Als in der Frühe Eos erschien mit rosigen Fingern,
da erhob sich vom Lager der liebe Sohn des Odysseus,
zog sich an und hängte das scharfe Schwert um die Schulter,
band sich unter die schimmernden Füsse die schönen Sandalen
und trat aus der Kammer, das Antlitz gleich einem Gotte.
Nein, ich will nicht über das Coronavirus schreiben, auch wenn es mich ein bisschen zuckt in meinen tastensuchenden Händen, habe ich doch während Jahrzehnten Vorlesungen über die mathematische Modellierung von Umweltsystemen gehalten. Was gibt es Schöneres für einen Modellierer als ein System mit exponentiellem Wachstum? – Ich weiss, das Wort „schön“ wirkt hier zynisch, ja geradezu blasphemisch. Aber so sind halt die Naturwissenschaftler: Ein Schimmelpilzforscher findet die Ausbreitung einer Kolonie in einem schlecht verschlossenen Konfitürenglas auch schön.
Doch vom Virus sind die Zeitungen ohnehin voll. Also besinne ich mich auf das, was an dieser Stelle meine Rolle ist, nämlich von unterwegs zu berichten. Nur: was geschieht mit dem passionierten „Strieli“, wenn er als Risikogruppenmitglied auf das Herumstrolchen verzichten muss? – Über den Rückzug in die Welt der Bücher und das Reich der Geschichtenerzähler habe ich schon erzählt. In diesem Zusammenhang darf ich nachtragen, dass meine Frau und ich unterdessen nach Griechenland aufgebrochen sind, wo wir als erstes Zeugen einer ausserordentlichen Zusammenkunft der olympischen Götter wurden, an der Athene, die kluge Tochter von Zeus, den Antrag stellte, die Götter mögen nun endlich den tapferen Odysseus nach Hause zurückkehren lassen.
Dann, als ob wir auf Hermes’ Sohlen über den Himmel eilten, erlebten wir einen abrupten Szenenwechsel vom Olymp an den Hof von Odysseus und seiner dort ausharrenden Gattin Penelopeia. Dreiste Freier, von Odysseus’ Tod überzeugt, haben sich im Palast eingenistet und verprassen Hab und Gut des Königs. Telemachos, der einzige Sohn des Odysseus, der seinen Vater seit bald zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hat, versucht vergeblich, der ungezügelten Horde von Männern, welche um Penelopeia buhlen, Einhalt zu bieten. Kaum hat er die einen in ihre Schranken gewiesen, tauchen andere auf und bedrängen die Mutter von neuem.
Da tritt Athene in der Gestalt von Mentor auf, einem alten Freund von Odysseus, und fordert Telemachos auf, nach Pylos zu Nestor und danach nach Sparta zu Menelaos zu fahren, um Kunde zu holen über den Verbleib des Vaters. Telemachos wird überall festlich empfangen, hört von den Ruhmestaten seines Vaters, doch niemand kann ihm sagen, ob dieser noch lebt. So entschliesst er sich, unverrichteter Dinge nach Ithaka zurückzusegeln. Doch von dort droht ihm Unheil, haben doch unterdessen die Freier am Hofe seines Vaters beschlossen, Telemachos auf seiner Rückfahrt aufzulauern und ihn zu töten.
Soweit der Anfang der Odyssee, wo die Geschichte von der Irrfahrt des Odysseus sozusagen von ihrem Ende her aufgerollt wird. Wer nun meint, die Technik der permanenten Spannungsproduktion durch raffinierte Vor- und Rückblenden sei von den Autoren von Kriminalromanen oder Soap Operas erfunden worden, der irrt. Homer war ein Meister in Sachen „Suspense“ und würde wohl heute viel Geld in der Unterhaltungsbranche verdienen. Während Leserin und Leser am Schluss des vierten Gesangs der Odyssee um das Schicksal von Telemachos bangen, „zoomt“ die Kamera in die felsige Grotte der Nymphe Kalypso, der liebestollen, welche Odysseus heiraten will und ihn seit vielen Jahren auf ihrer Insel festhält. Doch das Schicksal von Telemachos auf der Rückfahrt nach Ithaka wird noch bis zum fünfzehnten Gesang, das heisst über viele Tausend Verse, in der Schwebe bleiben.
„Schluss für heute“, sagt meine Frau und klappt das dicke Buch zu, „es gibt noch anderes als Stubenhocken.“ Tatsächlich, abgesehen von den frühen Spaziergängen entlang des Sees, wenn noch kaum jemand unterwegs ist, welcher die Alten über das Nichtbefolgen der bundesrätlichen Empfehlungen rügen könnte, treibt es uns vermehrt in den Garten.
