Genauso wie der Lifestyle-Guru Tyler Brûlé mit der Wahl des Wortes ‚SWISS‘ unserer Fluglinie neues Leben einatmete, hat sich ‚Presence Suisse‘ mit der ‚Swissness‘-Flagge aufgemacht, das ganze Land zu vermarkten. Diesen Geschäftspatrioten entgeht, dass sie damit eine nationale Eigentümlichkeit hinausposaunen, die sich gerade nicht zur Schau stellen will; dass sie also das ‚Produkt‘ zerstören, indem sie es so wohlfeil machen. Denn eine der Eigenschaften von ‚Swissness‘ ist Bescheidenheit, ja: Tiefstapelei. Dazu kommt, dass wir uns im Anpreisen von etwas ‚essentiell‘ Schweizerischem gefährlich dem Fundamentalismus der Heimat-Ideologen nähern, wenn diese von ‚Schweizerart‘ faseln.
Wer im Ausland lebt, ist stärker sensibilisiert für solche Trends als Leute zuhause. Im Ausland, Schauplatz der wirtschaftlichen und kulturellen Selbstbehauptung, zeigt jeder Staat Flagge. Auch Indien ist ein Kampffeld geworden, seit sich einige hundert Millionen Menschen zu Mittelklasse-Konsumenten gemausert haben. Allerdings bin ich erleichtert, dass das Schweizer Kreuz (noch) nicht so inflationär eingesetzt wird wie der ‚Union Jack‘, das Sternenbanner, oder, mit steigender Tendenz, das deutsche Schwarz-Rot-Gold. Und zur Belustigung von Schweizer Touristen erscheint es manchmal dort, wo es nicht hingehört – über einer Apotheke etwa, oder neben der Aufschrift jener Ambulanz in Bombay, die ausgerechnet ‚Red Cross Rescue‘ lautete.
Keine Bollywood Alpen-Kulisse
Vor einigen Tagen machte ich mit Freunden einen Höflichkeitsbesuch beim neuen Schweizer Botschafter in Delhi. Beim Aufgang ins Vestibül erhob sich ein Flaggenpaar vor meinen Augen, zwei Fahnenstangen in V-Form, die indisch und schweizerisch eingefärbten Fahnentücher zuoberst. Ich kannte die Vorliebe des früheren Hausherrn für grosse Gesten und stellte mit Bedauern fest, dass auch der neue Gastgeber sie übernommen hatte. Doch ich hatte mich getäuscht. Als uns Botschafter von Castelmur wenig später hinausbegleitete, meinte er beim Vorbeigehen entschuldigend, er werde das Gestänge nächstens entfernen; jeder Gast wisse schliesslich, dass dies quasi Schweizer Boden ist. „Und auch, dass wir in Indien sind“. Es war ein wohltuendes Zeichen von ‚Swissness‘ (und ich entschuldige mich, dass ich es hier, unschweizerisch, breitschlage).
Die Uhrenindustrie ist die eine Branche, die ihre Swissness nicht am Revers trägt. Gerade deshalb profitiert sie davon. Sie wirbt natürlich mit ihren Marken, aber nur die ‚Swatch‘ hat das ‚Swiss‘ in ihren Namen eingefügt, und dies wiederum – diskret. Ihre Markenpflege betreiben die Uhrenfirmen mit ‚Brand Ambassadors‘, und diese kommen meist mit einheimischen Gesichtern daher. In Indien sind es Bollywood-Stars wie Aishwarya Rai, Shahrukh Khan, Abhishek Bhachan, Katrina Kaif. Sie projizieren Jugend, Erfolg, Glamour; keine Bollywood Alpen-Kulisse schaut ihnen dabei über die Schulter. Das einzig Schweizerische ist – wiederum diskret – am unteren Rand des Zifferblatts versteckt: ‚Swiss Made‘ steht da, die winzigen Vokabeln links und rechts der 6 angebracht.
Auf der Suche nach den Kerntugenden
Das Gegenteil lässt sich von den Banken sagen: das ‚Swiss‘ von Credit Suisse und UBS ist integraler Bestandteil ihres Namens und damit ihrer Marke. Sie profitierten dabei lange (zu lange, wie sich heute zeigt) von unserer nationalen Mitläuferschaft, hatten wir doch das Bankgeheimnis zu einem Bestandteil unserer Gesetzgebung gemacht – eine perfekte Marketing-Plattform. So konnten sich die Banken auf den paradoxen Spagat spezialisieren, überlaut auf ihre Diskretion zu pochen. Es konnte nicht ewig gutgehen. Heute kämpfen nicht nur die Banken um ihren Ruf; auch die Schweiz macht sich eilig auf die Suche nach einer ihrer Swissness-Kerntugenden – Ehrlichkeit.
