Je schärfer das Bild, desto wahrer? Mit einer spannenden Ausstellung zu fundamentalen Wahrnehmungsfragen verabschiedet sich Christoph Vögele vom Kunstmuseum Solothurn, das er während 24 Jahren leitete.
«Die Schärfe der Unschärfe» setzte Christoph Vögele bei Amtsantritt als Konservator des Kunstmuseums Solothurn als Titel über seine erste Ausstellung. Nun tritt er von seinem Amt zurück: «Tiefenschärfe – zwischen Lust, List und Schrecken» lautet der Titel seiner letzten Solothurner Ausstellung, die er mit Andreas Fiedler kuratierte. Mit Werken von 13 Künstlerinnen und Künstlern – der Schwerpunkt liegt auf der Gegenwart – gehen die beiden dem in der Fotografie wichtigen Begriff der Tiefenschärfe auf den Grund und nehmen ihn zum Anlass für einen offenen Ausstellungs-Essay über die optische Wahrnehmung und ihre vielen komplexen, teils auch widersprüchlichen Aspekte.
Sie tun das undoktrinär, mit Lust am Spiel mit Gegensätzen, mit Sinn für Überraschungen und zugleich mit Sensorium für existenzielle Tiefen. Vor allem greifen Vögele und Fiedler auf Kunstwerke von hoher Qualität zurück. Teils stammen sie aus der eigenen Sammlung, teils handelt es sich um Leihgaben aus Privatsammlungen, aus Museen oder aus dem Besitz der Künstler. Bei allen unmittelbar sinnlichen Qualitäten der Schau und bei allem Unterhaltungswert gilt aber auch: «Tiefenschärfe» ist fordernd. Der Sache auf den Grund zu gehen, die Feinheiten und die Zwiesprache der gezeigten Werke zu spüren, braucht Zeit und Einfühlung.
Wahrheit und Präzision
In vielen Werken sind die Motive gestochen scharf und von fotografischer Genauigkeit. Doch liegt die Wahrheit in dieser Präzision? Über was täuscht die Präzision hinweg? Was öffnet sich uns hinter der genauen Wirklichkeitswiedergabe an Tiefe? Führt Klarheit nicht oft zu neuer Unklarheit? Der genau geschilderte Blick im Selbstporträt des 20jährigen Félix Vallotton (1865–1925) bleibt voller Rätsel. Wir glauben im Rot der Klinge des Messers im Peperoni-Stillleben des gleichen Malers Blut zu sehen: Fehlanzeige, denn es ist nur die Spiegelung der brennend roten Frucht.
Bernard Voïtas (*1960) Werkserie von 1989 interpretieren wir spontan als geometrische ornamentale Komposition von weissen und schwarzen Punkten. Der Fotograf baute jedoch in der ganzen Tiefe seines Ateliers aus vielfältigem Alltagskram in tagelanger minutiöser Arbeit ein «Stillleben» auf, das, aus der Ferne gesehen, diese präzise Ornament-Wirkung hat. Voïtas Werk ist voller virtuoser Trompe-l’oeil-Effekte und damit voller Täuschungen. Hinter dem Witz zeigt sich aber tiefe Ernsthaftigkeit: Da öffnet sich die Frage nach der Zuverlässigkeit optischer Wahrnehmung und der Wahrnehmung generell, nach den Voraussetzungen, unter denen diese Wahrnehmung erfolgt, nach den psychischen Vorbedingungen, die die Betrachterinnen mitbringen. Sehen wir nicht häufig nur das, was wir sehen wollen, und die Dinge so, wie wir sie haben wollen, statt so, wie sie sind?
Boris Rebetez (*1970) legt in einer Vitrine zahlreiche Collagen aus, die wir vorerst gar nicht als Collagen, sondern als normale Fotografien wahrnehmen. Erst sehr genaues Hinsehen lässt uns spüren, dass da alle logischen Zusammenhänge durchbrochen und dass das scheinbar Sichere höchst fragil ist.
