Fast ein halbes Jahr ist seit dem Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine verflossen – und selbst jetzt noch flackern durch einige Medien Kommentare des Inhalts, eigentlich müssten die USA mit ihrer rücksichtslosen Interessens-Durchsetzung die Verantwortung für das Blutbad, die Tragödie in der Ukraine tragen.
Jüngstes Beispiel: der Beitrag von Stefan Baron in der «Weltwoche» unter dem Titel «Amerika missbraucht Europa». Kerninhalt: Washington hat seit Jahrzehnten die Nato-Erweiterung im östlichen Teil Europas vorangetrieben, hat Russland permanent provoziert, eigene Zusagen gebrochen, die monatelangen Proteste in Kiew gegen die Herrschaft Janukowitschs (Maidan-Bewegung) nicht nur manipuliert oder instrumentalisiert, sondern in der Ukraine, 2014, einen Putsch gegen eine legitime Regierung bewerkstelligt. Dass dann Russlands Präsident Putin mit der Annektion der Krim und der Unterstützung der Separatisten im östlichsten Teil des Donbass reagierte, war, gemäss dieser Lesart und Interpretation, wohl unvermeidlich. Auch dass Putin schliesslich die Entscheidung zum Krieg gegen die Ukraine fasste, scheint, folgt man dem Sinn und Geist des «Weltwoche»-Gast-Autors, zumindest logisch, wenn nicht sogar unvermeidbar.
Ich schlage einen Faktencheck zu zwei Themen vor: 1. USA und Nato-Erweiterung, 2. Putsch-Legende von 2014 in der Ukraine.
Zunächst zur Nato-Erweiterung: Ja, gewisse US-amerikanische Politiker (am prominentesten James Baker, seinerzeit Aussenminister) sagten während einer Verhandlung mit russischen Politikern, nach dem Fall der Berliner Mauer (1989), es gebe keinen Anlass für die Nato, sich «nach Osten» auszubreiten. Gemeint war damals nicht einmal jenes Gebiet, das wir jetzt als Mittel-Europa verstehen (Polen, Tschechien, Slowakei etc), sondern nur die DDR. Helmut Kohl bestätigte das – aber als es «um die Sache» ging, nämlich um das Schriftliche, brachte US-Präsident George Walker Bush so deutlich Vorbehalte vor, dass man sich darauf einigte, eine solche Zusage nirgendwo niederzuschreiben. Die noch für zwei Jahre existierende Sowjetunion (Michail Gorbatschow) akzeptierte das, und nach dem Zerfall der UdSSR (1991) brachte Russlands Präsident Jelzin keine Einwände vor. Weshalb, ist bis heute nicht geklärt, auch die gründlich arbeitende Historikerin Mary Elise Sarotte («Not one inch») konnte da kein Licht ins Dunkel bringen.
Was geschah in den Folgejahren? Die anfänglich noch auf Harmonie getrimmte Stimmung zwischen dem«„Westen» und Russland trübte sich aufgrund verschiedener Entwicklungen. In Washington gewannen konservative Think-Tanks, die den Sieg einer US-amerikanischen Ideologie (verklausuliert als «Ideal der Demokratie») nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der Sowjetunion feierten, immer mehr Anhänger. Die Idee, «man» habe ganz generell gesiegt, drang auch mehr und mehr zu den Beamten im State Department etc. durch, und es ist nicht abwegig zu spekulieren, dass bis kurz nach der Jahrtausendwende in Washington «Visionen» bis in die höheren Ebenen der Regierung durchgesickert waren des Inhalts, die USA könnten, zusammen mit den Nato-Partnern, Russlands Bedeutung so weit zurückstutzen, dass die Welt bald einmal «unipolar», also von den USA dominiert oder inspiriert, wäre.
Es blieb bei Gedankenspielen. Die Realität präsentierte sich, in groben Zügen, so:
In Ländern wie Polen, der Slowakei, im Baltikum etc. fühlten sich die Menschen (und die Regierungen) auch nach der Auflösung der Sowjetunion nicht sicher, sondern potentiell bedroht durch Russland. Die Mitgliedschaft in der Nato schien ihnen eine gewisse Garantie zu geben – also stellten sie entsprechende Anträge. Dass sie dabei durch die USA ermutigt wurden, ist das eine, aber das heisst nicht, dass die Vereinigten Staaten die Nato-Erweiterung selbst verfügt hätten. Anderseits unternahm die Nato respektive unternahmen die USA im Detail einiges, das die russische Führung, verständlich, als Affront empfinden musste. Der Aufbau von so genannten Abwehr-Raketensystemen in Polen und Rumänien war provozierend für die russische Regierung – sie wurde es umso mehr, als die USA erklärten, die dort stationierten Raketen würden sich keineswegs gegen Russland richten, sondern gegen Iran.
