Noch ist nicht sicher, ob die Syrien-Giftgas-Krise gelöst ist. Viele Fragen und Ausgänge sind noch offen. Wird Asad die in Genf von Kerry und Lawrow vereinbarten Verpflichtungen erfüllen? Wird Russland Syrien dazu drängen oder zwingen? Was tut Russland, wenn Asad sie ignoriert? Wird es in diesem Fall im Uno-Sicherheitsrat auf sein Veto verzichten und für Sanktionen stimmen? Werden diese Sanktionen so streng sein, dass sich Asad dem Befehl fügt, alle unter seiner Kontrolle stehenden Giftgaswaffen zu vernichten? Gibt es nicht auch noch Giftgas bei den syrischen Rebellen? Falls ja, werden auch sie sie deklarieren und vernichten müssen und lassen?
Viele Fragen, welche viele Skeptiker zweifeln und an echten Fortschritten verzweifeln lassen. Aber auch wenn noch vieles offen ist:
In der abgelaufenen Woche ist Ausserordentliches passiert, was die Lage in der Weltpolitik und in und um Syrien verändert.
Das Giftgas-Tabu bleibt!
1. Giftgas-Tabu: Das ist das allerwichtigste. Der russische Aussenministers Lawrow hat öffentlich gesagt, Syrien müsse seine Giftgaswaffen offenlegen und sie vernichten. Selbst wenn das gemäss den Skeptikern nur ein taktischer Vorstoss zum Zeitgewinn Asads wäre, was mehr und mehr unwahrscheinlich ist: Selbst dann hat sich jetzt die Weltmacht Russland nach langem syrien-taktischen Zögern klar dazu bekannt, dass das fast jahrhundertlte Tabu gegen Giftgaswaffen, dass Verbot und Nichtanwendung von Giftgas in allen Kriegen der Welt von überragendem Interesse sind.
2. Syrien als solches, so grässlich auch sein Bürgerkrieg ist, ist im Rahmen der Weltpolitik wieder einem noch höheren Ziel untergeordnet worden: dem Giftgas-Tabu. Die Debatten der letzten Wochen beschäftigten sich oft und oft ausschliesslich mit der Frage „was ändert sich denn in Syrien, wenn es die Amerikaner mit Militärschlägen strafen?“ Eine engstirnige, bloss mit aktuellen taktisch-politischen Fragen beschäftigte Diskussion. Und man fragte: Warum tut die internationale Gemeinschaft nichts gegen 100000 Tote im Krieg Asads gegen seine Rebellen mit Bomben, Mörsern und Artillerie, aber jetzt plötzlich wegen bloss 1000 Giftgas-Opfern?
3. Das historische Tabu. Solche Fragen verdunkeln ein historisches Tabu durch.wenn auch noch so wichtige, aber bloss aktuelle Strategiedebatten, die die Nichtanwendung von Giftgas im Krieg überhaupt un immerzu verdunkeln. Giftgas ist seit einem Jahrhundert (erster Giftgas-Gebrauch 1915 im ersten Weltkrieg im belgischen Ypern) nicht eine Waffe wie jede andere, es ist das neben Atomwaffen hundert Jahre lang in der ganzen Welt mit wenigen Ausnahmen beachtete einzige Tabu gegen Massenvernichtungswaffen.
4. Russland. Mit Russlands Vorstoss ist die Debatte von taktischen Überlegungen über Syrien und den Nahen Osten weltweit wieder auf dieses Niveau gehoben worden, wohin sie gehört: die weltweite, unbeschränkte und auf Jahrzehnte hinaus gesicherte Aufrechterhaltung des Tabus gegen den Gebrauch von Giftgas im Krieg. Ohne Obamas Drohung mit Vergeltung und ohne Russlands darauf folgende Forderung an Asad, sein Giftgas-Arsenal offenzulegen, wären von Stund an Tür und Tor offen gestanden für den Einsatz von Giftgas von wem auch immer, Diktaturen wie Syrien, Nordkorea und vielen anderen Ländern.
5. Kaum beachtet: Syrien hat erstmals überhaupt zugegeben, Giftgaswaffen zu besitzen!
Wieder kalter Krieg? Vergiss es!
6. Obama und Russland. Putin und sein Aussenminister Lawrow haben es taktisch brillant gespielt. Heute sieht es so aus, als habe es Obama ihnen zu verdanken, aus einer innen- und aussenpolitisch verfahrenen Lage herauszukommen. Obama hat das Spiel in der Tat dilettantisch gespielt, sein Kampf gegen Giftgas erschien schnell als amerikanischer Schachzug, um mittels Intervention in Syrien im Mittleren Osten amerikanische Interessen zu verfolgen. Auch wenn er jetzt, zu Recht, unter diesem Amateur-Fehler leidet, ist es aber unbestreitbar, dass seine Drohung mit einem Militärschlag zum aussichtsreichen diplomatischen Lösungsversuch geführt hat.
7. Erwärmung im „Kalten Krieg“: Erstmals seit langem haben Russland und die USA wiedereinmal die Möglichkeit ihrer Verständigung ihrer zwei Grossmächte in existentiellen Fragen der Weltpolitik gefunden und demonstriert. Nun, es gab seit Jahren keine so existentielle Krisen mehr und angesichts atmosphärischer Verschlechterung ihrer Beziehungen munkelte man von der „Wiedergeburt des Kalten Kriegs“. Obama und Putin haben nun bewiesen, dass sie sich immer noch finden und den regionalen Diktatoren Lösungen diktieren können, wenn eine Krise an einem Punkt die Welt zu destabilisieren droht.
8. Asad. Kenner der syrischen Szene halten es für möglich, dass nicht Asad selber den Befehl zum Giftwaffeneinsatz gegeben habe. Er sei nicht wie sein Vater ein allmächtiger Diktator, sondern müsse mit seinen ihm theoretisch untergebenen Militärs, Geheimdiensten und sogar mit seinem jüngeren Bruder paktieren, der eine wichtige Militüreinheit befehligt und viel rücksichtsloser sei. Vielleicht hätten sie den Giftgaseinsatz in Damaskus eigenmächtig befohlen. Lawrow und Kerry wissen sicher Bescheid, ob das wirklich so ist.
9. Russische und amerikanische Meisterdiplomatie? Wenn ja, haben es Lawrow und Kerry mit ihrer Forderung nach Offenlegung und Vernichtung der Chemiewaffen Asad ermöglicht, mit einer sofort weltweit bekanntgewordenen Zustimmung das eigenmächtige Wirken dieser Scharfmacher innenpolitisch zu neutralisieren und sie mindestens beim Thema „Giftgas“ wieder seiner Kontrolle zu unterwerfen. Die innenpolitischen Intrigen in einem arabischen Land wären von Amerika und Russland in einem diplomatischen Seilziehen hochintelligent ausgenützt worden, um das weltpolitisch viel wichtigere Giftwaffen-Tabu aufrechtzuerhalten, ohne dass Obama die Drohung mit Militärschlägen unbedingt wahrmachen muss. Das wäre – eine nicht unwahrscheinliche Spekulation - eine diplomatische Meisterleistung
Keine Garantie. Aber doch...
Das alles garantiert noch keinen glücklichen oder akzeptablen Ausgang der Syrien-Krise. Zu vieles ist noch offen und intransparent. Aber die hier zusammengefassten Tatsachen sind wirklich Tatsachen, welche mehr Hoffnungen zulassen, als die Skeptiker wahrhaben wollen.