Jon Kyl, neben John McCain der zweite Vertreter Arizonas im amerikanischen Senat, war nie als eifriger Verfechter einer aktiven Abrüstungspolitik bekannt. Doch bis vor kurzem schien es, dass er einer baldigen Ratifizierung des Abrüstungsabkommen (New Start), das Präsident Obama und sein russischer Amtskollege Medwedew im April 2009 in Prag unterzeichnet hatten, keine unüberwindlichen Hindernisse entgegenstellen würde. Der New Start-Vertrag sieht eine Reduktion der strategischen Nuklearwaffen beider Mächte um rund 30 Prozent in Laufe von sieben Jahren vor. Nach der amerikanischen Verfassung müssen solche aussenpolitischen Verträge von einer Zweidrittelmehrheit im Senat ratifiziert werden.
Gegen den Rat Kissingers und Bakers
Der New Start-Vertrag ist die Fortsetzung des Start I-Vertrages, der noch im Sommer 1991 – kurz vor dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion – vom republikanischen Präsidenten George Bush senior und dem damaligen Kremlchef Michail Gorbatschow unterzeichnet worden war. Er war seinerzeit vom US-Senat mit 93 gegen 3 Stimmen ratifiziert worden. Auch eine Zweidrittel-Mehrheit zum New Start-Abkommen im Senat schien gesichert, nachdem der Aussenpolitische Ausschuss der Kleinen Kammer 12 Hearings zu dem Vertragswerk durchgeführt und dieses Gremium mit 14 gegen vier Stimmen dessen Ratifizierung durch das Senatsplenum empfohlen hatte.
Bei den Anhörungen hatten sich neben andern Kapazitäten auch die früheren republikanischen Aussenminister Baker und Kissinger sowie der ehemalige Sicherheitsberater Scowcroft für den Vertrag ausgesprochen. Ausserdem hatten die Republikaner erreicht, dass die Administration Obama die finanzielle Zusagen für den Unterhalt und die Erneuerung des US-Atomarsenals auf nicht weniger als 84 Milliarden Dollar für die nächsten zehn Jahre aufstockte.
Doch inzwischen ist die scheinbar ungefährdete Ratifizierung von New Start noch während der laufenden Kongress-Session, die Anfang Januar zu Ende geht, akut in Frage gestellt. Jon Kyl, der Einpeitscher der republikanischen Senatsfraktion (Minority Whip), liess plötzlich verlauten, es gebe noch „komplexe und ungelöste Fragen“ zu klären, wofür man mehr Zeit benötige. Deshalb glaube er nicht, dass vor dem Ende der jetzigen Senats-Session die notwendige Zweidrittelmehrheit für den Vertrag zustande kommen werde. Wenn der Einpeitscher ein solches Statement abgibt, so heisst das in der Regel, dass dies dem Willen der Fraktionsführung entspricht.
Sarah Palins Offener Brief und seine Wirkung
Gut informierte Beobachter sehen hinter diesem Kurswechsel der Republikaner einen direkten Zusammenhang mit einem wenige Tage zuvor publizierten Offenen Brief von Sarah Palin, der Galionsfigur der radikal konservativen Tea Party-Bewegung, an die Anfang November neu gewählten republikanischen Mitglieder des Kongresses, die im Januar ihre Arbeit aufnehmen werden. In ihrem Brief fordert die ehemalige Vizepräsidentschafts-Kandatin ihre Parteifreunde neben vielen andern Ermahnungen auf, den New Start-Vertrag „geduldig und sorgfältig“ zu begutachten – und ja keine Ratifizierung durch den „alten“ Senat zuzulassen.
Diese resolute Belehrung zur Marschrichtung dürfte ihre Wirkung auf die angesprochenen republikanischen Volksvertreter im Senat nicht verfehlt haben. Einige mögen zwar von der aussen- und abrüstungspolitischen Kompetenz der früheren Gouverneurin von Alaska nicht viel halten. Doch die Mehrheit unter ihnen wird es aus opportunistischen Gründen kaum drauf ankommen zu lassen, sich in aller Offenheit mit der zurzeit populären Bannerträgerin der Tea Party-Bewegung anzulegen. Immerhin hat diese diffuse populistische Bewegung bei den Midterm-Wahlen vor einem Monat erheblich zum grossen Erfolg der Republikaner beigetragen. Wie lange diese Erfolgswelle weiterrollt, steht dann auf einem andern Blatt.
