabischen Halbinsel und Ostafrika, kaperten ein Schiff und halten es nun in materieller Geiselhaft. All das, so erklären die Huthi, aus Solidarität mit den weit entfernt lebenden Palästinensern und aus Hass auf Israel und die Juden, denen sie in ihrem programmatischen Banner den Tod wünschen (wie übrigens auch den US-Amerikanern).
Wer Jemen etwas kennt, gerät jetzt vielleicht in die Versuchung, den Jemeniten (ich wende da bewusst nur die maskuline Form an, denn Frauen haben in der Macho-Gesellschaft des Landes wenig zu sagen) eine Tendenz zur Selbstzerstörung anzulasten. Die ist tatsächlich etwa in der Alltags-Wirtschaft erkennbar: Jemen, einst relativ wohlhabend dank einer hoch entwickelten Terrassen-Landwirtschaft, verarmte unter anderem aufgrund der Droge Qat. Immer mehr Agrarflächen wurden, noch in den neunziger Jahren, von Weizen auf Qat umgestellt, weil das mehr Geld einbrachte, aber ohne Rücksicht auf die gewaltigen Wassermengen, welche der Anbau der Qat-Pflanze erfordert.
Entführungen von Touristen
Das Land wurde mehr und mehr abhängig vom Import von Weizen und verschuldete sich auch immer mehr. Soziologen stellten fest, dass die familiären Strukturen sich verschlechterten, weil die Männer einen Grossteil des Einkommens für die Droge ausgaben und die Frauen sich arrangieren mussten, die Familie mit dem noch verbleibenden Rest durchzubringen. Wer als Ausländer das architektonische Juwel Sanaa, die Hauptstadt, besuchte, musste wissen: An einem späteren Nachmittag darfst du nie ein Taxi benutzen, denn der Fahrer hat dann nur noch ein Ziel: möglichst schnell zu seiner Qat-Männerrunde zu gelangen. Also fuhr er dementsprechend … In den neunziger Jahren verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation aber auch, nachdem der Nachbar Saudiarabien mehr als eine Million jemenitischer Gastarbeiter des Landes verwiesen hatte – weil sich die Regierung Jemens 1991 als neutral erklärt hatte im Krieg zur Befreiung Kuwaits von Saddam Husseins Irak und weil die Saudis das als Verrat empfanden.
In denselben Jahren griff die «Seuche» der Entführung von Touristen aus dem Ausland immer mehr um sich – Dorfchefs im malerischen jemenitischen Hochland erpressten auf diese Weise internationale Hilfsgelder (für den Bau von Bergstrassen zum Beispiel), ramponierten damit aber den Ruf Jemens als Reiseziel derart, dass der Tourismus während Jahren förmlich einbrach.
Seither geht der wirtschaftliche Niedergang weiter. Parallel dazu breitete sich die Huthi-Rebellenbewegung erst langsam (als religiöse Erneuerungsbewegung getarnt), ab Ende 2001 aber rasant aus, als Reaktion auf den von US-Präsident George W. Bush ausgerufenen «Krieg gegen den Terror», den die Huthi als Angriff auf den Islam interpretierten. Die Bewegung nennt sich übrigens offiziell «Ansar Allah» (Diener Gottes) und leitet ihren Namen von einem radikalen Prediger namens Hussein al-Huthi ab.
Die Stammesloyalität
Al-Huthi gehörte der religiösen Minderheit der schiitischen Zaiditen an, einer Splittergruppe innerhalb des Schiiten-Spektrums. Sie werden oft als «Fünfer Schiiten» bezeichnet, weil sie, die Zaiditen, die Rechtmässigkeit von nur fünf Nachfolgern Alis, des Propheten-Schwiegersohns, anerkennen (im Gegensatz zu den Iranern, den «Zwölfer Schiiten»). Er soll für seine Gefolgsleute allerdings keinen grossen Wert auf das religiöse Bekenntnis gelegt haben – wichtiger war für ihn und ist offenkundig auch für die jetzige Führung die Stammesloyalität.
Die Huthi waren und sind Pragmatiker (oder Opportunisten …): Sie können, je nach den Umständen, auch Bündnisse mit Gegnern eingehen (das taten sie beispielsweise 2014, als sie sich mit ihrem Erzfeind, Präsident Saleh, einigten und danach die Hauptstadt Sanaa kampflos einnehmen konnten). Die Annäherung an Iran trieben sie voran, als sie erkannten, dass die Islamische Republik ihnen im Kampf gegen die Allianz ihrer Gegner (dazu zählte nicht nur Saudiarabien, sondern ein ganzes Spektrum von Splittergruppen im Jemen selbst) helfen konnte.
Das Dilemma
Das iranische Regime anderseits erkannte die Chance, mit den Huthi im Jemen einen Verbündeten gegen den Rivalen Saudiarabien aufbauen zu können – und begann mit der Lieferung von Kriegsmaterial und dem Transfer von Know-how für den Bau von Raketen. Iran erhielt so, auf technologisch hohem Niveau, bald einen Stellvertreter für den Kampf gegen Israel, Saudiarabien und die Interessen der USA im Mittleren Osten, einen weiteren Stellvertreter (neben Hizb-Allah, der schiitischen Miliz im Libanon). Mit den Attacken auf Schiffe im Roten Meer (rund zehn Prozent des gesamten globalen Frachtverkehrs verläuft durch die Meerenge des Bab al-Mandabs) und mit Raketen gegen Israel hat dieser Kampf jetzt einen neuen Höhepunkt erreicht.
Die internationale Gemeinschaft steckt im Dilemma. Noch vor wenigen Monaten einigte sich eine Geberkonferenz in Washington darauf, Jemen Hilfe im Umfang von 1,2 Milliarden Dollar zu gewähren. Die Gelder sind für die Linderung der Not der Bevölkerung gedacht, aber niemand kann garantieren, dass sie nicht indirekt auch den Huthi zugute kommen. Diese kontrollieren zwar nur etwa ein Viertel des Staatsgebiets, aber auf diesem Territorium leben rund 80 Prozent der Jemenitinnen und Jemeniten. Das heisst: Die Miliz, die über keine Legitimation verfügt, übt de facto die Staatsgewalt aus. Also kann man sie nicht völlig ignorieren.
Aber wie soll man reagieren, wenn diese De-facto-Staatsgewalt sich weiterhin als Pirat in internationalen Gewässern profiliert, weiterhin Frachtschiffe kapert und mit Drohnen oder Raketen angreift und sich in den Krieg Israels gegen Hamas einmischt? Die Antwort besteht derzeit nur aus Ratlosigkeit – sie ist vermischt mit der Angst, dass die Huthi aus dem Armenhaus Jemen den Nahost-Konflikt zu einem Flächenbrand machen könnten.