Die offizielle Bezeichnung der gefürchteten Bestie war T1, als handle es sich um einen Tyrannosaurus in einem Gruselfilm. Dabei war es eine Mutter mit zwei Jungen. Das machte sie allerdings nicht weniger gefährlich, im Gegenteil. Seit das sechsjährige Tigerweibchen im Februar dieses Jahres erstmals mit zwei Kleinen gesehen wurde, tötete T1 drei weitere Menschen, das letzte Opfer am 28. August.
Das brachte die Zahl ihrer tödlichen Angriffe auf Menschen auf dreizehn. Ein Kuhhirte war am 1. Juni 2016 ihr erstes Opfer geworden. Alle starben in einer relativ kleinen Region von fünfzig Quadratkilometern im Bezirk Yavatmal im östlichen Maharashtra.
Die Gegend ist nicht bekannt als Tiger-Habitat, und das nächstgelegene Tiger-Reservat ist über fünfzig Kilometer entfernt. Dies mag ein Grund sein, dass die hier kaum vertretene Tierschutzbehörde bei den ersten Opfern noch keine DNA-Proben erhob. Es ist deshalb bis heute nicht bewiesen, dass alle dreizehn Opfer von ein und demselben Tiger stammen. Aber alle Tiger-Beobachtungen in Yavatmal nach dem ersten Angriff stimmen darin überein, dass die äusseren Erkennungszeichen – namentlich die Streifung der Haut – identisch waren.
Strenger Tierschutz
Indien hat scharfe Schutzgesetze für Tiere auf der Wildbahn, und für sein Wappentier, den Bengalischen Königstiger, ganz besonders. Wann immer möglich, muss das Leben eines Tigers geschützt werden. Wenn dies, etwa bei einem Man Eater wie T1 nicht mehr garantiert werden kann, regelt ein genaues Protokoll die Immobilisierung, Gefangennahme oder als Ultima Ratio das Erschiessen des Tiers.
Zu den Standard Operating Procedures (SOP) gehört auch die Vorschrift, dass nur ein Obergericht die Tötungserlaubnis ausstellen kann. Bereits 2017 ersuchte daher die zuständige Forstschutzabteilung den Bombay High Court um die entsprechende Erlaubnis. Doch Indien besitzt eine sehr aktive und einflussreiche Umwelt- und Wildschutzgemeinde. Die Eingabe des Forest Department wurde mit zahlreichen Petitionen angefochten. Als das Grüne Licht schliesslich kam, zogen die Tierschützer den Fall ans Oberste Gericht in Delhi weiter.
Der Supreme Court folgte dem Urteilsspruch des Obergerichts und versah ihn mit weiteren Fussangeln, zusätzlich zu den Vorgaben der SOP. Dazu gehört die Bestimmung, das Tier, einmal aufgespürt, nach Möglichkeit mit einer Wurfpfeil-Kanüle temporär ausser Gefecht zu setzen; nur wenn eine lebensbedrohende Situation entstanden sei, dürfe man es mit der Waffe erlegen.
Erfolglose Operation
So bot sich den verängstigten Bewohnern der elf Dörfer in Yavatmal bald einmal der Anblick einer militärischen Gross-Offensive. Bis zu 200 Wildhüter kampierten dort, mit täglichen Fuss-Patrouillen, der Platzierung von über 90 Nachtsicht-Kameras, 25 Ausgucken. Italienische Spürhunde wurden eingesetzt, und als alles nichts nützte, rief man ein Team von fünf Elefanten aus dem Nachbarstaat Madhya Pradesh zu Hilfe.
Die Dickhäuter mussten dann rasch wieder abgezogen werden, als ein Elefant einen Dorfbewohner zu Tode trampelte. Überhaupt wurde den Einsatzleitern allmählich bewusst, dass sie mit diesem lärmigen Aufwand und dem dichten Netz von Patrouillen das Tigerweibchen und seine Jungen nur noch tiefer ins Dickicht trieben.
Aber auch weniger zugriffige Massnahmen – etwa der Einsatz einer Drohne mit Nachtsicht-Kameras, die auf thermale Veränderungen reagierten, oder ein Segelflugzeug – vermochten wenig anzurichten. Es kam zwar zu Sichtungen, aber die nachgreifende Spurensuche verlief jeweils im Sand – bis plötzlich wieder ein Hirt von einer T1-Pranke niedergeschlagen wurde.
Geschützt auf Kosten der Menschen?
Ein Grund für den fehlenden Erfolg mag auch in der ängstlichen Passivität der Einheimischen gelegen haben, die sich nicht dafür hergaben, als Führer die Patrouillen zu begleiten. Vielleicht spielte dabei nicht nur Angst eine Rolle, sondern eine wachsende feindliche Stimmung gegenüber den Wildhütern. Während sich die Dorfbewohner von einem Mörder bedroht fühlten, tat der Staat alles Erdenkliche, um diesem ja nichts anzutun und das Tier nach Möglichkeit heil in einen Zoo zu bringen.