Halbwegs seriöse Gründe, weshalb die Republikaner neuerdings gewillt sind, die Ratifikation und damit die Inkraftsetzung des New Start-Treaty auf unbestimmte Zeit zu vertagen, sind bisher nicht vorgebracht worden. Das zentrale Motiv, das die neue Ablehnungsfront und deren Antreiberin Sarah Palin wirklich zu bewegen scheint, ist offenbar die Entschlossenheit, unbedingt einen aussenpolitischen Erfolg von Präsident Obama zu verhindern.
Richard Lugars passt sich nicht an
Der einzige republikanische Senator, der bisher klar und deutlich gegen diese Obstruktionspolitik Stellung bezogen hat, ist Richard Lugar aus Indiana. Lugar ist bei weitem der aussenpolitisch erfahrenste Kopf seiner Partei im Kongress. Zusammen mit seinem damaligen demokratischen Senatskollegen Sam Nunn hatte er in den neunziger Jahren nach dem Kollaps des Sowjetimperiums ein Programm durchgesetzt, das den Abbau und die Zerstörung von Massenvernichtungswaffen in den früheren Sowjetrepubliken in effizienter Weise beförderte.
Eine Verschiebung der Ratifizierungsentscheidung für den New Start-Abrüstungsvertrag auf die nächste Kongress-Session ist noch keine Katastrophe – selbst wenn damit gerechnet werden muss, dass die um sechs Mitglieder verstärkte Fraktion der Republikaner (die Demokraten halten in der kleinen Kammer immer noch eine knappe Mehrheit) dann noch schwerer dazu zu bewegen sein wird, die nötigen Stimmen zu einer Zweidrittelmehrheit beizusteuern. Auch frühere Abrüstungsverträge sind im Senat lange blockiert worden.
Doch die verzögerte oder möglicherweise überhaupt verhinderte Ratifizierung des New Start Treaty schadet eindeutig amerikanischen Sicherheitsinteressen. Der Vorläufer dieses Abkommens mit Russland – Start I – ist bereits vor einem Jahr abgelaufen. Das hat zur Folge, dass die beiden Atommächte gegenwärtig ihre Arsenale nicht mehr gegenseitig inspizieren. Die republikanische Verzögerungstaktik läuft damit in ihrer Wirkung konträr zu einer Lieblingsmaxime ihres Lieblingspräsidenten Reagan: „Trust, but verify“ - eine Abwandlung von Lenins berühmter Formulierung: "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser".
Noch Chancen für die Vernunft
Schwerer aber könnte eine aufgeschobene oder verhinderte Ratifizierung des New Start-Abkommens die Bemühungen Washingtons treffen, Iran durch wirtschaftlichen und politischen Druck zur Aufgabe oder zur uneingeschränkten Kontrolle seiner nuklearen Aktivitäten zu zwingen. Um wirksamen Druck gegen Teheran aufzubauen, braucht Amerika die Unterstützung Moskaus – das hat sich beim Zustandekommen neuer Sanktionen durch den Uno-Sicherheitsrat gezeigt.
Auch der jüngst von der Nato und Russland gemeinsam beschlossene Aufbau eines Abwehrschirms gegen Mittelstreckenraketen – der in erster Linie eventuelle iranische Angriffe verhindern soll –hängt von einigermassen konstruktiven Beziehungen zwischen Russland und den USA ab. Ein solches Verhältnis wird schwerlich befördert, wenn im amerikanischen Senat die Inkraftsetzung eines zentralen bilateralen Abrüstungsabkommens durch klein karierte innenpolitische Intrigen auf unbestimmte Zeit blockiert wird.
Noch sind die Würfel nicht definitiv gefallen. Vielleicht besinnen sich einige republikanische Senatoren doch darauf, auf den dringenden Rat aussenpolitischer Autoritäten wie Henry Kissinger, James Baker oder Richard Lugar zu hören, anstatt auf das oberflächliche Gezeter des Tea Party-Stars Sarah Palin. Wenn das der Fall ist, könnte die notwendige Zweidrittelmehrheit für die Ratifizierung des New Start-Vertrages bis zum Ende der laufenden Kongress-Session doch noch zustande kommen.