Sind wir dabei, sie wiederzufinden? Es gibt ein paar Anzeichen dafür. Das Erste meinte ich kürzlich auszumachen, als eine Delegation von Geschäftsleuten im Land war. ‚Think India‘ lautete ihr Name, aber sie hätte ebenso gut ‚Think Switzerland‘ heissen können. Denn zumindest mir gab sie den Anstoss, über solche Geschäftspromotionen nachzudenken. Sie folgen immer demselben Schema – die gleichen Politiker, die gleichen Verbandsvertreter, die gleichen Firmen. Sie sind Ausgeburten der wirtschaftlich-politischen Achse Zürich-Bern, und sie landen immer an denselben Orten, bei denselben lokalen Verbänden, denselben Firmen.
Was versteht der Ogi von Wirtschaft und von Indien?
Bei ‚Think India‘ war es anders. Auch bei ihr begann die Reise in Mumbai und ging nach Bangalore und Delhi, aber sie endete in – Varanasi. Die Delegation wurde in Thun und nicht in Zürich zusammengestellt. Und ihr gehörten KMUs an, ein buntes Gemisch aus Maschinenindustrie, Tourismus, IT-Dienstleistern und Logistikbuden. Der Delegationschef war zwar ein Alt-Bundesrat, aber er hiess – Adolf Ogi.
Zuerst schüttelte ich den Kopf, als ich dies sah: Was versteht der Ogi schon von Wirtschaft, und vor allem: was weiss er überhaupt von Indien? Er versteht wenig davon. Aber er weiss dies, und er besitzt eine Kernqualität von ‚Swissness‘: Er kann aus der Not eine Tugend machen. Statt sich mit Wirtschaftsführern über die indischen Investitionsregeln zu unterhalten, nahm er Augenmass, hörte aufmerksam zu, schaute die Betriebe an. Einem Unternehmer in Pune sagte er nach einem Fabrikbesuch (übrigens in gutem Englisch, tiefstaplerisch mit Oberländer-Akzent verfremdet): „I walked through your factory, I was very impressed. You do a fantastic job. I don’t know much about your company, but I know: This is world-class”.
”Ich war sehr beeindruckt von den Schweizern”
Sein Gegenüber horchte auf, war beeindruckt, gerührt. Dann überreichte ihm Ogi – nicht eine Omega-Uhr, auch keine vergoldete Caran d‘Ache, sondern eine kleine holzgeschnitzte Kuh. Zuerst hatten mich diese Billig-Geschenke etwas peinlich berührt. Doch dann merkte ich an der Reaktion des Industriellen, dass sie ein gutes Präsent waren (wenn auch haarscharf am Kitsch vorbei). Denn es durchbrach das sterile Austausch-Ritual solcher Gesten. Statt mit Geldwert zu prunken, wurde es empfunden als Ausdruck von Einfachheit, Handwerksstolz – und Herz.
Swissness lässt sich nicht mit Werbung verkaufen. Am Ende vermag es nur harte, schweisstreibende Arbeit. Falls es eines Beweises bedurfte, lieferte ihn die kürzliche Abstimmung über die Ferien-Initiative. Wie anderswo schüttelten auch die Inder den Kopf über so viel Eigen- und Gemeinsinn. Eine Kolumnistin des ‚Indian Express‘ sah es so: „Ich war sehr beeindruckt von den Schweizern, als sie kürzlich gegen sechs Wochen Ferien stimmten. Sie sahen, wie viel dies das Land kosten würde und sagten Nein. Das übergeordnete Gut gewann. Ein ganzes Volk tat, was vielleicht nicht einmal MBA-Abgänger tun würden. Die Eleganz, mit der sie es taten, war noch beeindruckender. Und sie sahen darin nichts Heroisches, sondern etwas Praktisches – die Zeitumstände verlangten es, punktum“. Im Schweisse Deiner Swissness sollst Du Deinen Ruf verdienen.