Man kann die zahlreichen Kriegsschauplätze aufzählen und versuchen, jeden einzelnen davon zu beschreiben, indem man seinen Reifezustand zu fassen versucht: Ist dieser Konflikt bereits auf dem Höhepunkt angelangt? Neigt er dem Ende zu? Beginnt er erst? Steht er noch bevor?
Raqqa belagert
Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht Raqqa. In der Stadt – seit 2014 Hauptstadt des IS – stehen geschätzte 2500 IS-Kämpfer. Sie werden belagert durch die SDF (Syrische Demokratische Kräfte). Diese sind im Kern und in leitender Funktion syrische Kurden der YPG (kurdisch abgekürzt für „Volksverteidigungseinheiten“), eingehüllt durch eine Kulisse lokaler arabischer Milizen, die sich dem Feldzug gegen Raqqa angeschlossen haben.
Diese Umhüllung ist wichtig, weil Stadt und Provinz Raqqa eine arabische Bevölkerung haben, nicht eine kurdische, und weil die Angreifer vermeiden wollen, dass der Krieg gegen den IS in Raqqa in einen ethnischen Krieg ausartet, der sich zwischen Kurden und Arabern abspielen würde. Die SDF wurden von Amerika bewaffnet und beraten. Ihre Offensive wird aus der Luft unterstützt durch die amerikanische Luftwaffenkoalition und am Boden durch amerikanische Sondertruppen, die neben Beratern auch bewegliche Artillerie Einheiten umfassen.
Gegenangriffe des IS in Raqqa
Die Stadt Raqqa ist umschlossen durch die belagernden Truppen der SDF. Diese waren in der vergangenen Woche in Teile der Stadt eingedrungen. Das westliche Quartier Senaa war der vorderste Punkt, den sie erreicht hatten. Doch am Freitag und Samstag (29. und 30. Juni) fand ein Gegenangriff des IS statt, wie üblich mit Selbstmordbomben auf Automobilen, bewaffneten Drohnen, Scharfschützen auf den Dächern und durch unterirdische Gänge, die es den IS-Kämpfern erlaubten, im Rücken der angreifenden Truppen aufzutauchen. Diese Überfallskommandos waren rasiert und trugen Uniformen der Angreifer, um die Überraschung auf die Spitze zu treiben. Auch solche Verkleidungen sind eine vom IS oft angewandte Methode.
Die SDF Kämpfer sahen sich nach den Aussagen ihres Oberkommandos gezwungen, nach stundenlangen Kämpfen das Viertel Senaa wieder zu räumen. Sie hielten sich im dahinter liegenden Quartier auf, al-Meshleb, wo ebenfalls heftige Kämpfe tobten und in zwei benachbarten Vierteln.
Doch in den Tagen darauf meldeten die Sprecher des SDF, ihre Truppen seien ihrerseits zu einer neuen Offensive angetreten, und sie seien bis an die Mauer vorgedrungen, welche die Altstadt von Raqqa umgibt. Sie hätten in diese alte Stadtmauer eine 25 m weite Bresche gesprengt. Dies um zu vermeiden, den Angriff auf die Innenstadt durch das Stadttor führen zu müssen, dessen unmittelbare Umgebung besonders dicht vermint sei.
Lange Belagerung zu erwarten
Wie im benachbarten irakischen Mosul, wo die Kämpfe – begonnen im Oktober des vergangenen Jahrs – immer noch andauern, obwohl es nur noch 300 IS-Bewaffnete sein sollen, die Widerstand leisten, aber noch immer Gegenangriffe im Rücken der Angreifer auslösen – hat man in Raqqa eine lange und zähe Belagerung zu erwarten. Sie wird – verglichen mit Mosul – dadurch belastet, dass es weitere Kriegshandlungen in Syrien gibt, von denen einige sich dahin auswirken könnten, dass die Belagerung Raqqas nicht gleich energisch weitergeführt werden kann, wie sie begonnen hat.
Weitere Aktive Fronten
Aktive Kämpfe, die jedoch eher im Anfangsstadium stehen und ihren Höhepunkt noch nicht erreicht haben, finden an drei Fronten statt:
1. In at-Tanf, tief in der südlichen Wüste und nah an dem dortigen Dreiländereck, dem Treffpunkt der syrischen mit den jordanischen und irakischen Grenzen.
