Die rechtspopulistische Regierungschefin versucht, das öffentlich-rechtliche Fernsehen Rai unter ihre Fittiche zu nehmen. Der Versuch verläuft harzig. Dem Sender laufen die Stars davon. Und das Publikum. Erstmals verzeichnen die privaten Mediaset-Kanäle mehr Zuschauer und Zuschauerinnen als die Rai.
Piombino im Jahr 1984, abends. Ein Städtchen am Tyrrhenischen Meer. Von hier aus fahren Fähren auf die Insel Elba. Es ist 19.30 Uhr. In der Fussgängerzone im historischen Zentrum tummeln sich Tausende Leute: herausgeputzte Mädchen, flirtende junge Männer, Mütter zeigen ihre Babys. Man grüsst sich, ein abendlicher Schwatz, Stimmengewirr, man geht auf und ab, ab und auf.
Plötzlich um 19.55 Uhr hört man das laute Gerassel der eisernen Rollläden: Die Geschäfte schliessen. Und plötzlich, mit einem Schlag, ist kein Mensch mehr auf der Strasse.
Und dann um punkt 20.00 Uhr tönt aus fast allen offenen Fenstern das Signet der Rai-Tagesschau. Fast jeder Italiener, fast jede Italienerin sassen damals – meist beim Abendessen – vor dem Fernseher. Auch in Italien nannte man das «das Lagerfeuer der Nation». Piombino gab es damals überall in Italien.
Wie Fiat, wie Vespa
Die Rai – das war mehr als eine Fernsehstation: Das war ein Stück Italien, wie Fiat, Alfa Romeo oder die Vespa. Italiener und Italienerinnen identifizierten sich mit ihrem Fernsehen und hatten eine fast schon emotionale Bindung zum Sender.
Der Rai ist auch zuzuschreiben, dass man in ganz Italien Italienisch spricht. Bis in die Fünfzigerjahre wurden in Italien vor allem Dialekte gesprochen. Nord- und Süditaliener verstanden sich nicht immer. Dann kam die Rai mit ihrem im Norden gesprochenen «Hochitalienisch» und brachte eine Uniformierung der Sprache.
Und jetzt also wurde die einst stolze RAI von den privaten Mediaset-Kanälen überholt. Diese, zum Beispiel «Canale 5» oder «Italia 1», waren einst von Silvio Berlusconi gegründet worden.
Halbnackte Frauen, unsägliches Geplauder, Schlauchboot-Lippen
Zugegeben: Die RAI hatte in den letzten Jahren viel von ihrem Glanz verloren. Die Konkurrenz der seichten Berlusconi-Programme mit ihren halbnackten Frauen und ihrem unsäglichen Geplauder infizierte auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen.
Auch handwerklich verlor der Sender an Format. Man würde nicht glauben, dass Italien das Land grosser Filmregisseure ist. Da werden irgendwelche Bilder zusammengeschnitten und bestückt mit irgendwelchen Kommentaren, die nicht zu den Bildern passen. Und auch in der Rai schafft es kaum eine Moderatorin auf den Bildschirm, wenn sie nicht aufgeblasene Schlauchboot-Lippen vorweisen kann.
Und natürlich mischte sich schnell die Politik ein. Der Druck von rechten Parteien auf die Programme wurde immer grösser. Wie in anderen Ländern wird den Informationssendungen «Linkslastigkeit» vorgeworfen, obwohl die Rai-Tagesschauen (TG1,TG2, TG3) bemüht sind, eine umfassende, ausgewogene, faire Berichterstattung zu präsentieren. Wer die Rai-Tagesschau kennt und sie als «links» bezeichnet, muss auf einem anderen Stern zuhause sein.
«Wir wollen nicht das Megafon der Regierungsparteien sein»
Ein verantwortlicher Redaktor der Rai erklärt uns: «Wie in anderen Ländern wollen rechtsgerichtete Kreise das öffentlich-rechtliche Fernsehen kaputtmachen, um dann selbst mit ihren privaten Kanälen Einfluss zu gewinnen.»
