Tár ist für mich der beste Film, den ich seit vielen Jahren gesehen habe. Er ist durch und durch durchkomponiert. Nichts ist Zufall. Bildgewaltig. Sprachgewaltig. Kurz: Ein Meisterwerk.
Es handelt sich um eine Wahnsinnsrolle, die von Kate Blanchett hervorragend interpretiert wird. Über ihre Erkenntnis und Erfahrung sagt sie: «Ich wurde von dieser Rolle völlig absorbiert. Ich hatte keinen Raum mehr für etwas anderes. Es hat mich aufgezehrt. Nicht nur die Aufgabe, die Rolle zu spielen. Auch die Fragen, die der Film aufwirft.»
Der Film beginnt mit zwei Frauen, die im Privatjet nach New York fliegen. Die eine schläft (Lydia Tár), die andere (Francesca Lentini) ist am Chatten. Jemand (Krista Talor) erkundigt sich, wie es Tár geht. Die Szene ist diffus gehalten, eine Ouvertüre.
Es folgt eine lange Danksagung an alle Mitwirkenden (und das sind sehr viele). Dann die erste Szene.
Eine selbstbewusste Frau
Sie zeigt Lydia Tár alleine und nervös. Ihre Assistentin (Francesca) erscheint von hinten und reicht Lydia eine Tablette und ein Glas Wasser. Hat sie Schmerzen? Im Off die Stimme von Adam Gopnik (spielt sich selbst. Er ist Gründer und Gastgeber des «The New Yorker Festival», das immer im Spätherbst in N. Y. stattfindet). Wir hören eine lange Aufzählung der Auszeichnungen, Preise, Einspielungen und Berufsstationen der Lydia Tár. Eine grossartige Erfolgsgeschichte.
Adam holt Lydia zu sich auf die Bühne. Zuerst wirkt Lydia etwas benommen, dann aber zeigt sich eine selbstbewusste Frau, die sich auf die Unterhaltung einlässt, ja, das Gespräch sogar zu führen beginnt. Sie lässt es sich nicht nehmen, vor grossem Publikum zu verraten, dass sie demnächst Mahlers Fünfte mit den Berliner Philharmonikern aufnehmen wird und damit als einzige Dirigentin alle neun Symphonien aufgenommen hätte. Gleichzeitig erwähnt sie ihr Buch «Tár on Tár». Gopniks Einladung zum Essen kann sie nicht annehmen, da sie am selben Tag noch eine Meisterklasse an der Juilliard School unterrichten wird.
Was wir nicht erfahren, ist ein Lebenslauf der Dirigentin. Gegen Ende des Films kehrt Lydia kurz in ihr Elternhaus zurück. Ein weisses, einfaches Haus mit kleinem Vorgarten auf Staten Island. Lydias Biografie entsteht aus Bildern und Musik. Im ganzen Film gibt es keine Rückblenden.
Der junge Mann und die grossen alten Komponisten
Der Unterricht an der Juilliard School läuft nicht so glatt und zuvorkommend ab, wie Lydia sich das gewöhnt ist. Der junge Mann, der sein Werk vorstellt, macht klar, dass er mit den «weissen, europäischen Männern, die wunderbare Musik komponierten» nichts zu tun haben will. Weder von Bach, noch Beethoven, noch Schubert, noch Mahler will er etwas erfahren.
Lydia versucht den Studierenden zu erklären, dass es in der Musik um Absicht und Emotionen gehe, die durch die Musik entstehen. Musik hätte ihre eigene Identität und sei mit den Biografien der Komponisten nicht gleichzusetzen. Der junge Komponist will davon nichts wissen. Es kommt zu einer unschönen Auseinandersetzung, die Tár bald abwürgt. Wie will einer komponieren, wenn er die alten Meister ignoriert? Niemand getraut sich, ihr zu widersprechen: Sie ist «der Maestro». Wenig später wird dieses autoritäre Auftreten Lydias einer ihrer Stolpersteine werden.
Was ist fair?
Obwohl das filmische Tempo kaum ausschweifende Gedanken zulässt, erinnere ich mich nach dieser Szene an meinen Vortrag, den ich im Rahmen eines mehrwöchigen Seminars an der University of California, Irvine, gehalten hatte. Das Seminar brachte «Scholars» aus der ganzen Welt zum Thema «Minority Discourse» zusammen. Ich forschte und sprach über Toni Morrisons Werk, das die brutale Vergangenheit der schwarzen Amerikaner in einer äusserst poetischen Sprache wiedergibt. «Mich berührt die literarische Aufarbeitung der afroamerikanischen Geschichte in Morrisons sublimer Sprache», erklärte ich. Ich merkte sofort, dass meine KollegInnen erstarrten. «Ergreifend, berührend» waren die Worte, die ich benutzt hatte, Worte, die es aber nicht mehr geben durfte.
