Das Jahr 1913 hatte es wahrhaftig in sich: Strawinsky präsentiert seinen „Sacre du Printemps“, Malewitsch malt das „Schwarze Quadrat“, in New York steigt die erste Armory Show, Proust veröffentlicht „Un amour de Swann“, den ersten Band seiner „Recherche du temps perdu“ – und bei S. Fischer in Berlin erscheint Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“. Nachzulesen ist dies und noch viel mehr in dem seit Monaten auf Platz 1 der Spiegel-Bestenliste stehenden Buch „1913“ des deutschen Publizisten und Kunsthistorikers Florian Illies, das seinen Lesern auf höchst anregende Art und Weise vor Augen führt, welche Revolutionen damals auf dem Gebiet von Kunst, Literatur und Musik stattgefunden hatten.
Nicht von ungefähr steht das diesjährige Lucerne Festival unter dem Motto „Revolution“. Dass da im Programm neben zahlreichen Neuerern der Musik – neben Monteverdi, Wagner, Bruckner und anderen – auch Strawinsky mit seinem „Sacre du Printemps“ nicht fehlen durfte, versteht sich von selbst. Aber auch das Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrums im Buddenbrook-Haus in Lübeck hat das Jubläumsjahr 2013 zum Anlass genommen, an das Erscheinen der Novelle „Tod in Venedig“ vor 100 Jahren zu erinnern und darüber hinaus Thomas Manns Beziehung zu Richard Wagner aufzuzeigen, dessen 200. Geburtstag heuer ebenfalls gefeiert wird. Das Museum Strauhof in Zürich zeigt die äusserst sehenswerte Ausstellung noch bis zum 8. September: letzte Gelegenheit also, sich von den Kuratoren Kerstin Klein und Holger Pils auf eine literarisch-geistesgeschichtliche Reise durch das Europa vor dem Ersten Weltkrieg mitnehmen zu lassen.
Auf grossen Schrifttafeln liest man sich den Schlüsselstellen entlang durch Thomas Manns Novelle. Anhand von Fotos, Reisenotizen und Briefen verfolgt man die Genese des Textes. Hinweise zu mythologischen, psychoanalytischen und ikonographischen Bezügen vertiefen die Interpretation. Und schliesslich zeigt eine eigene kleine Schau, wie stark Thomas Manns sich zur Zeit der Entstehung von „Tod in Venedig“ mit Richard Wagner identifizierte. Schon die beiden frühen Novellen „Tristan“ (1903) und „Wälsungenblut“ (1906) zeugen von der intensiven Auseinandersetzung Thomas Manns mit dem Werk Richard Wagners. Sie setzte sich während des Aufenthalts in Venedig im Jahr 1911 fort und hielt, wenn auch aus zunehmend kritischer Distanz, ein Leben lang an, wie sich dies in dem von Hans Rudolf Vaget vor einigen Jahren herausgegebenen Sammelband „Im Schatten Wagners. Thomas Mann über Richard Wagner – Texte und Zeugnisse 1895 – 1955“ (Fischer TB 16634) nachlesen lässt.
„Auf jeden Fall bleibt Wagner der Künstler, auf den ich mich am besten verstehe und in dessen Schatten ich lebe“, schrieb Thomas Mann 1920 in einem Brief an Ernst Bertram. Der Begriff „Schatten“ war zweifellos mit Bedacht gewählt. Denn Thomas Mann liebte und bewunderte die Musik Richard Wagners nicht nur, er erkannte auch das Dämonische, das Gefährliche, das Abstossende in ihr: das, was seiner Meinung nach – im „Dr. Faustus“ ist es nachzulesen – Deutschland den Weg in den Abgrund bereitet hatte.
1911, als der damals 36jährige Autor in Venedig weilte und jene Eindrücke empfing, die im Jahr darauf zur Entstehung seiner neben dem „Tonio Kröger“ wohl berühmtesten Novelle führen sollte, schrieb er gleichzeitig seinen ersten grossen Essay über den Komponisten: „Auseinandersetzung mit Wagner“, einen Text, der zeigt, wie untrennbar „Tod in Venedig“ mit der Musik Richard Wagners verbunden ist und wie genau der Verfasser über seine Verführbarkeit durch diese Musik Bescheid wusste. Die klug gestaltete Schau im Strauhof weist noch einmal mit allem Nachdruck darauf hin. Sie macht deutlich, wie viel von Wagner in die Figur des Gustav von Aschenbach eingeflossen ist. Sie zeigt gleichzeitig aber auch, wie mehrdeutig dieses schmale und doch so komplexe Werk ist. Nicht nur an Wagner ist bei der Lektüre zu denken, sondern auch an Gustav Mahler – Visconti tat es in seiner Verfilmung ganz explizit -, an Nietzsche und vor allem natürlich an Thomas Mann selber, der sich hier fast unverstellt zu seinen homoerotischen Neigungen – zu seiner verdrängten Homosexualität, könnte man auch sagen – bekennt. „Vormännlich hold und herb… schön wie ein zarter Gott“, so wird jener Jüngling, Tadzio“, beschrieben, den Aschenbach von ferne liebt, so wie auch der Autor selbst junge Männer wohl nur aus der Distanz wirklich zu lieben gewagt hatte. Dass ihn das Thema bis in die letzten Lebensjahre hinein beunruhigte, wissen wir aus seinen Tagebüchern. Dass es im einen oder andern Fall zu mehr als nur fernem Sehnen kam, lässt sich vermuten. Der in München lebende Autor Heinz Pleschinski hat eine solche mögliche Begegnung zum Anlass für seinen Roman „Königsallee“ (C.H. Beck, München 2013) genommen, in dem er Realität und Fiktion auf raffinierte Weise miteinander verbindet.
Das ist vielleicht das Spannendste an der Schau im Strauhof, dass sie nach vielen Seiten offen ist und zum Weiterlesen und Weiterdenken anregt. Ein interessantes Begleitprogramm trägt das Seine dazu bei. Heute Montag, 2. September, referiert Thomas Sprecher im Rahmen der Zürcher Volkshochschule über „Thomas Mann und Richard Wagner“. Am Dienstagabend führt Martin Dreyfus eingeschriebene Teilnehmer durch die Ausstellung, und am 7. September schliesslich bietet die „Lange Nacht der Zürcher Museen“ Gelegenheit, sich im Widder-Saal von der Herausgeberin der Thomas-Mann-Tagebücher, Inge Jens, und der Pianistin Simone Keller in „Leben und Musik im Hause Pringsheim“ einführen zu lassen oder unter kundiger Führung einen letzten Gang durch die Ausstellung zu machen.