Glossar
In Libyen gibt es zwei Regierungen, die sich feindlich gegenüberstehen:
- Die Regierung in der Hauptstadt Tripolis. Sie nennt sich „Regierung der Nationalen Versöhnung“ (Government of National Accord, GNA). Präsident ist Fayez al-Sarraj.
- Die Regierung in Tobruk wird von General Khalifa Haftar und seiner „Nationalen Libyschen Armee“ (National Liberation Army, NLA) unterstützt.
- Die 13. Brigade von Misrata (Misrata-Miliz). Sie untersteht theoretisch dem Verteidigungsministerium der Tripolis-Regierung GNA, führt aber ein Eigenleben. Verteidiungsminister ist al-Mahdi al-Barghati.
- „Verteidigungsbrigaden von Bengasi“. Eine islamistische, als terroristisch eingestufte Miliz. Kämpft gegen beide Regierungen.
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Im Süden Libyens ist eine Luftwaffenbasis, die sich in der Hand der sogenannten „Nationalen Libyschen Armee“ von General Khalifa Haftar (NLA) befand, überfallen worden. Die Basis heisst Brak al-Shati.
Der Überfall soll 141 Menschenleben gekostet haben. Nach der Darstellung des Sprechers der NLA waren die Soldaten der Basis unbewaffnet. Sie waren gerade von einer Parade in Tobruk zurückgeflogen. Die meisten der Opfer seien durch Kopfschuss getötet worden, anderen habe man die Kehle durchschnitten. Videos zeigen, wie uniformierte Verwundete mit Gnadenschüssen getötet werden.
Empörung bei Regierung und Gegenregierung
Sowohl die Regierung von Tobruk, die mit Haftar zusammenarbeitet, wie auch die Regierung der Nationalen Versöhnung (Government of National Accord, GNA) von Fayez al-Sarraj in Tripolis sprechen von einem Massaker. Als verantwortlich gilt neben anderen Milizen die 13. Brigade von Misrata. Diese untersteht theoretisch al-Mahdi al-Barghati, dem Verteidigungsminister der Tripolis-Regierung al-Sarrajs. Doch ist unklar, ob al-Barghati die Miliz dominiert oder die Miliz al-Barghati.
Fayez al-Sarraj hat al-Barghati suspendiert und eine Untersuchung angeordnet, inwieweit er für den Überfall und das Massaker verantwortlich ist. Der Verteidigungsminister selbst erklärt, er habe der 13. Brigade keinen Angriffsbefehl auf die Luftwaffenbasis erteilt.
General Haftar liess verlauten, seine Armee werde die verlorene Basis mit drei Brigaden zurückerobern. Am Sonntag erklärten die Sprecher Haftars, Brak al-Shati befinde sich bereits wieder in den Händen der LNA. Die Angreifer seien geflohen.
Islamistische Angreifer
Die Sprecher Haftars erklärten auch, sie seien überzeugt, dass der Angriff und das Massaker von al-Kaida-Milizen verübt worden sei. Diese stünden im Krieg mit al-Kaida. Dies dürfte eine stark vereinfachte Aussage sein, bestimmt vor allem fürs Ausland. Sicher stimmt zwar wohl, dass die angreifenden Milizen Kräfte waren, die den Islamisten nahestehen. Zu ihnen gehören die „Verteidigungsbrigaden von Bengasi“. Sie hatten im März einen Versuch unternommen, die Erdölhäfen an der Sirte unter ihre Kontrolle zu bringen. Diese Häfen waren von Haftar und „seiner“ Tobruk-Regierung beherrscht und betrieben worden. Doch den Haftar-Truppen gelang es, die Angreifer zurückzuschlagen und in die Wüste zu vertreiben. Dort haben sie ein permanentes Rückzugsgebiet, wo sie sich möglicherweise auch mit anderen islamistischen Milizen oder mit Stammesgruppen verständigen.
Bei dem Überfall auf die Luftwaffenbasis Brak al-Shati dürften sie Unterstützung der erwähnten 13. Brigade aus Misrata genossen haben. Auch wenn diese theoretisch dem Verteidigungsministerium in Tripolis untersteht, betreibt sie im Innern des Wüstenlandes ihre eigene Politik.