All das hinderte Russland nicht, eine Art von Normalität mit der Nato herzustellen. 1997 unterzeichneten beide Seiten die Nato-Russland-Grundakte, 2002 schufen sie gemeinsam den Nato-Russland-Rat, und die russische Führung (da war Putin schon seit drei Jahren Staatspräsident) bestätigte die Unverletzlichkeit der Grenzen, also auch jene der Ukraine. Und was die Pläne für die Erweiterung der Nato in den Raum direkt an Russland angrenzend, konkret die baltischen Staaten, betraf, meinte Putin (im Jahr 2001), man könne über dieses Thema nichts Schlüssiges sagen. Von lautstarkem oder protokollarisch festgehaltenem Protest keine Rede. 2004 wurden dann die drei baltischen Länder (plus Slowakei, Rumänien und Bulgarien) Mitglieder der Nato.
So viel zum Thema Erweiterung der Nato – und damit zur Ukraine.
Es trifft zu, dass die USA im Jahr 2008 (damals wurde Barack Obama zum Präsidenten gewählt) der Ukraine gerne den Status eines Mitglied-Kandidaten gegeben hätten – und es trifft anderseits auch zu, dass es in Westeuropa dazu Vorbehalte gab. Angela Merkel «bremste» am deutlichsten, allerdings weniger wegen Bedenken hinsichtlich einer Brüskierung Russlands, sondern vielmehr aufgrund der inneren Befindlichkeit der Ukraine. Konkret: Das rechtsstaatliche Gebilde schien fragil, Oligarchen hatten gewaltigen Einfluss auf die verschiedenen Regierungen, die Korruption reichte bis in die obersten Etagen des Staatsapparats hinauf.
Im Spätherbst 2013 begann die Protestwelle gegen den immer autokratischer herrschenden Präsidenten Janukowitsch, bis Anfang 2014 weitete sie sich in die so genannte Maidan-Revolte aus, d. h. in lang andauernde Massenproteste auf einem zentralen Platz von Kiew. Sie richteten sich nicht nur gegen Janukowitsch persönlich, sondern auch gegen dessen Vorhaben, die Wirtschaft der Ukraine eng an Russland anzubinden. Demgegenüber stand das Projekt, das Land der EU anzunähern. Die Spannungen und Gegensätze (hin zu Russland, hin zum Westen) eskalierten, ebenso eskalierte die Gewalt auf dem Maidan. Dass die US-Botschaft in Kiew die pro-westlichen Kräfte ermutigte, ist erwiesen – aber dass die USA einen Putsch bewerkstelligt hätten, ist zu fantastisch, um wahr zu sein. Das Wesentlichste war, dass Janukowitsch nicht nur erkennen musste, dass er den Rückhalt im Volk verloren hatte, sondern dass (Februar 2014) auch die Oligarchen sich von ihm absetzten. Die wichtigsten unter ihnen waren Rinat Achmetow und Dmitri Firtasch. Achmetow (Vermögen von 15 Milliarden Dollar, 300’000 Mitarbeitende hauptsächlich in der Schwerindustrie) kontrollierte im Parlament einen Block von 60 Abgeordneten; Firtasch (Vermögen «nur» eine Milliarde) von 30. Ohne diese Stimmen war Janukowitsch machtlos, er verliess schliesslich bei «Nacht und Nebel» die Ukraine fluchtartig, mit Reiseziel Russland. Mit Alexander Turtschinow wurde ein Übergangspräsident eingesetzt, dann gab es Wahlen – an deren Legitimität nirgendwo gezweifelt wurde.
In der «Weltwoche» aber liest man: «Bei den Maidan-Unruhen wurde die demokratisch gewählte, russlandfreundliche Regierung in Kiew gestürzt und mit US-Hilfe an ihrer Stelle eine russlandfeindliche installiert.» Und des Weiteren schreibt der Autor: «Der westliche Furor gegenüber Moskau zeigt: In der Ukraine geht es um mehr als nur um diese selbst. Um viel mehr. Washington will dort Russland endgültig besiegen.»
Das liest sich so, als hätte «der Westen» unter Anstiftung durch die USA den Krieg vom Zaun gebrochen …