Dass die schöne Idylle täuschen kann, ist uns bewusst. Welthistorische Dimension nimmt diese Erfahrung an in der Reihe von Anette Kelm (*1975): Sie zeigt sachlich-nüchtern deutsche Buchcovers aus den1930er Jahren. Sie sind hübsch und schön. Hinter der Reihe steckt mehr: Es handelt sich um Bücher, die 1933 auf dem Scheiterhaufen der Bücherverbrennung landeten und die sich Kelm in mühseliger Tüftelarbeit in Büchereien und Nachlässen ausfindig gemacht hat, um sie als Zeitzeugen zu fotografieren.
Der Weg der Fotografie
Wichtig ist den Kuratoren, wie die klassische Schweizer Reportagefotografie von Hans Staub (1894–1990) oder Jakob Tuggener (1904–1988) mit der Wiedergabe der Wirklichkeit umgeht. Da ist Tiefenschärfe kein Spiel, sondern ein Mittel, um ein soziales Klima in geschärfter Bildsprache nachzuzeichnen. Das geschieht oft mit bewusst eingesetzter Unschärfe, die manch ein Detail erst ins Licht rückt. Anders die Werke des Malers Adolf Dietrich (1877–1957) oder der Fotografin Simone Kappeler (*1952).
Bei Dietrich hat jedes Detail – im Gegensatz zu unserem eigenen Sehvermögen – die gleiche gestochene Schärfe. Da bleibt nichts im Ungefähren, denn Dietrichs Auge tastet den Bildgegenstand Punkt für Punkt ab – darin Franz Gertsch (*1930) und seinen Holzschnitten ähnlich. Kappeler erreicht diese Wirkung mit dem Einsatz einer hoch entwickelten Technologie: So genau wie ihre Fotografien Blumen, Halme, Schmetterlinge widergeben, vermag unser Auge die «Nature vivante» (so ihre Titel) niemals wahrzunehmen.
Konfrontationen
Christoph Vögele und Andreas Fiedler mischen die Werke der Künstlerinnen und Künstler quer durch die Räume. Auf Dietrich oder Niklaus Stoecklins (1896–1982) präzise sachliche Malereien stossen wir hier wie dort und in immer neuen Nachbarschaften, ebenso auf Rebetez, Vallotton, Kappeler oder auf die bedrohlich mit Chromstahl geschärften Bagger-Zähne von Sofia Hultén (*1972). Das sorgt für Spannungen und in jedem Raum für Überraschungen. Gewohntes Sehen und rasches Einordnen in Schubladen werden auf wohltuende Weise gestört, was ein frisches und neues Sehen möglich macht. In der Konfrontation wird die Wirkung der Werke vielschichtiger. Sie sprechen aus ihrer Tiefe heraus zu den Besucherinnen und Besuchern. Der Ausstellungstitel «Tiefenschärfe» wird Programm.
Neben den erwähnten Namen sind folgende Künstlerinnen und Künstler in «Tiefenschärfe» vertreten: Friedrike Feldmann, Taiyo Onorato & Nico Krebs, Niklaus Stoecklin.
Was heisst da «Provinzmuseum»?
Mit rund 16’000 Einwohnern ist Solothurn, dessen Museum Christoph Vögele nun nach 24 Jahren verlässt, eine Kleinstadt in der Provinz. Doch diese Kleinstadt ist geprägt von einer aristokratischen Vergangenheit und einer selbstbewussten Bürgerschaft. Das Kunstmuseum dieser Stadt sei – so Konservator Christoph Vögele – von Eigentümerschaft und Struktur her tatsächlich ein kleines Provinzmuseum, doch es stelle übers Provinzielle hinaus hohe Ansprüche an seine eigene Tätigkeit. Das hängt zusammen mit der hauseigenen Sammlung, die den Rahmen der Kleinstadt bei weitem sprengt.
Das Museum im stattlichen Jahrhundertwende-Bau wartet auf mit prominenten Werken von Hans Holbein d. J., Caspar Wolf, Johann Melchior Wyrsch, Frank Buchser, Albert Anker, Alexandre Calame, Jean-Léonard Lugardon, Otto Frölicher, Camille Corot, Alexandre Perrier. Jeden Provinz-Massstab sprengt es ausserdem mit den Werken, welche die Kunstsammler des 20. Jahrhunderts – vor allem Josef Müller und seine Schwester Gertrud Dübi-Müller – dem Haus als Stiftungen überliessen.
