Surrealismus spielte sich, abgesehen von wenigen Ausnahmen (USA, Spanien und Mexiko zum Beispiel), in Frankreich ab. Hier trat er in den 1920er-Jahren als subversive künstlerische Stossrichtung an eine rasch empörte Öffentlichkeit. Er tat das, eng verbunden mit den Hauptakteuren um André Breton, mit deutlichem Hang zu einem Gesamtkunstwerk, das nicht nur bildende Kunst umfasste, sondern mindestens so schwergewichtig Literatur, Theater, natürlich Film und allerlei Philosophisches. All das führte zu endlose Disputen, Kämpfen und Streitereien, die oft mit Ausschluss einzelner Gruppenmitglieder durch den Surrealismus-Papst Breton endeten.
Vor allem war Surrealismus zu Beginn keine Sache von Einzelkämpfern, sondern eines Kollektivs, das sich auf ein Manifest berief, in dem Diktator Breton 1924 „ein für allemal“ festhielt, was Surrealismus zu bedeuten habe: „Surrealismus, Substantiv, m., reiner psychischer Automatismus, durch welchen man, sei es mündlich, sei es schriftlich, sei es auf jede andere Weise, den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Vernunft-Kontrolle und ausserhalb aller ästhetischen oder ethischen Fragestellungen.“
Hang zum Surrealistischen
In der Schweiz gab es zwar in der Zwischenkriegszeit – vorerst im grenznahen Basel, dann in Zürich – kurzlebige Künstlergruppen, doch es fehlte eine solche kämpferische Gruppendynamik. Die Gründe sind vielfältig: Die Schweizer Künstler dieser Zeit waren meist bedächtiger als ihre französischen Kollegen. Das kulturpolitische Klima war anders geartet. Vor allem aber fehlten eine surrealistische Leitfigur und ein grossstädtisches, auch literarisch genährtes Biotop als kulturelles Zentrum und Ausgangspunkt für europaweite künstlerische Revolutionen.
Schweizer nahmen aber teil am Pariser Surrealismus, teils eher am Rand, teils nahe dem Zentrum: Seligmann, Brignoni, Vulliamy, Tschumi oder, bis zum Bruch mit Breton, Alberto Giacometti. Meret Oppenheims „Le déjeuner en fourrure“ (1936) erhielt seinen Titel immerhin von Breton persönlich. Und Schweizer Künstlerinnen und Künstler waren darüber informiert, was sich in Paris tat. Doch gab es einen Schweizer Surrealismus?
Es gab ihn, im strengen Sinne Bretons, eher nicht. Doch löst man den Begriff von seiner Herkunft und seinen Pariser Protagonisten, fasst man ihn auch zeitlich breiter und lässt man ihn an den Rändern ausfransen, so gab es in der Schweiz eine Kunst mit Hang zu Surrealistischem: zu Traumvorstellungen, zu Irrationalem, zu Individuellem und Psychologisierendem, zu Spielerischem, zu allerlei Gegenläufigkeiten zu offizieller künstlerischer wie politischer Doktrin, wie sie sich im „Landi-Geist“ manifestierten.
All dem geht die Ausstellung „Surrealismus Schweiz“ nach, die Peter Fischer, früher Direktor des Kunstmuseum Luzern und dann der Klee-Stiftung in Bern, zusammen mit Julia Schallberger, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kunsthaus Aarau, kuratiert hat. 2019 wird sie, aus räumlichen Gründen in reduzierter Form, auch in Lugano gezeigt.
Auf Konfrontationskurs
Die Ausstellung beginnt überraschend mit Giovanni Giacometti (ein stolzer Bauer mit geschulterter Sense im Sonnenschein, um 1930), Jakob Probst (ein muskulöser „Schweizer Typ“, 1936) und Hans Ernis „Schweiz, Ferienland der Völker“ (1939). All das und noch mehr unter dem Titel „Surrealismus Schweiz“? Dieser erste Raum ist jedoch bloss Auftakt und eine Schilderung des Schweizer Kunstklimas der 1930er-Jahre, mit dem das Surrealistische auf Konfrontationskurs geht.