2. In der Provinz und der Provinzhauptstadt Deir az-Zor, südöstlich von Raqqa, weiter unten am Euphrat gelegen und im Süden angrenzend an den Irak.
3. Neu in Nordsyrien bei dem Flecken Azzaz, an der östlichen Grenze der kurdisch bewohnten und beherrschten Enklave von Afrin, die von YPG-Kämpfern gehalten wird, jedoch abgetrennt ist von den weiten Gebieten unter kurdischer Herrschaft, weiter östlich an der syrisch-türkischen Grenze.
Um mit Azzaz zu beginnen: der rund 90 Kilometer breite Streifen, der zwischen den beiden kurdisch beherrschten Gebieten liegt (Afrin im Westen, die drei Provinzen: Kobbane, Hassakeh und Qameschli im Osten) wird seit August 2016 von der Türkei beherrscht. Doch es sind hauptsächlich syrische Kämpfer der SLA (Syrische Befreiungsarmee), die von der Türkei ausgerüstet und unterstützt die dortigen Bodentruppen ausmachen.
Türkische Kriegsflugzeuge unterstützen sie, sowie türkische Artillerie von jenseits der syrisch-türkischen Grenze. Es gibt aber auch Einheiten der türkischen Streitkräfte, die in diesem Raum operieren. In den vergangenen Wochen wurden diese Einheiten verstärkt. Die Annahme besteht, dass sie dazu eingesetzt werden könnten, die Enklave von Afrin ganz oder teilweise zu besetzen.
Ankara gegen die YPG, die USA teilweise dafür
Der Türkei geht es darum, auf keinen Fall zuzulassen, dass kurdische Kräfte den ganzen Grenzbereich südlich der türkisch-syrischen Grenze beherrschen und dort ihren eigenen autonomen oder voll unabhängigen Staat oder Teilstaat bilden. Dies ist das erklärte Ziel der YPG. Ankara ist der Ansicht, dass diese YPG mit der türkisch kurdischen PKK „identisch“ sei. Die PKK steht seit 1984 im Aufstand gegen Ankara und wird auch gegenwärtig von Ankara aktiv bekämpft.
Gegenwärtig gibt es Artillerie-Gefechte zwischen den türkischen und pro-türkischen Kämpfern (der SLA) und jenen der YPG im Raum von Azzaz. YPG-Kommandanten haben erklärt, sie würden auf jeden Fall den türkischen und pro-türkischen Kräften Widerstand leisten, falls diese in Afrin eindringen sollten. Wenn dieser Kampf notwendig werde, so drohten die Kurden, könnte er die Belagerung von Raqqa schwächen, weil YPG-Kräfte von Raqqa abgezogen werden müssten.
Lavieren zwischen Türken und Kurden
Für Ankara ist die Hilfe, die Washington den Kämpfern der YPG zukommen lässt, ein „Verrat“ am Nato Mitgliedstaat der Türkei. Am vergangenen Freitag befand sich der Beauftragte Washingtons für den Luftkrieg gegen den IS, Brett McGurk, in Ankara, um zu versuchen, die Türkei zu beruhigen. Den Kurden haben die Amerikaner mitgeteilt, für Aktionen östlich des Euphrats seien sie ihre Helfer und Verbündeten, doch für Aktionen westlich des Stroms könnten sie keine amerikanische Hilfe erwarten.
Der amerikanische Verteidigungsminister sagte, die USA würden die Waffen, die sie den Kurden gegeben hätten, wieder zurücknehmen, nachdem Raqqa gefallen sei. Ankara dürfte jedoch solche Versicherungen mit Skepsis aufnehmen.
Zuwarten in Damaskus
Damaskus, zu dessen Staatsgebiet die kurdisch beherrschten Provinzen gehören, äussert sich öffentlich selten über die Kurden. Für die Asad-Regierung hat die Kurdenfrage keine Priorität. Asad kann damit rechnen, dass er sie anpacken kann, nachdem er andere, zentralere Teile Syriens wieder unter seine Herrschaft gebracht haben wird. Die Türkei und Iran würden ihm gegen die Kurden jedenfalls behilflich sein.
Die Russen scheinen im Augenblick eher einer kurdischen Autonomie zuzuneigen, dürften diese aber als stark begrenzte Autonomie auffassen. Sie könnten sich später auch bereit zeigen, in dieser Hinsicht Asad nachzugeben. Die YPG jedoch dürften schwerlich kampflos aufgeben. Die Kurdenfrage bleibt ungelöst. Sie könnte zu weiteren Kämpfen führen.