Die Frage, die sich stellt: Was ist fair? Ist es fair, einen jungen Komponisten abzukanzeln? Ist es fair, wenn ein junger Komponist sich weigert, sich mit europäischer Musik auseinanderzusetzen? Ist es fair, Kunstwerken keine Chance zu lassen, weil eine Ideologie oder eine Kultur es nicht zulassen wollen? Die jungen Studierenden verhalten sich nicht fair, wie sich später herausstellt. Obwohl das Seminar in einem aufnahmefreien Umfeld abgehalten wurde, wurde ein Video aufgenommen, es wird verfälscht, zeigt übertrieben eine aggressive und übergriffige Dozentin. Das Video geht viral.
Tár hat mich vom ersten Take vereinnahmt und so ist es bis zum Ende geblieben, 158 Minuten lang. Auch Tage später noch kommen Bilder, Szenen, Gespräche und, natürlich, Mahler zu mir. Auch die Tragik, im Rampenlicht des Erfolgs, die Regeln wegzudrücken. Die Macht, die Tár hat, wendet sich gegen sie. Doch sie ist weder schuldig noch unschuldig. Was aber ist sie dann?
Tár – eine fiktive Gestalt, geschaffen von Regisseur Todd Field
Wenn die essentielle Frage ist: Was ist fair? und der Film diese Frage der erfolgreichen Künstlerin zuwirft, dann stellt sich sofort die Frage: Wer ist diese Lydia Tár?
Lydia Tár ist ein fikitive Gestalt, die vom Drehbuchautor und Regisseur Todd Field geschaffen wurde. Field hat, wie er später bekannte, die Rolle für Kate Blanchett geschrieben. Hätte sie die Rolle nicht angenommen, hätte er den Film nicht gemacht. Die Figur steht für Streben nach Perfektion, für einen Menschen, der durch seine Arbeit und seinen Erfolg mächtig geworden ist. Lydia Tár ist die erste weibliche Dirigentin der Berliner Philharmoniker.
Sie ist nicht ganz ohne Hilfe zu dieser Ehre gekommen – wie die meisten erfolgreichen Menschen. Lydia Tár ist auch Verfasserin ihrer eigenen Biografie, die demnächst unter dem Titel «Tár on Tár» erscheinen soll. Sie ist mit Sharon Goodnow verheiratet, der ersten Violinistin und Kapellmeisterin des Orchesters. Gemeinsam haben sie eine Adoptivtochter (Petra).
Lydia Tár hat ein immenses Leistungspensum zu bewältigen, aber sie zweifelt nicht an ihrem Status und der damit verbundenen Macht. Das Wissen um ihre Macht zeigt sich immer wieder, wenn auch in verschiedener Intensität. Zum einen weiss sie genau, was ihre Rechte und Privilegien sind und die nimmt sie eisern wahr, zum anderen erlaubt sie sich, ausserhalb des Akzeptierten zu agieren.
Der nächste Stolperstein
Als lesbische Frau fischt sie in Teichen, die ihr nicht zustehen. Da ist eine Studentin (Krista Tylor), die mit Hilfe der «Accordion Foundation» Dirigieren studiert. Das Programm wurde von Lydia für junge Frauen geschaffen, um ihnen in der ganzen Welt Möglichkeiten zu bieten, als Gastdirigentinnen aufzutreten. Krista, Francesca und Lydia. Auf einer Reise, pflegten die drei ein intimeres Verhältnis, als sich eine Professorin erlauben darf. Wochen später wird Krista aufsässig und fordert von Lydia immer wieder Referenzen ein. Lydia ist verärgert. Der Kontakt bricht ab.
Krista kann und will das nicht verstehen. Verzweifelt versucht sie, Lydia zu erreichen und schickt ihr eine Kopie von Vita Sackville-Wests Roman «Challenge». Für Lydia ist das inakzeptabel. Die Botschaft ist klar genug: Genauso wie Sackville-West mit Kepel durchgebrannt war, möchte Christa mit Lydia durchbrennen. Die Widmung auf der ersten Seite zeigt eine bizarre Bleistiftzeichnung. Ebenfalls spielt Virginia Woolf mit. Auch sie pflegte eine intime Beziehung zu Sackville-West, sie, die gefeierte englische Autorin. Doch Lydia will diese Beziehung nicht, auch den Roman nicht, beides landet im Papierkorb. Francesca befiehlt sie, den gesamten Mailaustausch zu löschen. Der nächste Stolperstein.