Allmählich wurden auch die Medien (und einige Tierschützer) auf diese andere Perspektive aufmerksam, die sich mit der ihren – Schutz für eine bedrohte Tierart – nicht deckte: Wo sollte das Vieh noch gehütet werden, wenn hinter dem hohen Gras plötzlich ein Tiger vorpreschen konnte? Wie sollten die Bauern ihre Ernte einbringen, wenn sich keine Landarbeiter mehr fanden, um aufs Feld zu gehen? Und nachdem zwei Frauen auf der Suche nach Brennholz von T1 angegriffen worden waren, stellte sich die Frage, wie die Familien zuhause ihr Essen zubereiten sollten.
Mensch-Tier-Konflikte
In einem waren sich die betroffenen Bauern und die Wildtier-Aktivisten in den Städten einig: Nicht ein besonderes Gen macht einen Tiger zu einem Man Eater, sondern die immer schmalere Nahrungsmittelbasis, in die sich Mensch und Tier teilen müssen. Eine simple Statistik macht dies drastisch deutlich: Indien bedeckt 2,4 Prozent der globalen Erdfläche, aber darauf siedeln 17 Prozent der Menschheit und 16 Prozent des weltweiten Viehbestands.
Wie sieht die demografische Entwicklung auf der anderen Seite aus? Noch vor fünfzehn Jahren war der Tiger vom Aussterben bedroht, als seine Zahl in Indien (dem weitaus grössten Habitat dieser Subspezies) unter die Zahl von 1500 Tieren gefallen war. Der nächstliegende Grund war die enorme Nachfrage nach Tigerklauen, -zähnen und -häuten in China. Doch die Schmuggler und Wilderer waren nur deshalb so erfolgreich, weil es in den Pufferzonen der 49 Tiger-Reservate immer öfter zu Mensch-Tier-Konflikten kam. Die Bauern waren eher bereit, wegzuschauen, wenn Fallen gestellt wurden, statt dass sie – wie sie es früher getan hatten – Wildtiere verehrten und schützten.
Fairerweise muss man aber auch erwähnen, dass der indische Staat enorme Anstrengungen unternommen hat, um das Konfliktpotential in den Übergangszonen zu entschärfen. Dies geschieht etwa mit der Gratisabgabe von Gaskanistern zum Kochen, Anbauhilfen bei alternativen Nahrungsmitteln, um zu verhindern, dass Wildtiere – Tiger, Wildschweine, Elefanten – angelockt werden. Zudem werden die Bauern entlöhnt, wenn sie sich als informelle Wildtierschützer anheuern lassen.
Wachsende Tiger-Population
Entscheidend aber war, dass sich der Staat endlich dazu aufraffte, den Schmuggler-Syndikaten und Wilderern das Handwerk zu legen. Der Erfolg blieb nicht aus. Von 1706 Tigern (2010) stieg die Zahl auf 2226 im Jahr 2014. Gegenwärtig läuft ein neuer Zensus. Aufgrund von informellen Zählungen vermuten Tierschützer, dass die diesjährige Zählung über 3000 Tiere registrieren könnte.
Die Fertilität der Tiger ist sprichwörtlich – und nun verschärft sie das Problem der immer schmaleren Lebensgrundlage noch zusätzlich. Denn was der Staat an positiven Massnahmen im Mikrobereich an Gutem bewirkt, zerstört er um ein Mehrfaches vor dem Totempfahl der ökonomischen Entwicklung.
Immer mehr Strassen, Eisenbahnlinien, Bergwerke, Kraftwerke, Kanäle, Hochspannungsleitungen verengen die Lebensgrundlagen der Wildtiere, schnüren ihre naturwüchsige Mobilität ab. Und leider ist es nicht so, dass die armen Dorfbewohner in Yavatmal einfach in die Städte abwandern können und Landreserven für die Tiere zurücklassen. Der Armutssockel Indiens ist immer noch so enorm, dass er durch eine – ohnehin beschäftigungsarme – moderne Wirtschaftstätigkeit kaum abgetragen wird.
Ein Mord?
Und wie ging es weiter mit der Jagd auf T1? Es kam, wie es kommen musste. In der Nacht auf den 3. November sichtete eine Patrouille das Tigerweibchen. Gemäss Protokoll schoss ein Veterinär einen Pfeil mit dem Betäubungsmittel aufs Tier ab. Dieses brach aber nicht zusammen, sondern griff die Truppe frontal an. Im letzten Augenblick gelang es darauf einem Scharfschützen, das Tier mit einem gezielten Schuss zu erlegen.
Doch wie so oft gilt auch hier: There are no full stops in India. Die Obduktion ergab, dass die Kugel T1 von hinten getroffen und sich weiter vorne festgesetzt hatte. Das Tier befand sich also nicht im Angriff, sondern war auf der Flucht. Und der Pfeil sass nur locker im Gesässteil, ganz so als sei er ins tote Tier gesteckt worden, damit der Standard Operating Procedure Genüge getan war. Die Tierschützer sprachen von einem Mord. Doch in den Dörfern wurde der Schütze mit Girlanden empfangen.