Der Wettlauf um die Provinz Deir az-Zor
Die beiden Kampfesfronten von at-Tanf und bei Raqqa sind politisch miteinander verbunden. Es geht darum, wer nach dem Fall von Raqqa die Provinz von Deir az-Zor und der gleichnamige Hauptstadt, unterhalb Raqqas am Euphrat gelegen, beherrschen wird. Die Provinz befindet sich zurzeit in der Macht des IS – ausgenommen ein Teil der Hauptstadt und der mit ihr verbundene Militärflughafen, die seit 2014 von der syrischen Armee Asads gehalten werden.
Die syrische Armee versucht sich der Provinz zu bemächtigen, während ihre Gegner, die Kämpfer der SDF und deren Helfer, die Amerikaner, mit der Belagerung von Raqqa beschäftigt sind. Zu diesem Zweck stossen syrische Armeeeinheiten und deren Helfer, Hizbullah-Kämpfer, iranische Berater, weitere schiitische Hilfstruppen aus dem Irak, auf zwei Achsen gegen Deir az-Zor vor. Eine nördliche Einheit aus der Provinz Aleppo nach Osten abzielend, an Raqqa vorbei und im Bogen nach Deir az-Zor hinab, sowie eine südliche, der syrisch-jordanischen und syrisch-irakischen Grenze entlang, wo auch die Hauptstrasse von Bagdad nach Damaskus verläuft, mit dem Ziel, den südlichen Teil der Provinz Deir az-Zor zu erreichen, wo die irakisch-syrische Grenze den Euphrat überquert.
Unterhalb der Stadt Deir az-Zor, auch am Euphrat, liegt die Stadt Mayadin. Die Amerikaner vermuten, dass dort führende Personen des IS Unterschlupf gesucht haben, und die Stadt wird aus diesem Grund gegenwärtig schwer bombardiert. Dabei wurde auch ein Gefängnis getroffen, in dem die IS-Schergen ihre Feinde gefangen hielten. Viele von ihnen verloren durch den amerikanischen Bombenangriff ihr Leben. Die syrischen pro-Regierungskräfte haben das Euphrat Tal noch nicht erreicht.
Das amerikanische Ausbildungslager in at-Tanf
Die südliche Kolonne der Pro-Asad Kräfte reibt sich auf ihrem Weg der irakisch-syrischen Grenze entlang an einem amerikanischen Stützpunkt in at-Tanf, wo die Amerikaner Milizen ausbilden, die ihrerseits – jedoch ohne grosse Erfolgsaussichten – ebenfalls darauf ausgehen, in der Provinz Deir az-Zor den IS zu bekämpfen. Sie stehen bei diesem Vorhaben in Konkurrenz mit der südlichen Kolonne der syrischen Regierungstruppen, und diese scheint ihnen überlegen zu sein.
Im Umfeld von Tanf sind die Amerikaner mehrmals mit Pro-Asad-Milizen zusammengestossen. Dies geschah, weil die Amerikaner die Pro-Asad-Kräfte davon abhalten wollen, zu nah an ihr Ausbildungslager, das sich auf syrischem Territorium befindet, heranzukommen.
Ein iranischer „Korridor“?
Tanf liegt an der Hauptstrassenverbindung zwischen Bagdad und Damaskus. Die dortige amerikanische Präsenz bildet einen Riegel bei dieser Verbindung. Dies dürfte von den Amerikanern beabsichtigt sein. Ihnen geht es darum, zu verhindern dass eine Verbindungsachse zu Land – die Rede ist von einem „Korridor“ – zwischen Iran und Südlibanon entsteht, auf der die iranischen Revolutionswächter Waffen für Hizbullah nach Libanon bringen könnten.
Südirak steht dem Einfluss Irans offen, und im Syrien Asads spielt Iran eine wichtige Rolle, weshalb ein derartiger Korridor in den Bereich des Möglichen rückt. Bisher war Iran darauf angewiesen, die Waffen für Hizbullah auf dem Luftweg nach Syrien zu bringen und sie von dort aus über die Grenze nach Libanon zu schmuggeln.
Die Rolle Israels
Die Israeli griffen dagegen mit ihren Kriegsflugzeugen ein, falls und sobald sie von derartigen Transporten erfuhren.
