Etwa 80’000 Israelis müssen und werden in ihre Häuser im Norden des Landes an der libanesischen Grenze zurückkehren. Vorher muss sich aber der Hizbullah 30 bis 40 Kilometer zurückziehen. Das fordert nicht nur die israelische Regierung, sondern auch die UN-Resolution 701. Für den Hizbullah jedoch ist ein solcher Rückzug «eine Wahnvorstellung in den Köpfen der Zionisten».
Bleibt es dabei, wird ein offener Krieg zwischen Israel und dem Hizbullah unvermeidlich sein. Wo werden dann die Teheraner Machthaber stehen?
Das Treffen soll vor fast einem Monat stattgefunden haben – doch es gibt weder eine Bestätigung noch eine Erklärung dazu. Fakten, Zeugen oder Hinweise gibt es auch nicht. Wir können deshalb nicht sagen, an welchem Tag und wo genau es stattgefunden oder wer daran teilgenommen hat.
Für einen Journalisten ist eine solche schwammige Information ein «Nicht-Thema», dünn und inhaltsleer. Die Nachrichtenagentur Reuters gilt unter Journalisten und Journalistinnen gemeinhin als seriös, mit wenigen Fauxpas. Am vergangenen Montag konnte man unter einem Text der Agentur die Namen von gleich zehn Journalisten lesen, die für die Meldung über dieses mysteriöse Treffen verantwortlich zeichnen. Die Reporter sitzen in Dubai, Bagdad, Beirut, Jerusalem und Washington, tragen persische, arabische, hebräische, englische und zum Teil sehr renommierte Namen. Die Überschrift ihrer Meldung klingt sensationell und wirkt wie eine beruhigende Botschaft zum jetzigen Gaza-Krieg sowie auch für das, was danach im Nahen Osten passieren kann, passieren wird: Der Hizbullah werde ohne den Iran gegen Israel kämpfen.
Und tags darauf melden fast alle arabischen Medien, Iran wolle sich aus einem möglichen Krieg zwischen dem Hizbullah und Israel heraushalten – das liest sich zwar anders, faktisch läuft es aber auf dasselbe hinaus.
Der Tipp aus Teheran
Grundlage dieser Meldung, die viele in Tel Aviv, Washington und anderen Hauptstädten der Welt aufatmen lässt, ist ein Tipp aus dem Iran, der dem Reuters-Büro in Dubai zugesteckt wurde. Demnach hätten drei mächtige Quellen aus Teheran bestätigt, dass Ismael Qaani, der Kommandant der Quds-Brigaden der iranischen Revolutionsgarde, und der Hizbullah-Chef Hassan Nasrallah sich im Februar in Beirut getroffen hätten. Dies sei ihr drittes Treffen nach dem 7. Oktober gewesen. Und bei der letzten Zusammenkunft habe Nasrallah Qaani gesagt, er wolle nicht, dass der Iran in einen Krieg mit Israel oder den USA verwickelt werde. Vier weitere, ebenso mächtige wie gut informierte Quellen an vier verschiedenen Orten der Welt hätten das Treffen der beiden «Gotteskrieger» bestätigt.
Mustergültig, wie sich ein zunächst vordergründiges «Nicht-Thema» zu einer vielsagenden, sensationellen Nachricht entwickelt. Doch genauso wichtig, ja vielleicht noch wichtiger als der Inhalt ist der Umstand, wie diese Enthüllung das Licht der Welt erblickte.
Warum sehen sich die «Mächtigen» in Teheran genötigt, dem Reuters-Büro in Dubai und damit der Welt mitzuteilen, dass sie sich aus einem möglichen Waffengang zwischen Israel und dem Hizbullah fernhalten wollen? Wollen sie das tatsächlich? Wenn ja, dann bedeutet dies nichts weniger als eine vollkommene Zeitenwende, beschlossen und verkündet über die Agentur Reuters von der Spitze der Teheraner Macht.
Das erfolgreiche Lieblingskind
Eine Wende deshalb, weil der Hizbullah nicht irgendein Stellvertreterkrieger unter vielen ist. «Die Partei Gottes» – wie die Miliz wortwörtlich heisst – ist ein Lieblingskind der Teheraner Macht, inzwischen fast 45 Jahre alt, so alt wie die islamische Republik selbst.
Kurz nach ihrer Machtergreifung schuf diese Republik diesen Spross für ihren Revolutionsexport. Selbst den Namen des Ablegers entlehnte sie der eigenen islamischen Revolution. Und das Kind hat mittlerweile eine erfolgreiche Karriere hinter sich. Mit dem Hizbullah erreichten die iranischen Machthaber viel. Sie veränderten den Libanon, schufen ein ernstes Drohpotential gegen Israel und sicherten mit ihrer aufopferungsvollen Hilfe Assads Macht in Syrien. Um nur das Wichtigste aufzuzählen. Über die gemeinsamen Aktionen, die sie in den letzten vier Dekaden rund um den Globus geplant und in die Tat umgesetzt haben, liessen sich unzählige Seiten füllen. Die Tatorte befinden sich nicht nur im Libanon und den übrigen Ländern des Nahen Ostens. Die Spuren ihrer «Joint Ventures» reichen von Berlin bis Buenos Aires und von Paris bis Tokio.
