Wer derzeit das Schauspielhaus Zürich besucht, kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass entweder eine Romanadaptation oder aber die freie Bearbeitung eines Stücks auf dem Programm steht. Nun ist dieser Trend keineswegs neu und das Zürcher Theater auch nicht allein mit seiner Vorliebe für Bearbeitungen bzw. „Überschreibungen“, wie es neuerdings heisst.
Warum kein originales Stück?
Doch auffallend ist die Konsequenz, mit der die neue Führungsriege Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg zusammen mit ihren Hausregisseuren und Hausregisseurinnen zu Werke geht. Seit dem Start in die neue Spielzeit standen mit Miranda Julys „Der erste fiese Typ“, John Steinbecks „Früchte des Zorns“ und Ayn Rands „Aufstand von oben – Der Streik“ gleich drei gewichtige Romanadaptationen auf dem Programm, während bestehende Stücke wie „Kasimir und Karoline“ und „Der Kirschgarten“ fast bis zur Unkenntlichkeit überschrieben daherkamen.
Übernahmen und Gastspiele wie Stemanns „Werther“ nach Goethe und Milo Raus „Orest in Mossul“ nach Aischylos folgten dem Trend, „Der Mensch erscheint im Holozän“ nach Max Frisch und „Unterwerfung“ nach Houellebecq setzen ihn demnächst fort. Dazwischen gab es allerhand Performances, Lesungen und Selbstverfasstes. Ein originales, vom Autor für die Bühne geschriebenes und vom Regisseur getreu der Vorlage inszeniertes Stück steht indes weiterhin aus.
Warum ist das so?
Und welcher Mehrwert entsteht, wenn Romanstoffe auf die Bühne gebracht oder bestehende Stücke nach Belieben dekonstruiert werden? Darauf eine schlüssige Antwort zu geben, ohne dabei hoffnungslos aus der Zeit gefallen zu wirken, ist schwierig, zumal diese sogenannten Überschreibungen längst nicht alle misslungen sind, im Gegenteil. Aus Miranda Julys Roman „Der erste fiese Typ“ machte Christopher Rüping ein verstörendes Kammerspiel, in dem die beiden Schauspielerinnen Maja Beckmann und Henni Jörissen zur Hochform aufliefen.
„Der Kirschgarten“ ohne Plausibilität
Und mit der Verwandlung von Ayn Rands politphilosophischem Monsterroman „Atlas Shrugged“ in eine Mischung aus Broadway-Musical und Dreigroschenoper gelang Nicolas Stemann eine Überschreibung, die Ayn Rands libertär-kapitalistische Thesen in ihrer ganzen horrenden Aktualität entlarvte.
Weit weniger gelungen schien mir hingegen Christopher Rüpings Adaptation von Steinbecks sozialkritischem Epos „Früchte des Zorns“: zu vordergründig die Story, zu eindimensional die Reduktion auf ein paar wenige plakative Figuren, zu wenig überzeugend die Wahl des Stoffes als aktuell sein wollender Beitrag zum Thema Migration.
Und vollends zum Ärgernis geriet schliesslich die äusserst ambitiös auftretende Bearbeitung von Tschechows „Kirschgarten“ durch die lettisch-amerikanische Regisseurin Yana Ross. Indem sie die Handlung in die Psychiatrie und den legendären Kirschgarten laut Programmheft unter Zürichs Strassenpflaster verlegte, indem sie Figuren umdeutete und das Ensemble mit dem Text Tschechows frei improvisieren liess, beraubte sie das von ihr angeblich so hoch geschätzte Werk jeglicher Plausibilität. Tschechow war zwar Arzt, aber Elektroschock-Therapien und Familienaufstellungen nach Bernhard Hellinger scheinen mir in seinem „Kirschgarten“ ebenso fehl am Platz wie die Familiengeschichte der aus Polen stammenden Hauptdarstellerin Danuta Stenka.
Hier liegt vielleicht einer der Gründe, warum ich diesen Überschreibungen bestehender Romane und Dramen mit Misstrauen begegne: Ich vermisse den Respekt vor der Literatur und spüre zu wenig Vertrauen in die Fähigkeit des Publikums, Aktualität auch dort zu erkennen, wo sie in fremdem und scheinbar antiquiertem Gewand daherkommt.
Muss sich alles auf Zürich beziehen?
Mich erreicht – um nur drei Beispiele zu nennen – die Wucht der antiken „Orestie“ auch dann, wenn Milo Rau mich nicht per Video-Einspielung ins kriegsversehrte Mossul versetzt. Die Metaphorik von Steinbecks Roman erschliesst sich mir, ohne dass man mir einen aufblasbaren Plastikbaum mit goldenen Riesenfrüchten vor die Nase stellt. Und man muss Tschechows „Kirschgarten“ auch nicht in ein Luxussanatorium an der Zürcher Goldküste verlegen, um mir die Therapiebedürftigkeit der besseren Zürcher Gesellschaft vor Augen zu führen.