Zurzeit haben die Israeli deutlich gemacht, dass sie die Gegenwart von iranischen Kräften an den Golangrenzen nicht dulden wollen. Sie unterstützen offenbar heimlich einige der Rebellengruppen an ihrer Grenze, die gegen Asad und dessen iranische Bundesgenossen ankämpfen, und sie haben dafür gesorgt, dass zwei amerikanische Blätter über diese geheime Hilfe schrieben, so dass deren Artikel sodann von der israelischen Presse zitiert werden konnten, wie dies in derartigen heiklen Fällen in Israel üblich ist.
Das Vorgehen erlaubt es den israelischen Geheimdiensten, Teile ihrer Tätigkeit öffentlich zu machen, die sie publiziert sehen wollen, ohne selbst über ihre eigenen Aktivitäten Aussagen machen zu müssen.
Nördlich von Deir az-Zor Zusammenstoss mit US-Kräften
Die weiter nördlich vorrückende Kolonne der syrischen Armee und deren Hilfskräfte reiben sich ebenfalls an den Amerikanern, genauer an den von den USA unterstützten SDF-Kräften. Bei der Umgehung von Raqqa auf dem Weg nach der Nachbarprovinz Deir az-Zor sind die beiden zusammengestossen, und die Amerikaner haben am 18. Juni zum ersten Mal ein syrisches Kriegsflugzeug abgeschossen, was zu scharfen russischen Warnungen führte.
Doch die Amerikaner betonen, ihr Krieg werde zur Bekämpfung des IS in Raqqa geführt, nicht gegen die Armee Asads. Die syrische Armee ihrerseits geht darauf aus, den IS aus der Stadt Deir az-Zor zu verjagen, den seit Jahren belagerten Militärflugplatz zu entsetzen und soweit möglich selbst die Provinz und deren Erdölbohrungen in Besitz zu nehmen. Beide Seiten sind daher im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht daran interessiert, sich nördlich und westlich von Raqqa in Kämpfe gegeneinander zu verwickeln.
Was geschieht nach dem Fall Raqqas?
Was aber nach dem schlussendlich zu erwartenden Fall Raqqas geschehen wird, bleibt offen. Ob die Amerikaner dann einen „Sieg“ erklären und ihren Lufteingriff in Syrien beenden werden, ist ungewiss. Doch diese Ungewissheit hindert weder Asad noch die Rebellen daran, schon gegenwärtig zu versuchen, in der Nachbarprovinz, Deir ez-Zor, eine führende Position zu erlangen.
Abwarten an zahlreichen Sekundärfronten
Es gibt nach wie vor zahlreiche grössere oder kleinere Gebiete in Syrien, die von Rebellengruppen gehalten werden. Die syrischen Regierungstruppen mit ihren Hilfsmilizen sind zu schwach, um an all diesen Stellen gleichzeitig aktive Fronten zu unterhalten. Sie müssen dies auch nicht tun, weil die gegnerischen Milizen ihrerseits über keine geeinigte Führung verfügen, die sie anleiten könnte, gemeinsame Offensiven an neuralgischen Stellen dermassen zu führen, dass sie die weit verstreuten syrischen Kräfte, die sie umfangen und belagern, unter Druck setzen könnten.
Diese verzettelten Fronten neigen daher zur Passivität. Nur an einzelnen Punkten, wo der Regierung die Präsenz von Rebellenkräften besonders unbequem ist, übt die syrische Armee genügend Druck auf die Rebellen aus, um sie zu zwingen, ihre Positionen zu räumen und über den Abzug der Bewaffneten mit ihren Familien zu verhandeln. Die Verhandlungen können lange Zeit andauern.
Schliesslich gelangen sie unter Belagerungsdruck regelmässig zu der von Damaskus bevorzugten Lösung eines Abzugs der bewaffneten Rebellen und ihrer Familien in von der Regierung gestellten Autobussen nach der Provinz Idlib in Nordwestsyrien, die sich vorläufig in den Händen der Widerstandsgruppen gegen Asad befindet.
Idlib – Sammelbecken der Rebellen
Idlib wird von den Russen und von der syrischen Luftwaffe bombardiert. Doch eine Offensive zu Land gegen Idlib gibt es zurzeit nicht. Diese ist offenbar aufgeschoben bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Wettlauf um die Provinz Deir az-Zor bendet sein wird. Dann könnten syrische Truppen frei werden, um gegen Idlib vorzugehen.