In Berlin erwartet sie Sharon Goodnow in ihrer gemeinsamen Wohnung. Lydia ist noch immer irritiert und lässt dies an Sharon aus. Sie rügt sie, weil zu viele Lichter an sind. Dann entdeckt sie Sharon, die weinend und aufgelöst dasteht. Ihr Herzrhythmus stimmt nicht und sie findet ihre Medikamente nicht. Nicht erstaunlich, Lydia hat sie ihr entwendet. Es handelt sich um die Tabletten der ersten Szene. Erschöpft aber keineswegs bereit, die Situation zu klären, geht sie ins Bad, füllt die Tabletten wieder ab, reicht Sharon eine Tablette und ein Glas Wasser. Die Anfangsszene wiederholt sich, die Figuren sind ausgewechselt. Eine liebevolle Lydia nimmt ihre erschöpfte Frau in die Arme. Zusammen warten sie, dass die Herzfrequenz auf 60 fällt. Ein Kuss beschliesst die Szene. Lydia hat Sharon nichts von der gelöschten Beziehung erzählt. Wieder ein Stolperstein.
Lydias Grenzüberschreitungen
Sharon informiert Lydia, dass Petra in der Schule gemobbt und geschlagen wird. Auch dem nimmt sich Lydia an. Field filmt Mutter und Tochter im Innern ihres exklusiven Porsches. Im Rückspiegel spielt sich eine sehr lustige Mutter-Tochter Szene ab. Dann präsentiert die Kamera Petras Schulhaus, der Wagen fährt vor, die beiden steigen aus, Petra zeigt auf das Mädchen (Johanna), das sie mobbt. Lydia schlendert zu Johanna und erklärt ihr, sie sei Petras Vater. Sollte sie Petra noch einmal angreifen, dann würde etwas geschehen: «Dann kriege ich dich», droht sie. Auch darf das Mädchen keinem Erwachsenen erzählen, was sich hier eben abgespielt hat. Tue sie es, dann wird er sie kriegen, denn er, Tár, ist der Erwachsene.
Diese frühen Szenen im Film beleuchten Lydias Grenzüberschreitungen, die immer häufiger werden. Warum Vater? Hat Lydia in Adam Gopniks Show nicht klar erklärt, dass sie als Frau nie diskriminiert wurde? Braucht sie jetzt das Vatersein, um ein kleines Mädchen einzuschüchtern? Liebt sie in diesem Moment die Rolle des starken Mannes? Geht sie deswegen zum Herrenschneider?
Die Grenzüberschreitungen nehmen ihren Lauf. Eine neue Besetzung für Cello steht an. Auf der Toilette verwundert sich Lydia über eine junge Frau, die grusslos hereinstürmt. Ihr fallen die groben Schuhe der jungen Frau auf. Der Auftritt löst etwas in Lydia aus. Sie wirkt verspielt. Schwingend nimmt sie im Auditorium Platz und hört sich den Vortrag der Kandidaten an. Lydia hat sich entschieden. Sie schreibt ihre Nummer auf, erkennt dann an den groben Schuhen die selbstsichere junge Frau von eben, als diese die Bühne verlässt. Lydia ändert nun die Reihenfolge ihrer Auswahl und so kommt Olga Metkina ins Spiel.
Olga, eine Frau die im Leben steht
Olga ist eine Draufgängerin. Sie ist hungrig auf ihr Leben, auf alles, was kommen wird. Ihr Hunger spiegelt sich in ihrer Menüwahl: erst gepökelter Fisch, dann Kalbfleisch, während Lydia einen Gurkensalat bestellt. Auch respektiert Olga nicht, dass der Kellner zuerst vom Maestro erfahren möchte, was er für sie bringen darf. Olga bestellt energisch zuerst.
Field zeigt Olga als eine Frau, die im Leben steht. Sie ist politisch aktiv, hat Verbindungen zu anderen Künstlern, spielt in einem kleinen Ensemble, will sicher keine Kinder und weiss, dass Lydia die Eintrittskarte für ihre Karriere sein könnte. Zum einen ist Olga eine Version von Lydia, lebt aber, anders als Lydia, nicht im sprichwörtlichen Elfenbeinturm. Auch Olga wird zum Stolperstein.