Ich gebe es zu, dort war ich bisher, meiner beschränkten botanischen Kenntnisse wegen, nur als Mann für das Grobe nützlich gewesen, als Rasen-Mäher, Dornbusch-Schneider und Laub-Recher. Vielleicht wäre es nun an der Zeit, meint meine Frau, etwas dazuzulernen, sie hätte da ein kleines Problem, welches sich durchaus mit der Aufgabe des Telemachos bei der Bändigung der Freier seiner Mutter vergleichen liesse. Es gehe um eine Pflanze, die – wie Penelopeias Freier – nicht auszurotten sei; kaum sei sie an einer Stelle vertrieben, tauche sie an anderer wieder auf. Und zudem habe sie einen aus dem Griechischen stammenden Namen. Ihrer ziegenfüssigen Blätter wegen laute ihr Gattungsnamen Aegopodium (aigopodes, altgriechisch ziegenfüssig). Weil sie zudem seit Jahrhunderten für die Behandlung von Rheumatismus und Gicht gedient habe, hätte sie den Zunamen podagraria (podagra, lateinisch Gicht) erhalten: Aegopodium podagraria, zu deutsch Giersch, in der Schweiz vielerorts Baumtropf genannt.
Also beschliesse ich denn, wie es sich für einen Wissenschaftler gehört, mir vor dem physischen Kraftakt im Garten mittels Literaturstudium ein Bild über meinen Widersacher zu machen, der sich, wie meine Frau sagt, seit Jahren hartnäckig in unseren Blumenbeeten festgesetzt hat und sich raffiniert zwischen den Wurzeln der Schwertlinien, der Pfingstrosen, des Mohns und vieler anderer Pflanzen versteckt, so dass ihm mit roher Gewalt nur bedingt beizukommen ist. Doch die Faktenlage ist verwirrend; sie scheint, fast wie die Frage der gesundheitlichen Schäden der Handystrahlung, die Menschheit in zwei unversöhnliche Lager zu spalten:
Für das eine Lager ist das Zipperleinskraut (ein anderer Name des Giersch, der für sich selbst spricht) eine wichtige, blutreinigende und krampflösende Heilpflanze gegen Rheuma und Arthritis, welche auch als Salat und Gemüse zubereitet werden kann. Während der Weltkriege hätte der rohe Giersch, welcher geschmacklich an Petersilie erinnere, vielen Menschen die nötige Vitaminzufuhr garantiert. – Für das andere Lager, wozu die meisten professionellen Gärtner gehören, ist der Giersch ein lästiges Unkraut, dem kaum beizukommen sei, es sei denn, man tausche die Erde bis in eine Tiefe von einem halben Meter aus (so tief reichen seine weitverzweigten unterirdischen Triebe). Auch chemisch sei der Giersch nicht zu bändigen. „Im Kampf gegen den Giersch zeigt sich die Vergeblichkeit des menschlichen Tuns“, schrieb einst Susanne Wiborg in „Die Zeit“.
Was nun? – Sollen wir den Baumtropf den Gladiolen und Pfingstrosen zulieb tatsächlich bekämpfen oder wäre es nicht besser, ihn als Vitaminspender für noch schlechtere Zeiten zu hegen und zu pflegen? – „Weder noch, sondern mit ihm kontrolliert leben“, sagt meine Frau. Das ist eine klare Vorgabe.
Bevor ich selber zu Hacke und Spaten greife, schaue ich mir auf dem Internet all die vielen Informationen an, welche Erfolg gegen den Baumtropf versprechen. Auch zahllose Youtube-Filme gibt es, in denen man emsige Leute tief in Beeten wühlen sieht, ebenso fleissige Hände, welche meterlange Triebe aus dem Boden ziehen und in der Erde nach einzelnen Wurzelstücken suchen. Schliesslich lässt sich auch für einen Theoretiker die Erkenntnis nicht länger verdrängen: Den Baumtropf bekämpft man weder mit Aktenstudium noch mit Differentialgleichungen, sondern nur mit physischen Taten, wie Sisyphos wissend, dass das, was man heute tut, morgen wieder von neuem beginnt.
Ich will Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, die weitere Schilderung unserer Arbeit ersparen. Wir sind ein gut eingespieltes Paar: ich für das Grobe, meine Frau für das Feine, bei dem man einen Baumtropf von einer Akelei unterscheiden können muss. – Wie die Zeit vergeht. Beim Arbeiten denke ich an Telemachos, den Geduldigen, an „die Vergeblichkeit des menschlichen Tuns“ und an all die andern Probleme, gegen die kein Kraftakt, kein Bagger und auch keine mathematische Formel hilft und die sich nicht wie ein gordischer Knoten durchschlagen lassen. Geduld, Bescheidenheit, ja Demut – ich wage dieses aus der Mode gekommene Wort zu gebrauchen – kommen mir in den Sinn, und auch ein kleines Virus mit zart-durchsichtiger Krone.
Übrigens: Unsere Beete waren noch nie so schön wie jetzt. Man darf nur nicht an das im Untergrund Verborgene denken.