Aufgewacht in einer neuen Zeit
All das geschah aber in einer anderen Welt, diese vergangenen vier Dekaden sind nach dem 7. Oktober 2023 tatsächlich vergangen, gehören der Geschichte an. An diesem Tag sind auch die Mächtigen in Teheran in einer neuen Welt aufgewacht. Sie müssen neue Koordinaten für ihre Regionalpolitik entwerfen.
Wie sehen sie nun die Zukunft, wovor fürchten sie sich? Wie ohnmächtig müssen sie sich fühlen, dass sie sich beim Reuters-Büro in Dubai melden müssen? Sie ahnen, ja sie rechnen offenbar fest damit, dass noch viel mehr unterwegs ist, Schlimmeres als das Furchtbare, was momentan in Gaza passiert, etwas, das die «Mächtigen» in Teheran zu machtlosen Zuschauern degradiert.
Tacheles aus Israel
Zufall oder nicht, einen Tag nach der Reuters-Meldung sagte der israelische Aussenminister Israel Katz der Zeitung «Yedioth Ahronoth», die Möglichkeit, dass es zu einem Krieg mit dem Hizbullah komme, bestehe mehr denn je. Und wenn es dazu käme, werde dieses Mal – anders als 2006 – der ganze Libanon die Folgen tragen müssen.
Der Hizbullah müsse sich gemäss der UNO-Resolution 701 bis zum Litani-Fluss zurückziehen, also etwa vierzig Kilometer von der israelischen Grenze entfernen. Die fast 80’000 evakuierten Israelis, die an der Grenze zum Libanon wohnen, würden erst dann in ihre Dörfer zurückkehren, so der Minister. Und er fügte hinzu, die Evakuierten müssten, sie würden zurückkehren.
Denkt der Hizbullah tatsächlich an einen solchen Rückzug oder rechnet auch er mit einem grossen Krieg? Scharmützel gibt es derzeit täglich, und sie werden kontinuierlich heftiger.
Der Hizbullah demonstriert Unbeugsamkeit
Am ersten Freitag des Fastenmonats Ramadan, also zwei Tage nach Katz‘ Interview, trat im Südlibanon Scheich Hashem Safi Al Din, der zweitmächtigste Mann des Hizbullah, als Freitagsprediger auf und machte klar, wohin die Reise geht. «Es ist eine Illusion, eine Wahnvorstellung, wenn die Zionisten denken, der Widerstand ziehe sich zurück.» Der einzige Weg der Geflüchteten sei: «Sie bleiben auf der Flucht.»
Ob Predigt, Propaganda oder Politik, werden wir in nicht allzu langer Zeit erfahren. An der Entschiedenheit Israels, seine evakuierten Bürger und Bürgerinnen zurückzubringen, kann und darf man momentan allerdings nicht zweifeln.
Die Mächtigen in Teheran ahnen, dass eine noch unruhigere Zeit bevorsteht. Was werden sie dann tun? Der schiitische Hizbullah, den sie selbst einst gründeten und der inzwischen zu einer hochgerüsteten und effektiven Miliz aufgestiegen ist und wie ein Quasistaat funktioniert, hat für die Islamische Republik einen völlig anderen Stellenwert als die sunnitische Hamas, die – aller Unterstützung zum Trotz – eine eigene Agenda verfolgt. Bereitet man sich in Teheran darauf vor, in einem offenen Krieg zwischen dem Hizbullah und Israel wie im Gaza-Krieg die Rolle des nörgelnden Zuschauers zu übernehmen?
Schwer zu sagen. Nur so viel: Vor drei Tagen las man auf der Webseite des staatlichen iranischen Rundfunks unter der Schlagzeile «Realismus und Idealismus» eine sehr interessante politisch-philosophische Analyse. Sie war an einheimische Revolutionäre und Revolutionärinnen gerichtet und legitimierte die Zuschauerrolle im gegenwärtigen und im künftigen Krieg in und um Palästina. Die Tatenlosigkeit gegenüber der Hamas heute und morgen höchstwahrscheinlich gegenüber dem Hizbullah bedeute nicht, dass man seine Ideale aufgegeben habe, hiess es in dieser langatmigen Argumentationshilfe für die Anhänger der Radikalen: Historisch bleibe man trotzdem Sieger.♦
Mit freundlicher Genehmigung von Iran Journal
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