Die Bühnenwelt hat als Spiegelung erweiterter und verdichteter Realitätserfahrungen die Menschen immer schon fasziniert und in Bann geschlagen. «Schein und Sein» – zwei Aspekte des Lebens, an denen wir Anteil haben wollen, und zwar an beiden!
Dies gilt auch für das Musiktheater mit seinen spezifischen Möglichkeiten, uns sehend und hörend zu entführen und zu verzaubern. Besonders interessant wird es, wenn Künstlerinnen und Künstler sich zur Aufgabe machen, uns auch hinter die Kulissen der Theaterwelt blicken zu lassen. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist die Oper «Adriana Lecouvreur» des in Kalabrien geborenen Francesco Cilea (1866–1950), den man zu den «Veristen» um Mascagni, Leoncavallo und Puccini zählt, obwohl man ihn auch als einen «Spät-Belcantisten» bezeichnen könnte.
Geschichte und Fiktion
Wir wissen es auch vom Sprechtheater: Die Dramen, die uns am meisten bewegen, entstehen dort, wo ein grosser Geist sich einer historischen Figur annähert und diese nach eigener Intuition umformend gestaltet. Wir kennen dies beispielsweise von Schillers Don Carlos oder von seinem Wallenstein. Eine vergleichbare Vermischung von historischer Erinnerung und phantastischer Neuschöpfung haben wir auch im Fall von Cileas «Adriana Lecouvreur» vor uns.
Historisch ist die Figur der Adrienne Lecouvreur, einer zwischen 1717 und 1730 an der Comédie-Française in Paris tätigen Schauspielerin grosser Attraktivität und bekannt durch zahlreiche Affären – damals bei Schauspielerinnen quasi obligat –, wie etwa mit dem sächsischen Grafen Moritz, einem Sohn von König August dem Starken. Historisch ist auch die Figur einer gewissen Princesse de Bouillon, die Konkurrentin von Adrienne um die Gunst des Grafen. Aus dieser historischen Konstellation schuf der Theaterschriftsteller Eugène Scribe zusammen mit seinem Kollegen Ernest Legouvé ein erfolgreiches Drama, das 1849 seine Uraufführung in Paris hatte und danach international auf den Bühnen der grossen Welt Karriere machte, unter anderem mit Diven des Theaters wie Sarah Bernhardt und Eleonora Duse. Dies war die Grundlage des posthumen Ruhmes einer Schauspielerin 119 Jahre nach ihrem Tod.
Als Cilea um das Jahr 1900 auf der Suche nach einem neuen Opernstoff war, beauftragte er den italienischen Librettisten Arturo Colautti ihm eine Vorlage aus dem französischen Theaterstück für eine italienische Oper zu verfassen. Diese hatte dann auch am 6. November 1902 ihre Uraufführung am Teatro Lirico in Mailand. Um1930 straffte und kürzte Cilea das Werk noch leicht. Das ist die Variante, in welcher es heute meist zur Aufführung gelangt. «Adriana Lecouvreur» ist das einzige Bühnenwerk dieses Komponisten, das seinen Namen ausserhalb von Italien unter Opernfreunden weltweit lebendig hält.
Komik im Bühnenvorraum
Die Oper hat vier Akte, die Akte 1 und 3 spielen im Theatermilieu, der Akt 2 ausserhalb in einer Villa des Fürsten, die als Treffpunkt der Künstler und seiner Affären gilt. Der ältere Regisseur und Theaterintendant Michonnet versucht im ersten Akt alle für die Aufführung auf Trab zu bringen: Schauspielerinnen, Theaterpersonal, den Fürsten von Bouillon, dessen Geliebte samt Entourage, eine bunte Gesellschaft von aufgeregten und exaltierten Leuten. Dann erscheint auch Adriana und ihr Verehrer Moritz, allerdings nicht als Graf von Sachsen, sondern als ein Offizier in dessen Gefolge. Adriana hat sich in den Mann verliebt und verabredet sich mit ihm nach ihrer Vorstellung.