Schon im nächsten Raum begegnet uns ganz andere Kunst, nämlich jene von Künstlergruppen wie Gruppe 33 oder Allianz, und dann geben sich Protagonisten internationalen Kalibers ein Stelldichein – Arp, Klee, Alberto Giacometti, Meret Oppenheim –, und das in jener dicht gedrängten Hängung, die die ganze 16 Räume umfassende Ausstellung prägt. Die Enge lässt die oft kleinformatigen Werke kaum atmen, beschwört aber eine Werkstattatmosphäre, einen Schmelztiegel oder eine verschworene Gemeinschaft der Künstlerinnen und Künstler, auch wenn das nicht ganz der Wirklichkeit entspricht.
Reflexe auch in der Gegenwartskunst
Das und die thematische Gliederung der mit viel Fachkenntnis und Spürsinn zusammengetragenen rund 400 Werke von über 60 Künstlerinnen und Künstlern gestattet ein vergleichendes, nach Entsprechungen und Gegensätzen suchendes Sehen. Themenschwerpunkte sind: Schweizer Surrealisten in Paris, Zufall und Automatismen, Seelenlandschaften, Träume, Nacht, das Wechselspiel von Innen und Aussen, versehrte Körper, Leid und Schmerz. Eine thematisch und übrigens auch von den Medien her breit angelegte Schau also, die Peter Fischer und Julia Schallberger zudem noch ausweiten – zum Beispiel mit Niki de Saint-Phalle, Tinguely, Daniel Spoerri oder Franz Eggenschwiler – über die zeitlichen Grenzen des klassischen Surrealismus hinaus. Auch die unmittelbare Gegenwart fehlt nicht: Da finden sich, vielleicht überraschend, Wanner, Aldo Walker, Christian Rothacher, Francisco Sierra, Pipilotti Rist, Rémy Markowitsch, Lutz & Guggisberg, Not Vital und andere plötzlich in surrealistischer Gesellschaft.
So wird offensichtlich: Peter Fischer und Julia Schallberger postulieren neben der historischen Aufarbeitung des Surrealismus in der Schweiz eine surrealistische Konstante innerhalb der Schweizer Kunst von der Moderne bis heute. Da sind auch Vorlieben der Kuratoren im Spiel, und der Anteil an „Surrealistischem“ ist unterschiedlich: Franz Wanners kunstkritischer oder Aldo Walkers wahrnehmungstheoretischer Ansatz, aber auch Francisco Sierras Hyperrealismus fügen sich höchstens partiell in einen surrealistischen Kontext.
Entdeckungen
Die Schau führt einerseits diesen Trend zu Surrealistischem in der Schweizer Kunst vor Augen. Andererseits bietet sich auch Gelegenheit zu bedeutungsvollen Entdeckungen. Den von Zeichnungen begleiteten Traumaufzeichnungen der Luzernerin Lou Stengele zum Beispiel werden viele Kenner der Materie erstmals begegnen. Das mag auch von der Duchamp-Freundin Isabelle Waldbergs feinfühligen, zwischen Freiheit und fester Struktur oszillierenden Skulpturen gelten und von manch anderen Werken der Ausstellung. Auch Christian Rothachers witzig-hintersinnige Skulpturen haben in der Schweizer Kunst kaum die ihnen zustehende Beachtung gefunden. Schön, dass die Ausstellung ihnen zu breiterer Anerkennung verhilft.
Über alle Räume je nach thematischer Zuordnung verstreut finden sich in „Surrealismus Schweiz“ auch grössere Werkgruppen bedeutender Künstler. Einige prominente Namen: die Ausnahmeerscheinung Meret Oppenheim, Hans Arp, Max von Moos, Ernst Maass, Werner Kurt Wiemken, Serge Brignoni. Das thematisch ausgerichtete Konzept der Schau führt oft zu unerwarteten Nachbarschaften und spannenden Brückenschlägen. Ein Beispiel: Die später mit ihren Objekt-Schreinen bekannt gewordene Eva Wipf schuf in den frühen 1960er Jahren Malereien machtkritischer Ausrichtung mit deutlicher Verwandtschaft zu Friedrich Kuhns in ähnlichem Zeitraum entstandenen Bildern. Die beiden begegneten sich damals tatsächlich in Zürich.
Aargauer Kunsthaus Aarau, bis 2. Januar 2019. Katalog mit Beiträgen von Peter Fischer, Hans Peter Wittwer, Stephan E. Hauser und Julia Schallberger. Zahlreiche Veranstaltungen.