Auch Martin Kobler, der Uno-Gesandte, und die Arabische Liga sowie Sprecher der westlichen Mächte haben das Massaker verurteilt. Es ist das erste Mal seit fünf Monaten, dass libysche Milizen derartig gewalttätig aufeinander losgehen. Das letzte Mal geschah dies im Dezember 2016. Damals hatten in der Stadt Sirte Misrata-Milizen mit amerikanischer Luftunterstützung Kämpfer des „Islamischen Staats“ (IS) in die Flucht geschlagen.
Al-Sarraj und Haftar verhandelten
Der Überfall auf die Luftwaffenbasis Brak al-Shati und die Truppen der Haftar-Armee (LNA) hat einen politischen Hintergrund. General Haftar und Präsident al-Sarraj ringen beide in Libyen um die Macht und stehen sich unversöhnlich gegenüber.
Anfang Mai hatten sie sich überraschend in Abu Dhabi, der Hauptstadt der Arabischen Emirate, getroffen und miteinander verhandelt. Sarraj, dessen Regierung in Tripolis stark geschwächt ist, zeigte sich gegenüber Haftar zu Konzessionen bereit. Sarraj war bereit, Haftar als Oberkommandierenden der künftigen Libyschen Streitkräfte zu akzeptieren. Doch Haftar forderte mehr.
Politische Führungsrolle für Haftar?
Er schlug vor, dass anstelle der heutigen neun Mitglieder zählenden Tripolis-Regierung ein dreiköpfiges Gremium treten soll: bestehend aus ihm selbst, Präsident al-Sarraj und Ageela Saleh, dem Parlamentspräsidenten der Versammlung von Tobruk. Dieser steht Haftar nahe. Neben der militärischen will er also auch eine politische Führungsrolle erhalten.
Beide waren sich einig, dass Wahlen so schnell wie möglich durchgeführt werden sollten. Doch die Verhandlungen kamen zu keinem Abschluss. Beide Seiten einigten sich, die Kämpfe, die sich damals in der Nähe von Sabha, der Hauptstadt des Fezzan, abspielten einzustellen. Bei diesen Auseinandersetzungen ging es um die Luftwaffenbasis Teminhint. Sie befand sich in den Händen der Tripolis-Milizen und war von Pro-Haftar Kämpfern angegriffen worden.
Die Verhandlungen zwischen al-Sarraj und Haftar, so hiess es in Abu Dhabi, würden demnächst, vielleicht in Kairo, wieder aufgenommen.
Kampf gegen alle Islamisten?
Welche politische Rolle soll Haftar künftig spielen? Neben dieser Frage trat ein weiterer Streitpunkt zutage: Haftar, als erklärter Feind aller Islamisten, will sie alle, gleich welcher Couleur, eliminieren. Al-Sarraj hingegen, der sich neben anderen auch auf pro-islamistische Milizen aus Misrata abstützt, will einen Unterschied machen zwischen „radikalen“ und „gemässigten“ Islamisten. Einzig die radikalen will er bekämpfen.
Dieser Gegensatz war schwer überbrückbar, weil in Tripolitanien (der westliche Teil Libyens) die „gemässigten“ islamistischen Milizen sowohl in der Hauptstadt wie auch in Misrata eine wichtige Rolle spielen und zu den unumgänglichen Stützen der Tripolis-Regierung al-Sarrajs gehören. Würde al-Sarraj dem Begehren Haftars nachgeben und alle islamistischen Gruppen bekämpfen, stünde er Haftar und seinen Truppen nackt gegenüber.
Kompromiss zu Lasten der Islamisten
Der Überfall in Brak al-Shati ist eine Folge des sich abzeichnenden Tauwetters zwischen al-Sarraj und Haftar.
Die Täter waren Kämpfer pro-islamistischer Milizen. Sie müssen befürchten, dass, wenn es zu einem Kompromiss zwischen Haftar und al-Sarraj käme, sie davon ausgeschlossen wären – oder schlimmer für sie: dass sie künftig von beiden Seiten bekämpft würden.
Der Zweck des Überfalls und des Massakers war ohne Zweifel, den sich abzeichnenden Kompromiss zwischen Haftar und al-Sarraj, der zu Lasten aller Islamisten zustande zu kommen droht, zu untergraben und zu bewirken, dass der Krieg zwischen Tobruk und Tripolis neu aufflammt.