«We could have had it all». Der Titel dieser Single von Adele gilt auch für Lydia. «We could have». But she couldn’t. Es kommen schlaflose Nächte. Jedes Geräusch stört sie. Einmal ist es der Kühlschrank, der leise summt, einmal ist es das Metronom, das in einem Schrank tickt und eine ähnliche Verzierung zeigt, wie die Widmung von Krista Taylor auf der ersten Seite des fortgeworfenen Romans. Mahlers Partitur ist nicht mehr auffindbar. Dann wieder stören sie die Geräusche der kranken Nachbarin. Alle Szenen sind in einem warmen Ton gehalten und zeigen eine Frau, deren Gesicht an Jugendlichkeit verliert. Langsam wird Lydia wirr. Selbst beim Joggen am frühen Morgen hört sie Schreie im Park. In einem verfallenen Haus, in dem Olga wohnt, hört sie verfolgende Schritte, aber Olga findet sie nicht.
Die Stolpersteine häufen sich. Krista hat sich umgebracht. Ihre Eltern glauben, dass Lydia Schuld an ihrem Tod trägt, und klagen sie an. Im Orchester wird man unruhig. Zu viele Gefälligkeiten bleiben nicht ungesehen. Jetzt soll Olga auch noch Elgars Cellokonzert als Solistin spielen. Die Kamera zeigt die erstaunt-verwirrten Gesichter der Musiker, aber sie halten (noch) zu Lydia.
Alles fällt auseinander
Noch immer bespricht sich Lydia nicht mit ihrer Frau, und so muss Sharon von einem Orchestermitglied erfahren, dass Lydia angezeigt worden ist. Field zeigt die beiden Frauen auf Augenhöhe. Sharon wirft Lydia vor, sie und Petra in Gefahr gebracht zu haben, vor allem aber habe sie ihren Rat nicht eingeholt. Schon immer hatten sie zusammen ihre Probleme besprochen und gelöst, zusammen dafür gesorgt, dass Lydia zur Maestro gewählt wurde, alles immer zusammen: «These are the rules», sagt Sharon.
Lydia zieht in ihre Zweizimmerwohnung. Die alte Frau von gegenüber ist gestorben. Die Erben wollen die Wohnung verkaufen und bitten Lydia, ihnen zu sagen, wann sie übe. Mögliche Käufer könnten vom Lärm ihrer Musik verunsichert werden. Lydia ist sprachlos, spielt auf ihrem Akkordeon atonal und singt: «An apartment for sale». Lärmig.
Lydia wird als Maestro dispensiert. Sie darf ihre Tochter nicht mehr sehen. Sie kann sich nirgends mehr sehen lassen. Alles fällt auseinander. Am Tag der Aufführung schleicht sie sich ins Gebäude und schlägt dem Ersatzdirigenten den Taktstock aus der Hand, will selber dirigieren, doch das Orchester bockt. Da schlägt sie auf den Dirigenten ein und muss abgeführt werden. Wild ist die Szene und sehr erschreckend.
Sie fährt «nach Hause» zu ihrer Mutter auf Staten Island. Wir sehen eine Fotografie der kleinen Linda (wie sie damals hiess), die auf einem Akkordeon spielt. Sie hat eine Medaille um den Hals. Erster Preis. Ihr erster. Sie schaut sich auf einer alten VHS-Kassette ein «Young People’s Concert» von Bernstein an, der sich anschliessend an das Publikum wendet. «What is the intent of this particular piece of music?», fragt er. «Beauty», antwortet er lächelnd. Lydia weint.
Ist das ein Neuanfang?
Es geht immer schneller im Film. Lydia landet auf den Philippinen. Ein etwas merkwürdiges Künstlervermittlungsbüro hat sie dahin geschickt. Sie soll da ein Konzert geben und die Musik für das Video Game «Monster Hunter» dirigieren. Sie tut das auch. Warum auch nicht? Im Saal sitzen «Cosplayers.» Sie akzeptiert das. Nach den ersten Takten hören wir eine Stimme im Voice-over, die sagt, man begäbe sich nun auf eine schwierige Reise, auf der es kein Zurück gebe. Wer jetzt noch austeigen will, der kann das tun. Die letzten Worte des Films aus dem Voice-over: «Let no one judge you».
Ist das ein Neuanfang? Eine Chance? Ein Sich-Konzentrieren auf die Absicht der Musik? Im Kontext von Videospielen ist die Absicht der Musik klar erkennbar: Sie hilft, die Spieler auf die nächste Ebene zu bringen.