In vielen Ländern ist es bei Regierungswechseln üblich, dass die neue Regierung versucht, Einfluss auf die Medien zu gewinnen. Das Personal vor allem des einflussreichen Fernsehens wird auswechselt. So ist es nicht erstaunlich, dass dies auch Meloni tut. Und sie tat es ausführlich. Dutzende Verantwortliche der Informationsabteilung mussten gehen. Auch in der Programmabteilung gab es viele Umschichtungen.
Doch innerhalb der Rai mit ihren täglich über 20 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern regt sich jetzt heftiger Widerstand. «Wir wollen nicht das Sprachrohr der Regierungsparteien sein», erklären Rai-Journalisten. Sie betonen, dass seit der Übernahme der Rai durch die Meloni-Loyalisten die Einschaltquoten massiv sinken.
Psychologisch wichtig
Am Mittwoch dieser Woche gestand nun der Rai-Vorstand ein, dass Mediaset zum ersten Mal die Rai überholt hat. An der Verwaltungsratssitzung in Rom wurde mitgeteilt, dass die Rai im Jahr 2023 (dem ersten Jahr mit Meloni an der Macht) einen Zuschaueranteil von 37 Prozent aufweist (das heisst: Von 100 eingeschalteten TV-Geräten strahlen 37 ein Rai-Programm aus).
Mediaset kam in diesen zwölf Monaten auf einen Anteil (Quote) von 37,7 Prozent. Das ist zwar wenig mehr, aber psychologisch wichtig. Zum ersten Mal schlagen die Privaten das öffentlich-rechtliche italienische Fernsehen. Ein Trost ist, dass in der Hauptsendezeit die Rai noch immer vorne liegt.
«Diese Rai ist nicht mehr meine Rai»
Diese Woche nun erlebte die Rai einen weiteren schweren Schlag. Einer der populärsten Rai-Moderatoren, Amadeus (Amedeo Umberto Rita), gab bekannt, dass er den Sender verlassen werde und bei Warner Bros. «Discovery-Channel» angeheuert hat. Amadeus erklärte: «Die jetzige Rai ist nicht mehr meine Rai.» Amadeus, der auch des Sanremo-Festival leitete und moderierte, ist einer der bekanntesten italienischen Fernsehstars. Bei Discovery hat er einen Vierjahresvertrag und wird Mitglied der Geschäftsleitung. Es gab keine Zeitung in Italien, die seinen Abgang nicht mit riesigen Lettern kommunizierte.
Er ist nicht der einzige, der geht. Dutzende beklagten, dass ihnen jetzt vorgeschrieben werde, wer im Programm auftauchen soll und wer interviewt werden muss. Zu den Abtrünnigen gehört der mehrfach ausgezeichnete Moderator Fabio Fazio, der auf Rai 3 die Sendung «Vieni via con me» mit Roberto Saviano moderierte. Das Format erreichte die höchste auf Rai 3 je erreichte Einschaltquote.
Auch Bianca Berlinguer, einst ein Aushängeschild der Rai, kann sich nicht mehr mit «Tele Meloni» identifizieren und wechselte zum Sender «Rete 4». Und Luciana Littizzetto, TV-Moderatorin, Komikerin und teilweise Wetterfee, überwarf sich nach 40 Jahren mit der Rai und ist jetzt im Discovery-Channel zu sehen.
Ideologie statt Professionalität
Ein schwerer Verlust für die Rai ist auch der Abgang des populären Journalisten, Buchautors und TV-Moderators Corrado Augias. Für die Römer Zeitung La Repubblica ist er noch heute zuständig für die Leserbriefseite. Augias, Mitglied der Partei «Democratici di Sinistra» hat nun eine Sendung auf dem Kanal «La7».
Der Abgang prominenter und professioneller Journalisten und Moderatoren hat Folgen: Viele Sendungen machen schlapp. Es fehlt mehr und mehr an Professionalität. Dafür spielt die Ideologie nun eine immer grössere Rolle. Und jetzt drohen die Verbliebenen sogar mit einem Streik. «Es zahlt sich eben nicht aus», sagt uns ein Rai-Journalist, «wenn sich die Politik in die Medien einmischt, weder in die Presse, noch in Radio und Fernsehen.»
Der Rechtsrutsch der Rai wird auch im Ausland zur Kenntnis genommen. Der britische Guardian schreibt lapidar: «Meloni macht italienischen Sender zu Megafon der extremen Rechten.»