Was geht hinter Gefängnismauern vor? Glücklicherweise wissen es die wenigsten von uns – umso mehr kursieren dazu Legenden und Vorurteile: Von Kuschelknast bis Folterhaft ist die Rede, von ewigem Wegsperren, während das Gesetz die Resozialisierung von Strafgefangenen verlangt. Wer differenziert mitreden will, sollte „Thorberg“ gesehen haben.
Sie heissen Luca, Andreij, Maiga, Ismet, Ilaz oder Timothy, sie kommen aus der Schweiz, der Ukraine, der Elfenbeinküste, der Türkei, dem Kosovo oder aus Grenada und sie alle haben schwere Verbrechen begangen: Mord und Totschlag, geplant oder aus dem Affekt heraus, manchmal ungewollt – tragischer Ausgang einer Auseinandersetzung. Jetzt sitzen sie für Jahre auf dem Thorberg, der geschlossenen Strafanstalt mit Sicherheitsabteilung, hinter Gittern, 8 Jahre, 10 Jahre, 12 Jahre, 15 Jahre….180 Männer in den „besten Jahren“ aus über 40 verschiedenen Nationen.
Wer sind diese Menschen, wie war ihre Geschichte, was geht heute in ihnen vor? Und werden sie jemals den Weg in die Normalität zurück finden? Diesen Fragen gehen der Filmemacher Dieter Fahrer und seine Crew nach – und es entstand ein feinfühliges, respektvolles Werk, das fesselt, bewegt, erschüttert – ab und zu reicht`s auch zu einem Schmunzeln.
Vertrauensbonus für ein heikles Projekt
Als Dienstverweigerer hat Dieter Fahrer schon in frühen Jahren während einigen Tagen erfahren, was Eingesperrtsein bedeutet – was aber wenn man jahrelang seine Freiheit verliert? Mit dieser Frage trat er vor drei Jahren an Hans Zoss, bis letzten Herbst Direktor der Strafanstalt Thorberg. „Es war immer eines meiner Anliegen, der Gesellschaft besser zu zeigen, was hinter Gefängnismauern geschieht. Wir haben lange zusammen geredet, ich habe auch frühere Filme von Dieter Fahrer angeschaut, ich habe seine Sensibilität für dieses Thema gespürt und zugestimmt“, erklärt Hans Zoss, wie die Realisierung dieses Dokumentarfilms zustande kam. Beide wollten dem Vollzug ein Gesicht geben.
Dieter Fahrer ging sehr behutsam vor: Interessenten konnten sich freiwillig melden, während der ersten Zeit arbeitete er nur mit Fotografien – später war ein Teil der Gefangenen bereit, bei einer Videowerkstatt mitzumachen: Sie durften die Kamera mit in die Zellen mitnehmen und sich dort selber filmen. „Es ergaben sich berührende Momente, als zum Beispiel einer vom Tod seiner Eltern berichtete und ihm dabei die Tränen kamen“, erzählt Fahrer. So entstand das Filmprojekt Schritt für Schritt. „Kein einfaches Unternehmen, wenn alle Regeln des Persönlichkeits- und Datenschutzes eingehalten werden müssen“, ergänzt Hans Zoss. „Wir haben mit jedem Teilnehmer eine schriftliche Vereinbarung getroffen“.
„Du musst halt immer stark sein“
Zwischen dem „Morge!“ – „Morge!“ – „Morge!“ beim Öffnen der Zellen um 6.55 Uhr und dem „Guet Nacht!“ – „Guet Nacht!“ – „Guet Nacht!“ beim Abschliessen der Zellen um 21.30 Uhr spielt sich das fast endlos repetitive Leben ab. Zwischendurch eher dröge Arbeit, Pause, Essen, dröge Arbeit, Spaziergang im gesicherten Hof, Essen….der äusserliche Alltag im Gefängnis ist bald beschrieben.
