Die „Times of India“ schilderte den Vorfall so: „Als gegen neun das Telefon läutete, hatte Asma Khatoon eben die kleine Ikra gestillt. Sie freute sich, die Stimme ihres Gatten Shahnawaz Hussain zu hören. Er läutete aus Saudarabien an, wo er als Fahrer arbeitete. Der letzte Anruf hatte schlecht geendet und Asma wollte alles gutmachen. Doch der glückliche Moment dauerte nicht lange. Ihr Salaam beantwortete Hussain mit Vorwürfen. Dann kamen die gefürchteten Worte: ‚Ich lasse mich von Dir scheiden – Talaq, Talaq, Talaq’. Noch bevor Asma ‚Aber warum?’ einwerfen konnte, brach die Verbindung ab.“
Es ist ein Augenblick des Schreckens, der vielen indischen Musliminnen nur zu vertraut ist. Sei es ein dreifach gezischtes Talaq von Angesicht zu Angesicht, oder ein Brief, ein Tweet, ein Facebook-Eintrag oder ein Zettel unter der Tür: Ein verheirateter indischer Muslim kann seine Frau samt Kindern aus dem Haus weisen; er muss nur einen Unterstützungsbeitrag von drei Monaten nachreichen.
Die Motive sind immer dieselben. Bei Asma hatten sich ihre Eltern geweigert, immer höheren Mitgiftforderungen von Asmas Schwiegereltern nachzukommen. Oder die Frau hat dem Ehemann keinen männlichen Stammhalter geboren; oder sie disqualifiziert sich als „streitsüchtig“. Die häufigste Ursache: Der Mann hat ein Verhältnis mit einer anderen Frau und will sich nicht zwei Gattinnen leisten.
Religiöse Gesetze statt Zivilrecht
Dass solche Praktiken nicht nur möglich, sondern legal sind, hängt mit dem indischen Säkularstaat zusammen. Dessen Verfassung kennt kein allgemeines Zivilrecht, sondern überlässt es jeder Religionsgruppe, die Regeln für Geburt und Tod, Heirat und Erbe, Erziehung und Privateigentum zu regeln. (Für die Hindus regeln dies Sondergesetze.) Die Verfassungsväter betrachteten dies als Garantie für die Minderheiten, allen voran die Muslime, ihre Lebensweise gegen eine Überflutung durch die Alltagskultur der übermächtigen Hindu-Mehrheit zu schützen.
Folglich haben die Jains, Sikhs, Buddhisten, Christen, Juden und Muslime ihre eigenen repräsentativen Organe, wenn es um das Personenrecht geht. Sie bestimmen, wie eine Eheschliessung zu vollziehen ist, wer wen heiraten darf, wer erbt und wieviel. Diese Organisationen, zumeist von Religionslehren geführt, kontrollieren nicht nur die Gemeinschaftsregeln, sie sind auch mit Landbesitz gesegnet – religiöse Stätten, Schulen, Friedhöfe, Waisenhäuser etc. Dies beschert ihnen volle Kassen und damit politischen Einfluss.
Die indische Verfassung bekennt sich aber auch zu den klassischen liberalen Grundrechten von individueller Freiheit, freier Religionsausübung und ungehindertem Religionswechsel. Allerdings zieht sie keine klare Trennlinie bei der Rechtsteilung zwischen dem, was des Kaisers ist, und dem, was Gott zusteht. Es ist ein Schlupfloch, das mächtige religiöse Organisationen (und mit ihnen politische Parteien) genutzt haben, um Einfluss über die eigenen Religionsangehörigen zu gewinnen.
Entfesselter Konflikt
Berühmt und berüchtigt geworden ist der Fall einer muslimischen Frau namens Shah Bano, die 1986 von ihrem Mann nach 35 Jahren Ehe aus dem Haus gewiesen wurde. Shah Bano gelangte an das Oberste Gericht. Sie bestritt nicht die Scheidung, sondern die dreimonatige Unterhaltspflicht. Nach so vielen Jahren Ehe stehe ihr ein lebenslanges Sorgerecht zu, und zwar gemäss Artikel 125 des Strafgesetzes. Das Gericht gab ihr Recht.
Der „All India Muslim Personal Law Board“ (AIMPLB, quasi der Vatikan der indischen Muslime) entfesselte eine landesweite Kampagne dagegen. Der damalige Premierminister Rajiv Gandhi fürchtete um die muslimischen Wähler und drückte ein neues Gesetz durch das Parlament. Es bestätigte den Standpunkt der AIMPLB-Ulemas, wonach Talaq und kurzzeitige Unterhaltspflicht ein „wesenlicher Bestandteil der islamischen Religion“ sei und damit Vorrang habe vor dem säkularen Recht der Gleichbehandlung aller – auch der Geschiedenen.