In Idlib bildet die ehemalige Nusra-Front den Kern des Widerstandes und der improvisierten lokalen Verwaltung. Andere Gruppierungen sind verbündet oder kollaborieren mit ihr, je nach Einzelabkommen für jede geplante Aktion. Zwischen Nusra und Rivalen unter den Rebellengruppen ist es mehrfach zu Kämpfen gekommen.
Die gegenwärtige Spaltung zwischen Saudi-Arabien und Katar mit den VAE (Vereinigte Arabische Emirate) auf Seiten Saudiarabiens, dürfte sich auf die Rebellengruppen auswirken, die nicht zu Nusra gehören. Viele von ihnen erhielten Geld und Unterstützung von der einen oder der anderen Seite im Golfstreit, und manche von beiden Seiten. Alle werden sich nun entscheiden müssen, ob sie es mit Katar oder mit seinen Gegnern, Saudiarabien und den Emiraten, halten.
Die Nusra-Front unter Bombenbeschuss
Die Nusra-Front hat ihren Namen geändert. Sie heisst neuerdings „Gruppierung zur Befreiung von Syrien“, und sie hat schon seit geraumer Zeit ihre Verbindung zur Kaida, mit Zustimmung des Kaida-Chefs Zawaheri abgebrochen. Dieser Schritt sollte dazu dienen, den Anschluss anderer Rebellengruppen an die neue „Gruppierung“ (arabisch: „Hay'a“, nicht „Jubha“, Front) zu erleichtern.
Doch in den Augen der Russen und der Amerikaner bleiben die Anhänger der „Gruppierung“ extreme Jihadisten, die – zusammen mit dem IS – von allen Friedens- und Waffenstillstandsangeboten ausgeschlossen sind. Sie sind und bleiben Ziele von Bombenangriffen der Russen, der Syrer und unter Umständen auch der Amerikaner.
Früher oder später, wenn für Damaskus die Zeit dafür reifen sollte, wird auch Idlib Ziel einer Landinvasion durch die syrischen Truppen werden. Doch gegenwärtig ist die Provinz das Hauptziel jener, die nach Verhandlungen mit Zustimmung der Asad-Regierung aus anderen Teilen Syriens abziehen, wie im vergangenen Mai aus den Aussendistrikten von Damaskus, Qabun und Barzeh, und im Juni aus Jobar, einem südlichen Vorort von Damaskus, wo es immer noch Widerstandsgruppen gab, die nun evakuiert worden sind. Nur in der östlichen Ghuta, dem Landstrich östlich von Damaskus, bleibt noch ein grösseres ländliches Gebiet, das sich in Händen des Widerstandes befindet, wo aber die Mitglieder und Verbündeten der „Gruppierung“, früher Nusra, mit anderen Widerstandsgruppen in bitterem Streit liegen.
Restgruppen verstreut in den Dörfern
Widerstandsgruppen, die sich noch auf dem Lande, nicht mehr in grösseren Städten, zu halten vermögen, findet man auch nördlich und südlich von Hama. Doch sie scheinen nicht mehr in der Lage zu sein, die Hauptstrasse und Hauptachse Syriens, die von Damaskus nach Aleppo führt, zu sperren oder den dortigen Verkehr zu behindern.
Aus dem nördlichen Hinterland von Aleppo, das sich seit 2013 im Besitz von IS befand, wird gemeldet, der IS habe 17 Dörfer geräumt und die Regierungstruppen seien dort eingezogen. Der IS konzentriere seine verfügbaren Kämpfer im Raum von Raqqa, um sie gegen die Belagerer einzusetzen, und in den Restgebieten bei Hama, die er noch beherrscht.
Die südlichen Widerstandsfronten
Es gibt weiter zahlreiche verzettelte Widerstandsgebiete und Fronten in der Nähe der jordanischen Grenze. Sie werden gesamthaft als die südliche Front angesprochen. Die dortigen Rebellen unterstehen der Leitung und erhalten Hilfe durch einen Operationsraum in Jordanien, in dem jordanische und amerikanische Offiziere wirken und über den saudische und andere Golfgelder an die Widerstandsgruppen fliessen.