Dazu kommt es aber nicht, sie schenkt ihm zuvor ein Veilchensträusschen, aber inzwischen hat die Frau Fürstin, die den Grafen von Sachsen als ihren Geliebten betrachtet, diesem einen Brief mit einer Einladung zukommen lassen, sodass er die Begegnung mit Adriana absagt und sich in die Villa des Fürsten an der Seine begibt, wo sich an diesem Abend auch der Fürst mit der ganzen Theatertruppe einfinden. Dieser zweite Akt in der Villa hilft der um die Gunst von «Maurizio, Conte di Sassone», wie er in der Oper heisst, kämpfenden Frauen herauszufinden, wer die wirkliche Geliebte des sächsischen Mannes ist. Fatalerweise überlässt Maurizio, der der Fürstin offenbar aus politischen Gründen den Hof macht, den ihm von Adriana geschenkten Veilchenstrauss, den diese mit atemlämenden Gift beträufeln und diesen dann im letzten Akt als das Geschenk «von Maurizio» Adriana schicken wird.
Im dritten Akt mit obligatem Ballett im Ballsaal des Fürsten geht das Intrigenspiel der Fürstin weiter. Adriana hat einen grossen Auftritt als Vortragende eines Monologs aus Racines Phèdre, in dem sie die schamlos falschen Frauen geisselt, die den Anschein tugendsamer Ehefrauen geben und dabei nur ihrer Wollust frönen. Die Fürstin versteht, wer damit gemeint ist und schwört Rache gegen ihre Rivalin Adriana.
Sodass sie im letzten Akt, welcher in der Wohnung Adrianas spielt, ihr mit gefälschtem Absender den vergifteten Veilchenstrauss schickt. Die Schauspielerin glaubt, an diesem das mit Maurizio genossene Glück vergangener Tage einzuatmen. Der Graf, inzwischen auch Adriana gegenüber zu seiner noblen Herkunft stehend, ist sogar bereit, die Schauspielerin zu heiraten. Diese will ihre Karriere am Theater beenden, zweifelt zunächst noch an der Ehrlichkeit und Treue Maurizios, bevor sie an ein gemeinsames Liebesglück glauben will und kann.
Sterbedrama bühnenreif
Mit diesem letzten Duett zwischen Adriana und Maurizio ist Cilea wahrhaftig ein veristisches Meistersstück geglückt. Der Bühnentod einer Diva, zumal wenn sie ihn singend bewältigen muss, ist darstellerisch immer eine heikle Gratwanderung. Wir kennen dies beispielsweise aus Verdis «La Traviata» wie aus Puccinis «La Bohème», wo die Sterbeszene leicht ins Unglaubwürdig-Komische kippen kann. Bei Cilea könnte man von einem Bühnentod unter «narkoleptisch-halluzinatorischen Bedingungen» sprechen.
Maurizio bekräftigt Adriana gegenüber, sie sei als Liebende die edelste aller Königinnen, die Herrin seiner Gefühle und seiner Gedanken. Sie willigt ein: Ihre gemeinsame Liebe trotze dem Schicksal und dem Tod der Liebesträume. Doch Adriana wird es schwindlig, sie erbleicht und zittert, weiss nicht mehr, wo sie sich befindet, erkennt ihren Maurizio nicht mehr, fällt in einen Wahnzustand und glaubt, sie sei im Theater auf der Bühne. Sie taumelt, schreit und schluchzt, fällt in Ohnmacht. Maurizio ruft Hilfe herbei, Michonnet, der Theatermann erscheint, sie erwacht noch einmal, glaubt zu fliegen: «Frei von Schmerz fliege ich, wie eine weisse müde Taube ins Feuer.» Und stirbt in den Armen ihres verzweifelten Maurizio. Die Regieanweisung lautet: «Beide sinken schluchzend über den leblosen Körper von Ariana.»
Wir sehen und hören eine ergreifende Video-Verfilmung aus dem Royal Opera House Covent Garden des Jahres 2012, mit Angela Gheorghiu als Adriana und Jonas Kaufmann als Maurizio. Am Dirigentenpult war Sir Mark Elder, die Regie lag in den Händen von David McVicar.