Das Gesetz hatte historische Folgen. Nun waren es die Hindus, die auf die Strassen gingen. Um sie zu beschwichtigen, liess Gandhi die Babar-Moschee, den angeblichen Geburtsort von Gott Rama, in Ayodhya öffnen. Er war vierzig Jahren geschlossen gewesen, um Konflikte zwischen Hindus und Muslimen zu vermeiden. Die Hindutva-Kräfte nutzten diese Schwäche des Staats, um vollendete Tatsachen zu schaffen. Drei Jahre später wurde die Moschee gestürmt – der Beginn einer Konfliktspirale, die sich bis heute dreht.
Solidarität mit einer Verstossenen
Im Kampf gegen menschenverachtende religiöse Dogmen scheint nun ebenfalls ein historischer Augenblick erreicht zu sein. Die telefonische Verstossung von Asma Khatoon blieb diesmal nicht ohne Folgen. Die Gemeindebehörde ihres Dorfs in Uttar Pradesh stellte sich hinter sie. Weitere 25 Dorfälteste (die meisten Muslime) verurteilten das Verhalten von Shahnawaz Hussain und versprachen, für den Unterhalt der jungen Frau aufzukommen.
Die Solidarität mit Asma lässt sich nur erklären, weil im ganzen Land Muslimfrauen diesen patriarchalischen Tabus den Kampf angesagt haben. Indien kennt seit vielen Jahren das Instrument einer „Public Interest Litigation“. Jede Bürgerin kann direkt an das Oberste Gericht gelangen, falls ihr Gesuch eine dringendes öffentliches Interesse glaubhaft machen kann.
Gericht lässt Klagen zu
Im Dezember 2015 erklärte der Gerichtspräsident: „Falls ein Opfer des ‚dreifachen Talaq’ an das Gericht appelliert und diese Prozedur in Frage stellt, werden wir überprüfen, ob sie Grundrechte verletzt.“ Es war das erste Mal nach dem Shah Bano-Fall von 1986, dass sich die Justiz bereit erklärte, ihre Rechtspraxis zu überprüfen.
Sogleich regnete es Gesuche von Frauen, die Opfer des Talaq geworden waren. Dazu zählten auch Frauen, die zuvor vom Gericht abgewiesen worden waren. Auch Organisationen wie die „Indische Musliminnen-Vereinigung“ BMMA gehörte dazu. Sie überreichte dem Gericht eine Umfrage unter 4’700 Frauen, von denen 88 Prozent ein Verbot des Triple Talaq forderten. Eine ähnlich grosse Zahl sprach sich gegen Polygamie aus.
Spätes Erwachen muslimischer Männer
Zum ersten Mal meldeten sich nun auch liberale muslimische Intellektuelle, allesamt Männer. Sie hatten sich bisher nicht vorgewagt, weil sie sonst vom „Muslim Law Board“ als Quislinge und Hindu-Sympathisanten denunziert worden wären. Endlich kam es zu einer informierten Debatte über den Status des Talaq im islamischen Recht. Sie zeigte, dass diese Form der Scheidung nicht aus dem Koran stammt, sondern eine viel spätere Praxis war, die inzwischen von vielen islamischen Staaten aus der Scharia-Gesetzgebung entfernt worden ist.
Der Anstoss für das späte Erwachen der muslimischen Männer ist nicht nur der Mut ihrer Frauen; es ist vielmehr die regierende Hindu-BJP-Partei. Zum allgemeinen Erstaunen engagierte sich selbst Premierminister Narendra Modi öffentlich für das Los dieser Frauen und forderte eine nationale Kampagne gegen das Talaq-Statut. Sprecher der BJP liessen die Katze darauf aus dem Sack: Sie knüpfen an das Talaq-Verbot die Forderung, gleich alle Sonderrechte abzuschaffen und an deren Stelle ein einheitliches Zivilrecht zu setzen.
Diskussion über religiöse Organisationen
Dies klingt auf den ersten Blick diskutabel, umso mehr als die mächtigen Minderheiten-Organisationen nicht repräsentativ gewählt und oft politisch und finanziell verseucht sind. Zudem erlauben sie manchmal auch fragwürdige religiöse Praktiken wie etwa das Hungerfasten bei den Jains. Erst kürzlich wurde publik, dass ein 14-jähriges Jain-Mädchen nach 67 Tagen ohne Nahrung gestorben war – und darauf als Heilige gefeiert wurde.
Es bestehen kaum Zweifel, dass die Hindu-Organisationen ein einheitliches Zivilrecht auf ihre Weise definieren würden. Denn für sie ist Religion und nationale Kultur identisch. Und was für die grosse Hindu-Mehrheit gut ist, ist nach ihrer Überzeugung auch für die gesamte Gesellschaft richtig.
Ein hoher Vertreter des Kaderverbands RSS gab kürzlich in einem Op-Ed-Artikel des „Indian Express“ Einblick, was in den Köpfen der Ideologen vorgeht. Die Minderheiten seien frei, den „Uniform Civil Code“ abzulehnen, erklärte M. G. Vaidya unter dem Titel „The Price of Personal Law“. Dann würde ihnen aber auch das Wahlrecht aberkannt – sie wären also Bürger zweiter Klasse.