Die syrische Armee leistet an dieser Front energischen Widerstand und führt Gegenoffensiven, weil diese Front nahe an Damaskus liegt und ein Durchbruch von ihr aus nach Norden vom Staat Asads unbedingt verhindert werden muss. Die Stadt Deraa mit den sie umgebenden Dörfern, an der jordanischen Grenze gelegen, wo im März 2011 die ersten Unruhen ausbrachen, ist aus diesem Grunde beständig umkämpft. Sie wird auch von syrischen Flugzeugen und manchmal von russischen bombardiert. Die Zivilbevölkerung leidet dementsprechend.
Scharfe Beobachtung und Gegenschläge Israels
Dass die Leiter des jordanischen Operationsraums ernsthaft einen Vormarsch Richtung Damaskus anstreben, ist unwahrscheinlich. Sie müssen sich fragen, was sie tun würden und zu tun vermöchten, wenn die von ihnen gesteuerten Milizen bis in das Umfeld der Hauptstadt gelangen sollten. Wahrscheinlich sähen die Russen sich veranlasst, zu Gunsten der Asad-Regierung einzugreifen.
Wo die „südliche Front“ auf die von Israel besetzten Golanhöhen stösst, wirft die israelische Regierung ein scharfes Auge auf alle Bewegungen. Jedes Mal, wenn Granaten auf dem von Israel besetzten Gebiet niedergehen, sei es absichtlich oder sei es Streufeuer, schlagen die Israeli heftig zurück mit Artillerie oder Flugzeugen auf die vermuteten Quellen des Feuers. Ihnen geht es vor allem darum, zu verhindern, dass künftig iranische oder pro-iranische Kräfte zu diesem Raum, nahe an der syrisch-israelischen Waffenstillstandslinie, Zugang erlangen. Falls sie sich dort ansetzen könnten, würden sie Israel direkt bedrohen und eine Ausdehnung und Ergänzung zur Präsenz von Hizbullah an der libanesischen Südgrenze bilden.
Zusammenarbeit der Saudis und Israeli
Die gemeinsame Feindschaft gegen Iran hat bereits eine Zusammenarbeit der saudischen mit den israelischen Geheimdiensten und eine Annäherung der beiden einst feindlichen Staaten zueinander bewirkt. Saudiarabien bleibt nach wie vor ein wichtiger Partner der syrischen Widerstandsgruppen und dürfte dies – im Zeichen der Feindschaft gegen Iran – sogar dann bleiben, wenn es den pro-Asad Kräften gelingt, alle Territorien zurückzugewinnen, die sich noch in Rebellenhänden befinden, und wenn die Widerstandsgruppen, einschliesslich des IS und der „Gruppierung“, gezwungen sein werden, ohne eigene Territorien die Existenz einer gewalttätigen Untergrundopposition in Syrien zu führen und nur noch mit Bombenanschlägen zu kämpfen.
Die vorläufig „dekonfliktierten“ Supermächte
Über all diesen verzettelten Fronten wachen gemeinsam die „Supermächte“ Russland und Amerika. Sie haben ein gegenseitiges Dekonfliktierungs-Abkommen, das bewirken soll, dass die Kriegsflugzeuge der beiden Seiten nicht aufeinander stossen und sich nicht gegenseitig abschiessen. Nach dem oben erwähnten Abschuss eines syrischen Migs durch die Amerikaner vom 18. Juni erklärte der russische Aussenminister, dieses Abkommen sei nun beendet. Doch die Amerikaner sagten aus, es daure auch weiterhin an.
Schon einmal hatten die Russen das Abkommen beendet, als amerikanische Flugzeuge am 17. September 2016 syrische Soldaten bombardierten, die sie für IS-Kämpfer hielten. Dies kostete mindestens 15 syrischen Soldaten das Leben. Anfänglich war von 65 Todesopfern die Rede. Die Amerikaner räumten ein, es habe sich um einen Irrtum gehandelt, und die Dekonfliktierung wurde stillschweigend wieder aufgenommen.
Amerikaner und Russen haben beide ein gemeinsames Ziel, die Bekämpfung des IS und der „Gruppierung zur Befreiung Syriens“ (ehemals Nusra-Front). Doch sie sind Gegner in Bezug auf die Zukunft des Asad-Regimes. Die Russen wollen dieses bewahren, wenngleich sie nicht ausschliessen, dass es neu organisiert oder durch zukünftige „Wahlen durch alle Syrer“ verändert werden könnte.