Was aber geht in diesen Menschen vor? „Es ist eine sehr eigene, männliche Welt, die ich hier erlebt habe“, fasst Dieter Fahrer seine Eindrücke als Filmemacher zusammen, „hart zu ertragen.“ Originalton Gefangener Luca: „Ich bin im Heim aufgewachsen, dann war ich im Jugendgefängnis. Wenn du dort aufwächst, dann hassest du einfach alles. Der Hass war mein Lebensmotor. Du musst halt immer stark sein, und so. Das ist das einzige, worauf ich mich verlassen konnte. Ich bin ja schon so wie tot, weisch“.
Fahrer will nicht werten – er zeigt mit aufmerksamer, ruhiger Kamera und mit zum Teil langen Einstellungen die Menschen hinter Gittern, mit ihren Lichtblicken und Sorgen, ihrer Geselligkeit und Einsamkeit, jeder mit seiner Vergangenheit zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Und wie jeder in dieser speziellen Schicksalsgemeinschaft seinen Platz sucht.
„Viele, die mitreden, haben keine Ahnung“
Im Gespräch mit journal21 wird Fahrer aber impulsiver: „Ich kriege jedes Mal einen Wutanfall, wenn ich von unbedarfter oder politisch einschlägiger Seite so Ausdrücke höre wie Kuschelknast und Hotelgefängnis. Der Strafvollzug will Resozialisierung, aber viele draussen wollen eigentlich Rache. Es gibt kaum ein Thema in unserer Gesellschaft, wo so viele mitreden und keine Ahnung haben, worum es geht“.
Genau hier setzt die Motivation für Hans Zoss ein: “Selbstverständlich besteht Gefahr, dass jeder aus dem Film jenes herauspflückt, was ihn in seiner Meinung bestätigt. Ob da der Film festgefahrene Meinungen ändern kann, bezweifle ich. Aber vielleicht entsteht auch eine grössere Diskussion über Sinn und Zweck des Strafvollzugs heute. Letztlich legt in unserem Land der Stimmbürger Gesetze fest – auch für einen künftigen Strafvollzug, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Und da kann der Film einen wertvollen Beitrag leisten“.
„Ich kann es mir letztlich nicht vorstellen“
Dieter Fahrer hat für das Filmprojekt rund 200 Tage (und einige Nächte) auf dem Thorberg verbracht, 150 Stunden Video aufgezeichnet – neben dem Hauptfilm sind noch 18 weitere Filmporträts entstanden. „Ich weiss aber auch nach drei Jahren noch immer nicht, was genau in Menschen vorgeht, die jahrelang eingesperrt und ihrer Freiheit beraubt sind. Das habe ich leider noch immer nicht herausgefunden“, bilanziert Fahrer. Weiss es vielleicht Hans Zoss, der immerhin ganze 17 Jahre den Thorberg geleitet hat? „Nein, auch ich kann es mir letztlich nicht vorstellen. Vor allem nicht, wenn noch die Aufarbeitung eines Delikts damit verbunden ist. Ehrlich – nachvollziehen kann ich es nicht!“.
Zwei Hinweise:
Ab 6. September läuft „Thorberg“ in den Kinos der Deutschschweiz, ab nächstem Frühjahr auch in der Romandie (www.thorberg.ch). Dazu hat das Museum für Kommunikation (MfK) in Bern. eine begleitende Kammerausstellung „Thorberg – Hinter Gittern“ gestaltet, wo in nachgebauten Zellen die erwähnten weiteren Filmporträts gezeigt werden. Jacqueline Strauss, MfK-Direktorin und Ausstellungsverantwortliche dazu: „Die Insassen auf dem Thorberg dürfen einen Computer und einen Fernseher in ihrer Zelle haben – Handy und Internet sind gesperrt. Aber der Bildschirm ist für sie das Fenster nach aussen. Wir haben hier in unserer Ausstellung ein Fenster von aussen nach innen geöffnet“. Die Ausstellung dauert noch bis zum 28. Oktober (www.mfk.ch).