Bis zur „Wahl“ des neuen Präsidenten dürfen die „Reformer“ in dieser Nische auftreten, um der Farce einen demokratischen Anstrich zu geben.
Khamenei gewährt, Clubhouse liefert, und das Theater kann beginnen. Die Islamische Republik hält Präsidentenwahl ab.
Vorübergehend, eventuell bis zum Wahlende soll das Clubhouse erreichbar sein. Das ist nicht für die „Prinzipientreuen“ gedacht. Sie brauchen das nicht. Sie jonglieren bereits in ihren eigenen sozialen Medien mit verschiedenen Personen, die alle angeben, Khameneis Vorstellung von einem „idealen Präsidenten“ vollständig zu genügen.
Die Bühnenlücke
Doch es gilt auch die andere Seite der Bühne zu besetzen. Da, wo bei den früheren Aufführungen jene standen, die sich Moderate, Reformer oder Gesprächsbereite nannten, ist es leer. Auch sie hielten sich in der Vergangenheit stets an das Drehbuch, man könnte auch sagen: an die Landesverfassung, die Khamenei uneingeschränkte, ja fast göttliche Macht verleiht. Doch sie sind bei dieser Wahl fast von der politischen Bühne verschwunden.
Wo sollen aber die übriggebliebenen „Restreformer“ auftreten, wie soll sich diese Bühnenseite dem Publikum präsentieren? In Funk und Fernsehen kommen sie nicht vor, dort hat nicht einmal der amtierende Präsident viel zu melden. In den stark zensierten iranischen Zeitungen ist Wahlkampf nicht möglich, selbst ein Wahlkampf à la Islamische Republik nicht. Und Veranstaltungen oder Versammlungen verhindert Corona.
Ein fast leeres Theater
Dabei ist die Leerstelle auf dieser Seite der Spielwiese eigentlich gar keine grosse Katastrophe. Denn es mangelt sowieso an Zuschauern. Die überwiegende Mehrheit des Wahlvolks ist mit der Existenzfrage beschäftigt. Sie hat keine Zeit, kein Interesse an dem Bühnenspiel. Corona relativiert alles, nicht zuletzt den „Wahlkampf“ der Mächtigen.
Mehr als 60 Prozent der Iranerinnenn und Iraner versuchen mühsam, unterhalb der offiziellen Armutsgrenze zu überleben. Die Wahlbeteiligung werde, wenn alles gute liefe, irgendwo zwischen 20 und 25 Prozent liegen, berichten selbst jene Medien, die den Revolutionsgarden gehören.
Doch die kommende Wahl ist eine besondere, eine schicksalhafte, denn sie ist mit der Systemfrage verknüpft. Die Isolierung des Iran von der Aussenwelt, die Unzufriedenheit der Bevölkerung, die erstickenden Sanktionen, die tödliche Seuche, die regionalen Feinde und die Krise um das Atomprogramm – all das gefährdet die gesamte Macht.
Die Nische
Es gilt, zumindest um das Gesicht zu wahren, irgendwie diese Lücke auf der Bühne zu füllen. Mit jenen „Restreformern“, die zwar selbst bekunden, keine Chancen zu haben, aber trotzdem bereit sind, ja sich verpflichtet fühlen, den Wahlofen, soweit man ihnen das erlaubt, ein bisschen anzuheizen.
Auch sie fürchten den Zusammenbruch der Ordnung. Deshalb wollen sie bei dem kommenden Schauspiel eine Rolle haben; wenn es sein muss, die eines Statisten. Das nennen manche von ihnen Patriotismus. Was kann man für sie tun, wie bringt man sie dem Publikum näher? Für ihren Auftritt suchten die Regisseure der Wahlvorführung eine Nische, und sie wurden fündig, dem US-Softwareunternehmen Alpha Exploration Co. und seiner App Clubhouse sei gedankt. Vorübergehend soll diese App nicht blockiert werden – bis wann, ist unklar.
Frauenfeindlichkeit als Familientradition
Der erste Präsidentschaftskandidat, der auf diese Bühne stieg, heisst Ali Mottahari. Er erlaubte sich während seiner Jahre als Parlamentsabgeordneter ab und an zaghafte Tabubrüche, er ist bekannt für seine vorsichtige Kritik an Brutalitäten der Revolutionsgarden. Die Einhaltung der islamischen Kleiderordnung hält Mottahari aber für eine Existenzfrage des Staates. Einmal zitierte er sogar den Innenminister ins Parlament, weil der das Tragen von Leggings geduldet hatte. Trotzdem ortet man Mottahari irgendwo in der Nachbarschaft der Reformer ein.
Seine Premiere im Clubhouse war am vergangenen Mittwochabend. Die Sitzung dauerte zwei Stunden, Tabubrüche gab es nicht, die roten Linien beachtete Mottahari peinlich. Trotzdem wurde sein Auftritt zu einem Skandal ersten Ranges, der seit fast zwei Wochen die sozialen Medien bewegt.
In der offenen und zugleich geschlossenen Clubhouse-Runde fragte man Mottahari zu Beginn, warum er dort auftrete. Seine Antwort strotzte vor Selbstbewusstsein: „Wir haben eine Botschaft für die Welt, die wir allen Menschen rund um den Globus mitteilen müssen.“ Was er der Welt zu sagen hatte, kam dann ziemlich am Ende der Veranstaltung.