Die Amerikaner hatten anfänglich, im Jahr 2011 erklärt: „Asad muss gehen!“. Doch später, noch unter Präsident Obama, schlossen sie nicht aus, dass dies nach Wiederherstellung eines erhofften Waffenstillstands und Friedens und nach einer möglichen Übergangsfrist geschehen könnte. Jüngst hat Aussenminister Rex Tillerson erklärt, die Zukunft Asads sei Angelegenheit der Russen.
Welche Politik für Amerika?
Was Präsident Trump genau will, weiss man nicht, vielleicht nicht einmal er selber. In seinen Wahlreden vor seiner Wahl erklärte Trump, dass er Asad schätze und mit ihm zusammenzuarbeiten gedächte. Doch als Präsident hat er sich gegen ihn und besonders gegen den angeblich von ihm verschuldeten Giftgasangriff vom 4. April auf den Flecken Khan Shaykhun in der Idlib-Provinz empört und zwei Tage darauf den syrischen Flughafen von Shayrat, den vermuteten Ausgangspunkt des Gasangriffs, mit 59 Tomahawk-Raketen beschiessen lassen.
Russland sucht offensichtlich, den gegenwärtigen Krieg in Syrien durch einen Waffenstillstand und späteren Frieden zu beenden und gleichzeitig seine beiden Basen in Syrien zu bewahren, die ältere, schon unter der Sowjetunion errichtete Marinebasis bei Tartous, und die neue Luftbasis von Khmeinim, unweit von Lattakiya.
Dabei müsste nach Moskau Asad an der Macht bleiben, bis er „vom syrischen Volk“ abgewählt würde. Wobei allerdings darauf hingewiesen werden muss, dass bisher Asad unter der Aufsicht seiner Geheimdienste „gewählt“ worden war, ohne die geringsten Chancen für Gegenkandidaten. Dies würde zweifellos wieder geschehen, falls Asad an der Macht bleibt und seine eigene Wiederwahl organisieren kann.
Trumps Optionen nach einem Sieg über den IS
Nach einem früher oder später zu erwartenden Sieg über den IS und dann auch über die „Gruppierung für den Sieg über Syrien“ in Idlib bestünde die Möglichkeit für Washington, diese Siege zu benützen, um seine Syrien-Aktion zu beenden und auf die Vorstellungen der Russen soweit einzugehen, dass ein Waffenstillstand und ein Friedensprozess in Syrien zustande käme. Allerdings müsste auch dann damit gerechnet werden, dass die syrischen Widerstandsgruppen – allen voran der bisherige IS und die Überreste der „Gruppierung“ – versuchen würden, einen Untergrundkrieg durch Bombenanschläge weiterzuführen, und dass dieser Untergrundkrieg wahrscheinlich eine Zeitlang andauern würde, bevor er (von Asad mit russischer und iranischer Hilfe?) bewältigt werden kann.
Iran würde zweifellos seinerseits versuchen, einen Lohn zu erlangen für seine Opfer zu Gunsten Asads an Geld und an Menschenleben. Etwa in Gestalt des oben erwähnten Korridors, und Saudiarabien würde versuchen, dies in mehr oder weniger offener Zusammenarbeit mit Israel zu verhindern. Wenn Trump (falls er dann noch da sein sollte) sich entschliessen kann, den zu erwartenden Sieg über den IS als territoriales Gebilde und über die „Gruppierung“ in Idlib zu benützen, um die amerikanische Militärpräsenz aus Syrien zu entfernen, erhält das Land eine Chance, dem Zustand eines zusammengebrochenen Staates zu entgehen, allerdings wahrscheinlich unter der fortgesetzten Herrschaft des Tyrannen Asad.
Wenn Trump sich jedoch von seinen Freunden in Israel und in Saudi-Arabien und von den Vertretern der amerikanischen Waffenlobbies überzeugen lässt, den Kampf in Syrien gegen Asad und gegen den iranischen Einfluss in Syrien weiterzuführen, bleibt Syrien ein zusammengebrochener Staat und eine blutgetränkte Arena, in der die beiden Superstaaten ihr gewagtes Ballet der „Dekonfliktierung“ fortführen, welches jederzeit in eine Weltkatastrophe, möglicherweise nuklearer Natur, umschlagen kann.