Die Aussenminister John Kerry und Sergei Lawrow hatten erst Mitte September in Genf vereinbart, dass nach einem siebentägigen Waffenstillstand der Datenaustausch beginnen sollte.
Das Zusammenspiel Damaskus-Moskau
Doch die Realität entwickelt sich in anderer Richtung. Die syrischen Regierungstruppen starteten mit aktiver russischer Unterstützung die Eroberung des von Rebellen kontrollierten Ostteils der Millionenstadt Aleppo. Die USA fühlten sich düpiert. In der Nacht zum Donnerstag drohte Kerry in einem Telefongespräch mit Lawrow, die Syriengespräche so lange auszusetzen, „bis Russland unmittelbare Schritte unternimmt, den Angriff auf Aleppo zu beenden und eine Waffenruhe wiederherzustellen“.
Die Drohung stiess in Moskau auf taube Ohren. Russlands Regierung brachte ihre Propagandamaschine auf Hochtouren und beschuldigte die USA, die „Terroristen“ zu unterstützen. Gleichzeitig kündigte das russische Verteidigungsministerium die Entsendung von Militärexperten nach Genf an, um die Beratungen mit den USA fortzusetzen.
Putins Kalkül
Was steckt hinter dieser widersprüchlichen Haltung Moskaus? Der unabhängige russische Politologe Pawel Felgenhauer sieht ein unverändertes Ziel Putins: den Bürgerkrieg in Syrien zu gewinnen, die vom Westen unterstützte syrische Opposition zu eliminieren und Bashar al-Asad als rechtmässigen und siegreichen Präsidenten des Landes zu bestätigen. Damit soll dem westlichen Vormarsch im Nahen Osten mit dem Bestreben, unliebsame Regierungen zu stürzen, ein Riegel vorgeschoben werden.
Ist dieses Ziel realistisch? Kurzfristig angelegt und auf ein Land beschränkt, könnte die Rechnung aufgehen. Wer in Syrien die Grossstädte und die Mittelmeerküste kontrolliert, hat den Krieg praktisch gewonnen. Russland kann sich dabei auch weltweit als verlässlicher Verbündeter in allen Lebenslagen anbieten.
Nach sowjetischem Muster?
Doch was sind die längerfristigen Auswirkungen? Hauptziel Putins ist, mit den USA auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln. Die unbedachte Äusserung Obamas, Russland sei nur mehr eine regionale Grossmacht, hat Putin schwer verletzt. Der Kremlherrscher setzt jetzt alles daran, Russlands Macht zu demonstrieren. Er macht aber damit die gleichen Fehler wie die ehemalige Sowjetunion. Er steckt enorme Summen in die Rüstung auf Kosten der zivilen Wirtschaft, was schliesslich auf den Kollaps hinausläuft.
Putins Konzept der „gelenkten Demokratie“ findet Anklang in nationalistischen Bewegungen bis hinein nach Westeuropa. Mehr noch stösst es aber auf Abscheu. Uno-Generalsekretär Ban Ki-Moon, der drei Monate vor seinem Ausscheiden kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen braucht, nannte die absichtliche Bombardierung der zwei grössten Krankenhäuser Aleppos „Kriegsverbrechen“. In der Tat verbieten die Genfer Konventionen von 1949 ausdrücklich Angriffe auf Spitäler oder Sanitätspersonal.
Der Westen zurzeit am kürzeren Hebelarm
„Wir werden nicht zulassen, dass Aleppo zum Guernica des 21. Jahrhunderts wird“, erklärte der französische Aussenminister Jean-Marc Ayrault. Das sind starke Worte, doch der Westen sitzt derzeit am kürzeren Hebelarm. Ein massives militärisches Eingreifen in Syrien wird von keiner westlichen Regierung ernsthaft in Erwägung gezogen. Die Bevölkerung würde nicht mitziehen und es wäre auch nicht ratsam, den komplexen Syrienkonflikt mit Gewalt lösen zu wollen. Putin hat also weitgehend freie Hand. Ob er damit Russlands Rolle auf der Weltbühne nachhaltig stärkt, ist eine andere Frage.
Auch die USA und ihre engsten Verbündeten sollten ihre bisherige Haltung hinterfragen. Die von George W. Bush zur Maxime erhobene Politik des Regimewechsels und der „Demokratisierung“ des Nahen Ostens war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Obama setzte dieses Konzept mit Abstrichen fort. Seine damalige Aussenministerin Hillary Clinton meinte vor fünf Jahren, dass Asads Sturz nur mehr eine Frage von Wochen sei.
Analytische Fragen
Geopolitisch müsste offen analysiert werden, was zuerst war: die Ausweitung der Nato nach Osten oder die neue Aggressivität Russlands? Die Aufnahmegesuche der Ukraine und Georgiens in die Nato sind noch immer nicht vom Tisch. Alles hängt miteinander zusammen. Sicher ist nur eines: Wir stehen vor schwierigen Zeiten.