Überhaupt dieser ständige Verweis auf Zürich! Alles muss neuerdings Bezug auf Zürich nehmen, als ob es kein Allgemeines gäbe, das sich im Besonderen und kein Besonderes, das sich im Allgemeinen spiegelt. „Raus aus der vernagelten Kiste in der Stadtmitte. Das Schauspielhaus hat das Potential, eine Säule der Stadtkultur zu sein. Warum ist es das nicht? Seien wir ehrlich: Die Zeit des bürgerlichen Repräsentationsgestus hat sich überlebt. Stadttheater will neu definiert sein“, so schrieb die NZZ, als sie ihrer Leserschaft das neue Leitungsteam und dessen aus aller Welt zusammengetrommeltes Ensemble präsentierte.
Dass man damit der abtretenden Intendanz, ohne Namen zu nennen, formale Stagnation und fehlende gesellschaftspolitische Relevanz unterstellte, wurde ob der Euphorie angesichts all des Neuen geflissentlich übersehen. Dass die hochgemuten Verheissungen voreilig sein könnten, ebenfalls.
Gendersternchen in den Programmheften
Denn was ist denn schon so unglaublich neu an diesem neuen Theater für ein neues Zürich? Die Methode der Überschreibungen sowie die ubiquitäre Verwendung von Video-Projektionen sind es schon mal nicht. Aber vielleicht der weisse Teppich im umgestalteten Foyer, die Gendersternchen in den Programmheften, die Bildschirme mit wahlweise deutschen oder englischen Untertiteln oder am Ende gar die Hinweise in den Vorankündigungen der einzelnen Produktionen, die im Falle von Frischs „Holozän“ zum Beispiel so lauten: „100% Requiem, 5% Original-Text, 47,53% Digitale Demenz“.
Nein, das alles macht ein Theater nicht wirklich neu und auch nicht unbedingt relevant für die Stadt, in der es angesiedelt ist.
Neu und nachgerade originell wäre im Zeitalter von Dekonstruktion und Überschreibung vielmehr eine Inszenierung, die der Textvorlage folgt und die Intentionen des Autors, der Autorin ernst nimmt. Nein, ich träume nicht von ab Blatt gespielten Klassikeraufführungen in historischen Kostümen. Das ist zu Recht vorbei und braucht nicht wiederbelebt zu werden.
Wehmütige Erinnerungen
Aber ich erinnere mich voller Wehmut an Theaterabende in Zürich und anderswo, die den Nerv von uns Zuschauern trafen, ohne dass Orte, Zeiten und Rollen von WoyzeckGrund auf geändert, sprich aktualisiert worden waren. Es sind sehr weit zurückliegende Inszenierungen dabei wie zum Beispiel Giorgio Strehlers „King Lear“, aber auch Arbeiten der letzten 20 Jahre, wie etwa Christoph Marthalers „Kasimir und Karoline“, „Die Bakchen“ von Jossi Wieler, „Die Perser“ und „Richard III.“ von Stefan Pucher oder jener „Woyzeck“ von Robert Wilson, Tom Waits und Kathleen Brennan, der zwar auch „nach einem Stück von Georg Büchner“ konzipiert war, aber so, dass daraus etwas Neues hervorging, in dem das Alte aufgehoben war.
Aktualität und gesellschaftliche Relevanz ergeben sich nicht aus zeitgenössischer Überschreibung, Anschaulichkeit wird nicht durch Video-Projektionen garantiert, und Menschen kommen uns nicht dadurch näher, dass sie aus ihrem angestammten Kontext in unsere Lebenswelt hinübergeholt werden. Relevanz, Anschaulichkeit und Plausibilität der Charaktere sind in den Werken selbst angelegt. Sie gehen aus ihnen hervor. Sie machen ihre literarische Bedeutung aus. Ist dies nicht der Fall, sind sie es auch nicht wert, auf die Bühne gebracht zu werden.
Vordergründiges Heute
Solche Überlegungen ausser acht zu lassen, scheint mir – neben allerhand Profilierungssucht und Selbstüberschätzung – eines der fundamentalen Missverständnisse des heutigen Theaterbetriebs zu sein. Ein Theater für Zürich braucht nicht Zürich im Namen zu tragen, um für Zürich relevant zu sein. Ein Theater für unsere Zeit muss nicht in einem vordergründigen Heute angesiedelt sein, damit es uns Heutige berührt. Aischylos und Shakespeare, Tschechow und Ibsen lebten nicht anders als Flaubert, Jane Austen oder Dostojewski an fremden Orten in einer anderen Zeit. In ihrem Innersten aber sind sie uns Zeitgenossen geblieben. Wir läsen sie nicht, wenn es anders wäre. Warum ist von diesem Vertrauen in den unzerstörbaren Kern von Literatur auf dem Theater so wenig zu spüren?