Die Missionierung ist im Mottahari-Clan eine Familientradition. Der Vater – Morteza – war DER Ideologe der Islamischen Republik. Als er kurz nach der Revolution bei einem Terroranschlag getötet wurde, weinte Ayatollah Ruhollah Khomeini zum ersten und letzten Mal öffentlich. „Mein Augenlicht habe ich verloren“, sagt der Gründer der Islamischen Republik.
Morteza Mottahari lehrte während der Schah-Zeit an der Theologischen Fakultät der Universität Teheran und äusserte sich zu allem und jedem, vor allem zu Kultur-Fragen. Die „Frauenfrage“ war sein Steckenpferd. In fast allen seiner Schriften ging er sehr scharf mit den „verdorbenen“ westlichen Sitten ins Gericht. Heute wird er als علامه tituliert, als Allwissender. Seine Pamphlete gegen Linke, Demokraten und die westliche Kultur in Gänze gehören zum kulturellen Schatz des Gottesstaates. Mit seinem Nachlass beschäftigen sich eine Fakultät und zwei Institute mit einem Dutzend „Forscher“ sowie einem riesigen Budget.
Mortezas Sohn Ali, heute 63 Jahre alt, verwaltet und überwacht die kulturelle Hinterlassenschaft seines Vaters. Auch er, wie der Vater, lehrt an der Universität Philosophie und Kultur.
Sein langatmiger, zweistündiger „Wahlkampf“ mit geladenen Gästen war live auf Youtube zu hören.
Hässlich, rassistisch, krankhaft
Die zwei Stunden waren fast vorbei, als eine Zuhörerin sich meldete und fragte, warum Mottahari es „animalisch“ finde, wenn Frauen ohne Hidjab in der Öffentlichkeit auftreten möchten: Was sei an europäischen Frauen tierisch?
Hier offenbarte sich Mottahari als Sittenwächter des Islamischen Staates (IS). Seine hässliche, rassistische, manche sagen, krankhafte Antwort trug er in einer erschreckenden Ruhe vor. Jedem normalen Iraner treiben diese Sätze die Schamröte ins Gesicht:
„Gleichberechtigung bedeutet nicht gleiche Rechte für Frauen und Männer. Sie sind von Natur aus verschieden und können nicht die gleichen Rechte haben … Unsere Jugend im Iran wird durch Frauenhände erregt, das ist gut so … Will eine Frau ohne Hidjab in die Öffentlichkeit, so folgt sie ihrem tierischen Instinkt … Wenn ein Mann am Strand nicht erregt wird, ist er krank … Die Zionisten haben für die Nacktheit in Europa gesorgt, die ja eine Krankheit ist … Europäische Männer werden nicht durch nackte Frauen erregt, deshalb müssen die europäischen Frauen sich afrikanische, arabische oder iranische Männer nehmen.“
Scham in den sozialen Netzwerken
Nicht-Iraner können nur erahnen, was danach in den sozialen Medien los war. Wikipedia musste Stunden später seine Webseite aktualisieren. Am selben Abend bekam Mottahari via Telegram, Whatsapp und Facebook Telefonnummern und Adressen von Sexualtherapeuten in Teheran.
Mottahari hat für seinen Wahlkampf eine Kampagne ins Leben gerufen, die sich „Stimme der Nation“ nennt. Diese „Stimme“ wird nach der Wahl im Juni verstummen, das weiss er genauso gut wie die Mehrheit der Bevölkerung. Für den mächtigen „Wächterrat“, der die Eignung der Kandidaten prüft, ist Mottahari nicht konservativ genug.
Der Westen hört zu
Doch Mottahari hatte bei seinem Auftritt mehr das Aussen als das Innen im Blick. Der Hidjab war das einzige innenpolitische Thema, über das er ziemlich ausführlich referierte. Kein Wort über Corona, über Khameneis Importverbot amerikanischer und britischer Impfstoffe und über den Tod von täglich mehreren hundert Menschen, die das Gesundheitssystem links liegen lässt. Auch das Wort Wirtschaft kam nicht vor. Das ist nicht sein Thema.
Dafür viel Aussenpolitik. Hier sprach einer der so genannten „Moderaten“, auf die die westliche Welt wartet. Seine zaghafte Gesprächsbereitschaft und seine Signale an Saudi-Arabien, die USA und Europa sollen vor allem Wien erreichen, wo momentan fast die gesamte Welt versucht, ein neues Atomabkommen mit dem Iran zu schmieden oder das alte wiederzubeleben. Dort glauben westliche Unterhändler, ein Entgegenkommen gegenüber dem Iran würde die „Moderaten“ in der Islamischen Republik stärken und die Welt ein bisschen besser machen. Hier gab sich solch ein „Moderater“ die Ehre.
PS: Kurz nach dem Niederschreiben dieser Zeilen veröffentlichte die Uno am Mittwoch ihren Weltbevölkerungsbericht über die Autonomie von Frauen über ihren eigenen Körper. Das UNFPA legt eine Studie über 57 Länder vor. Vom Iran ist darin nicht die Rede, weil die UN-Experten dort nichts zu suchen haben. „Das Recht auf körperliche Autonomie bedeutet, dass wir die Macht und die Kraft haben, eigene Entscheidungen zu treffen, ohne Angst vor Gewalt haben zu müssen oder jemand anderem diese Entscheidung übertragen zu müssen“, resümierte Natalia Kanem, Chefin des UNFPA ihren Bericht.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal