Die seit 2016 amtierende Präsidentin Tsai Ing-wen nominierte im November ihren Vize für die Präsidentschaftswahlen am 11. Januar. Sie entschied sich für den ehemaligen Premierminister William Lai, der offen für die Unabhängigkeit Taiwans eintritt. Kurz darauf kreuzte durch die 160 Kilometer breite Formosa-Strasse – heute meist Taiwan-Strasse genannt – der zweite, eben fertiggestellte chinesische Flugzeugträger. Zu ausschliesslich technischen Testzwecken, wie Peking offiziell verlauten liess. In Taiwan – und in den USA – allerdings wurde der chinesische Test ganz anders interpretiert: als Einmischung in die taiwanesischen Wahlen. Taiwans Aussenminister Joseph Wu: „Die Wähler lassen sich nicht einschüchtern.“
Präsidentin Tsai tritt für eine zweite Amtsperiode für die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) an, eine Partei, die mit ihrer unabhängigkeitsnahen Haltung China immer wieder provoziert. Tsais Wahlslogans widerspiegeln diese Richtung. „Widersetze dich China, verteidige Taiwan“, heisst es etwa oder „Das heutige Hongkong könnte das morgige Taiwan sein“.
Präsidentin abgestraft
Im vergangenen Januar noch sah es düster aus für die Wiederwahl der amtierenden Präsidentin. Ihre Partei DPP hatte eben die Lokal- und Regionalwahlen 2018 haushoch verloren. Tsai wurde regelrecht abgestraft. Zu diesem Zeitpunkt verzeichnete sie laut repräsentativen Umfragen gerade noch die Zustimmung von 35 Prozent der Taiwanesinnen und Taiwanesen, nachdem sie bei Amtsantritt noch eine bemerkenswert hohe Unterstützungsquote von über 70 Prozent erzielt hatte.
Die nationalistische Kuomintang-Partei (KMT) war die grosse Siegerin der Lokal- und Regionalwahlen, allen voran Han Kuo-yu. Er ist ein Meister in der politischen Verwendung der sozialen Medien, was in Taiwan wegen der weit fortgeschrittenen Digitalisierung besonders wichtig ist. So verwenden 24 Millionen Taiwanesen 29 Millionen mobile Telephone. 21 Millionen benutzen das Internet und die sozialen Medien. Immerhin noch 30 Prozent der Bevölkerung tummeln sich sogar auf dem chinesischen WeChat. Kein Wunder deshalb, dass die DPP von „täglichen“ chinesischen Cyberattacken schwadroniert, allerdings ohne auch nur die kleinsten Indizien oder Beweise.
Lokalpolitiker Han in der Populisten-Schublade
Der rührige Lokalpolitiker Han Kuo-yu profitierte von seinen professionell ausgeführten Social-Media-Kampagnen. Er wurde in der DPP-Hochburg Kaoshiung, einer wichtigen, direkt der Regierung unterstellten Hafenstadt im Süden, zum Bürgermeister gewählt. Nach Hans Ansicht sind die Wahlen vom 11. Januar 2020 eine Wahl „zwischen Friede und Krise mit China“. „Präsidentin Tsai“, so Han, „ist unfähig, das Land zu regieren; deshalb ist die Republik China in einem Sturm und die Beziehungen über die Taiwan-Strasse sind turbulent.“
Han Kuo-yus Wahlslogan: „Ein sicheres Taiwan – Wohlhabende Leute“. Westliche Medien steckten Han also gleich in die Populisten-Schublade. Wohl etwas zu früh, denn Han ist weder nationalistisch-chauvinistisch noch rechtsextrem oder ausländerfeindlich. Auch lügt er nicht so gedruckt wie der mächtige Taiwan-Protektor und Waffenlieferant Donald Trump, sondern nur so, wie das eben bei Politikern weltweit üblich ist.
In zwei Punkten freilich stimmen sowohl die beiden Präsidentschaftskandidaten überein. Beide sind gegen das chinesische Wiedervereinigungsprinzip „Ein Land, Zwei Systeme“. Dieses Prinzip hatte einst der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping für Hongkong, Macau und eben Taiwan erdacht. Han verspricht seinen Wählern, dass dieses Prinzip nur „über meinen toten Körper“ eingeführt werden könne.
Beispiel Hongkong
Sowohl Tsai als auch Han können sich bei diesem Punkt auf die Meinung des Volkes abstützen. Bei einer repräsentativen Umfrage anfangs Dezember sprachen sich 89,3 Prozent der Bevölkerung gegen das Prinzip „Ein Land, Zwei Systeme“ aus, elf Monate zuvor waren es 75,4 Prozent. Auch was Hongkong betrifft, sind sich Han und Tsai einig. Sie unterstützen die „Demokratiebewegung“. Allerdings ist ähnlich wie im Westen die Berichterstattung über die Hongkonger Ereignis in Taiwan einseitig und voreingenommen.
Han Kuo-yu lag – obwohl erst seit dem 15. Juli offiziell Präsidentschaftskandidat – im Rennen um die Wählergunst noch im März weit vor Tsai, selbst nach seiner Reise nach China, Hongkong und Macau. In Peking bekräftigte Han den „Konsensus 1992“, wonach Peking und Taipeh an einem einzigen China festhalten. Allerdings wurde Han nach dieser Reise zu viel Nähe zu China vorgeworfen.
Androhung militärischer Gewalt durch Xi
Präsidentin Tsai Ing-wen begann jedoch bereits seit Januar die Gunst der Wähler langsam zurückzuerobern. Anlass war eine Rede des chinesischen Staats-, Partei- und Militärchefs Xi Jinping. Taiwan, so Xi, werde früher oder später wieder zum „Vaterland“ zurückkehren, das sei historisch so vorgesehen. Xi brauchte starke, klare Worte: „Wir können nicht versprechen, dass wir auf den Einsatz von Gewalt verzichten. Wir behalten uns diese Option vor, im Zweifel alle nötigen Massnahmen zu ergreifen. Dieser Hinweis richtet sich nicht gegen unsere Landsleute in Taiwan, sondern an Kräfte von ausserhalb und an die sehr geringe Zahl von Unabhängigkeitsaktivisten in Taiwan.“ Den militärischen, aber auch den ökonomischen und diplomatischen Druck erhält Peking zur Erreichung des historischen Ziels der Wiedervereinigung bis heute aufrecht.
„Historisch so vorgesehen“ – Parteichef Xi hat nicht Unrecht. Mitte des 16. Jahrhunderts tauchten die damals mächtigen portugiesischen Seefahrer vor Taiwan auf und nannten die Insel Formosa, die von wenigen polynesischen Urbewohnern und wenigen Han-Chinesen besiedelt war. Danach besetzten am Anfang des 17. Jahrhunderts die Holländer die Insel als fernöstliche Handelsstation. Nach dem Ende der Ming-Dynastie 1644 flüchteten viele Ming-Loyalisten nach Taiwan. Der berühmte Qin-Kaiser Kangxi annektierte 1683 die Insel. Nach dem Sino-japanischen Krieg 1894/95 wurde Taiwan durch den Vertrag von Shimonoseki bis zum Ende des II. Weltkrieges 1945 eine japanische Kolonie.
Historischer Bestandteil Chinas
Nach dem verlorenen Bürgerkrieg gegen die Kommunisten (1945–49) flüchteten rund zwei Millionen Chinesen, angeführt von Kuomintang-Generalissimo Chiang Kai-shek, auf das nahe gelegene Eiland. Chiang nannte Taiwan Republik China und beanspruchte die Herrschaft über ganz China. Bis 1987 stand Taiwan unter Kriegsrecht und wurde mit harter diktatorischer Hand regiert. Chiangs Sohn Chiang Ching-kuo initiierte erste Reformen des politischen Systems, welche in ersten allgemeinen Wahlen 1996 mündeten. Seither wechseln sich im Acht-Jahre-Rhythmus die Demokratische Fortschrittspartei DPP und die nationalistische Kuomintang-Partei KMT in der Machtausübung ab.
In China selbst wurde und wird Taiwan stets als abtrünnige Provinz bezeichnet. Selbst für jene Chinesen und Chinesinnen, die mit der allmächtigen KP Chinas sonst nicht einverstanden sind, ist klar, das Taiwan ein untrennbarer Bestandteil Chinas ist. Peking ist seit Jahren bestrebt, Taiwan als unabhängigen Staat international zu isolieren. Bereits 1971 nahm China in der Uno den Platz anstelle von Taiwan ein. 1979 wechselten die USA die diplomatische Seite von Taipeh nach Peking, blieben aber im Hintergrund bis auf den heutigen Tag Verbündeter Taiwans, vor allem als Waffenlieferant.
Von 193 Uno-Staaten pflegen heute nur noch 14 kleine Länder, darunter der Vatikan, mit Taipeh diplomatische Beziehungen. Auch in den meisten internationalen Organisationen ist Taiwan nicht willkommen. Unter dem Namen „Chinese Taipei“ darf Taiwan zum Beispiel an den Olympischen Spielen teilnehmen. Unter gleichem Namen ist Taiwan Mitglied der Welthandels-Organisation WTO und der Asiatischen Entwicklungsbank ADB sowie Beobachter bei der Weltgesundheits-Organisation WHO.
Taiwanesisches Wirtschaftswunder
Wirtschaftlich gedieh Taiwan bereits unter der Diktatur Generalissimo Chiangs prächtig. In den 1960er und 1970er Jahren boomte die Volkswirtschaft, man sprach vom taiwanesischen Wirtschaftswunder. Singapur, Südkorea, Hongkong und Taiwan gingen als die „Vier Asiatischen Tiger“ in die neueste Wirtschaftsgeschichte ein. Heute steht Taiwan weltweit auf Rang 21 der grössten Volkswirtschaften und gar auf Rang 15 beim Pro-Kopf-Einkommen des Brutto-Inlandprodukts. China ist mit 40 Prozent aller Exporte mit Abstand der grösste Handelspartner, wobei Taiwan einen Handelsbilanzüberschuss von 80 Milliarden Dollar erzielt.
Eine Million Taiwanesinnen und Taiwanesen leben und arbeiten auf dem Festland. Investoren von der Insel sind mit weit über 100 Milliarden Dollar auf dem Festland engagiert. Hunderttausende von Touristen vom Festland besuchen jährlich die abtrünnige Provinz. In den letzten zwei Jahrzehnten sind – meist unter einem Kuomintang-Präsidenten – direkte Flug-, See und Postverbindungen über die Strasse von Formosa eingerichtet geworden, wo vorher lange Umwege nötig waren. Vom Cyberspace ganz zu schweigen.
Schlägt das Analoge das Digitale?
Wer wird am 11. Januar siegreich aus den Wahlen hervorgehen? Wird Hongkong und China entscheidend sein oder eher Innenpolitik? Nach einer Umfrage der Zeitung „United Daily News“ sind die Wählerinnen und Wähler von der innenpolitischen Leistung von Präsidentin Tsai schwer enttäuscht. Gerade einmal 23 Prozent der Bevölkerung sind der Ansicht, dass sich seit Amtsantritt von Tsai 2016 die Lage verbessert hat. Dennoch, die neuesten Wahlumfragen zeigen ein Plus für Tsai Ying-wen. 35 bis 50 Prozent werden sich demnach für die amtierende Amtsinhaberin aussprechen. Herausforderer Han Kuo-yu kommt lediglich auf 15 bis 30 Prozent.
Doch Achtung: Cyberspace! Wird es der digitale Zauberlehrling Han am Schluss noch richten und die vor allem analog kämpfende Tsai besiegen?