Ferdinand Hodler, Cunio Amiet, Hans Berger, Félix Vallotton, Max Gubler sind einige der bedeutenden Namen der Schweizer Kunst. Dazu kommen Vincent van Gogh, Georges Braque, Henri Matisse, Gustav Klimt. In den letzten Jahren konnte das Museum auch zahlreiche wertvolle Neuzugänge aktueller Kunst – gerade auch von Solothurner Künstlerinnen und Künstlern – verzeichnen.
Die Qualität der Sammlung verpflichtet, verschafft dem Haus aber auch gute Chancen, wenn es um Beziehungen zu anderen Museen und um Leihgaben für eigene Ausstellungen geht. Aktuell ist «Tiefenschärfe» mit kapitalen Leihgaben befreundeter Museen ein Beispiel.
Christoph Vögele hatte die Programmgestaltung in den vergangenen 24 Jahren den «kleinen Verhältnissen» des Solothurner Museums anzupassen. Die Finanzen sind im Vergleich zu anderen Häusern begrenzt, die personellen Ressourcen ebenfalls. Verlangt ist auch die Konzentration auf Schweizer Kunst. Vögele vermochte damit umzugehen. Einen Schwerpunkt setzte er bei Einzelausstellungen wichtiger Schweizer Künstlerinnen und Künstler. Einige Namen: Kathrin Sonntag, Claudio Moser, Giacomo Santiago Rogado, Otto Lehmann, Ian Anüll, Judith Albert, Ingeborg Lüscher, Christoph Rütimann, Marie-Theres Amici, Vaclav Pozarek, Gunter Frenzel, Bessie Nager, Victorine Müller, Albrecht Schnider. Im Untergeschoss widmete er sich immer wieder der Zeichnung – zum Beispiel von Sophie Taeuber-Arp, Vallotton, Amiet, Giovanni Giacometti, Otto Morach oder jüngst von Meret Oppenheim.
Dazu zeigte er regelmässig thematische Ausstellungen, zum Beispiel «Die Pracht der Tracht», «Das doppelte Bild», «Um 1900. Symbolismus und Jugendstil in der Schweizer Malerei»; «Ferdinand Hodler und Cuno Amiet. Eine Künstlerfreundschaft zwischen Jugendstil und Moderne». Viele Themenausstellungen überliess er Assistentinnen und Assistenten, die so wichtige Erfahrungen in der praktischen Museumsarbeit leisten konnten. Vögele, der vor seinem Studium in Kunstgeschichte Primarlehrer war, mass dieser Nachwuchsschulung eine hohe Bedeutung bei. Dass mehrere dieser Mitarbeitenden später eigene Museen, ob in Aarau oder Köln, leiten konnten, belegt den Erfolg dieser Bildungsarbeit.
Die kleine Stimme im Kunstbetrieb
Das «Provinzmuseum» hat es trotz hochkarätiger Sammlung und trotz klarer Konzentration auf die eigenen Möglichkeiten nicht einfach, sich im Konzert des ganzen Kunstbetriebs Gehör zu verschaffen. Print- und andere Medien setzen zunehmend auf Highlights, auf die grosse Geste, wenn möglich gar auf Skandalträchtiges und auf kurzlebige und lautstark geführte Debatten. Die Propagandamaschinen der Fondation Beyeler und anderer potenter Grossveranstalter drängen die subtileren Signale der Kleinen an den Rand. Trotzdem folgte Christoph Vögele nicht dem breiten Mainstream, sondern blieb auf dem schmalen Weg der Eigenständigkeit. Das geschah zugunsten der Künstlerinnen und Künstler, sicher aber auch zugunsten «seines» treuen Solothurner Publikums, das er mit einem dichten Veranstaltungsprogramm bei der Stange hielt.
Die Nachfolge von Christoph Vögele hat Katrin Steffen angetreten. Sie studierte Kunstgeschichte, Theaterwissenschaften und allgemeine Geschichte in Basel, Bern und Paris, Sie arbeitete als Assistentin von Ernst Beyeler, als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kunstmuseum Basel, Abteilung Gegenwart, war Kuratorin der Daros Lateinamerika und realisierte eine umfassende Retrospektive über das Schaffen des lanzarotischen Künstlers César Manrique.
Kunstmuseum Solothurn: Tiefenschärfe – Zwischen Kunst, List und Schrecken. Bis 24. April