Die Stars an den Solothurner Literaturtagen (15. – 17. Mai), zwei an der Zahl, kamen diesmal aus dem Inland. Peter Bichsel und Pedro Lenz mobilisierten Scharen von entzückten Zuhörerinnen und Zuhörern.
Umständliche Versuchsanordnung
Um dem 80-jährigen Peter Bichsel eine Zusage für eine literarische Geburtstagsfeier abzuringen, entsprachen die Organisatoren der Literaturtage seinen Wünschen und engagierten den deutschen Autor Ralf Rothmann sowie den Schweizer Lyriker, Rapper und Musiker Raphael Urweider mit an den Geburtstagstisch. Der eine trennte die einzelnen gesprochenen Blöcke mit ein paar Jazzakkorden voneinander, der andere wechselte sich mit Bichsel im Lesen ab.
Es wurde ein etwas länglicher Abend. Rothmann las Bichsel-Texte und umgekehrt, dann „überraschte“ einer den andern mit Fremdtexten und schliesslich las jeder noch etwas Eigenes. Eine umständliche Versuchsanordnung. Der Anfang immerhin, der hatte es in sich. Eine ebenso leichtfüssige wie nachdenkliche Kolumne, eher ein Mini-Esssay von Bichsel über das Thema Freundschaft konnte einem fast schmerzhaft ins Bewusstsein bringen, was das auch sein kann, eine Kolumne, und wie sehr sich das vom dem dürftigen, privaten Befindlichkeitskram unterscheidet, der einem täglich aus den Medien entgegenschwappt.
Mundartliteratur
Vom Jurasüdfuss nach Bern, von Peter Bichsel zu Pedro Lenz, von der Freundessuche in die Wohlfühloase, ins Bärndütsche. Der lange Lenz am Mikrofon braucht nur den Mund zu öffnen, ein paar Laute zu artikulieren, und schon brechen die Berner, die Deutschschweizer im Saal in Begeisterungskundgebungen aus.
Das ist halt die Tücke, um nicht zu sagen: die Crux der in und um Solothurn so verbreiteten Mundartliteratur. Sie reizt, allein mit Lauten und Klängen, sofort zum Lachen, verbreitet herzerwärmende Wellness; das Genre hat Mühe, mit Inhalten zu punkten. Dabei ist Lenz, wie sein brillanter Vortrag einiger der ursprünglich fürs Radio geschriebenen Zwei-Minuten-Morgengeshichten bewies, einer, der es versteht, mit wenigen Wörtern komplexe Sachlagen und Zusammenhänge anzudeuten. Was er aus dem Klangmaterial, aus seinem und unserem Alltag, herausfiltriert und wie er das tut – das lädt die so lustvoll konsumierte Sprachmelodie mit Sinn und vor allem mit Hintersinn auf.
Konflikte
Wie immer standen die Literaturtage unter einem Motto. Und wie immer war dieses Motto so weit gefasst, dass zahllose literarische Äusserungen darunter subsumiert werden könnten. Um „Konflikt.Stoff“ sollte es dieses Mal gehen. Das Thema wurde, verständlicher- und richtigerweise, in erster Linie auf die brennenden gesellschaftlichen Fragen unserer Tage bezogen. Die Podiumsdiskussionen drehten sich um Fragen wie „Kriege erzählen“ oder „Ängste und Verunsicherungen“ oder „Literatur im Krisenfall“. Am Sonntag Nachmittag trafen sich Bundesrat Alain Berset und Lukas Bärfuss, der zur Zeit auffälligste Autor, wenn es um politische Stellungnahmen geht, zu einem Gespräch über Sprache als Grundelement der Literatur wie der Politik.
Es mag pauschalisierend und ungerecht klingen, aber ich kann mir nicht helfen – die von vielen mit Interesse verfolgten Diskussionen blieben zumeist unbefriedigend, wirkten unkonzentriert, oft zerfahren: Mal gelang es dem Moderator nicht, Fragestellungen und Antworten auf einen Punkt zu bringen, mal waren es die Teilnehmer, die es nur darauf abgesehen hatten, ihre vorbereiteten Statements loszuwerden, ohne dem andern zuzuhören. Typisch für solche Vorbehalte war das abschliessende Podium: Bärfuss und Berset sorgten gewiss und in sehr gewandter Zweisprachigkeit für rhetorische Glanzlichter. So richtig ins Gespräch kamen sie mitnichten und das viel zu früh einbezogene Publikum sorgte vollends für eine allgemeiner Zerfaserung jeglichen Themas.
Produktive Streifzüge
Die Literaturtage trumpfen – auch – mit Masse auf. Um die 80 eingeladene Autorinnen und Autoren, über 100 Veranstaltungen an drei Tagen: Man muss sich eine schmale Spur durchs Riesenangebot schlagen und wird, wegen der Gleichzeitigkeit von Lesungen, die man gerne besucht hätte, immer frustriert werden. Vielleicht sollten sich die Organisatoren überlegen, ob dem Prinzip noch-und-noch-mehr nicht das Gegenprinzip weniger-wäre-.mehr entgegenzustellen wäre?
Was ich mir angehört habe, war, gerade in seiner Disparität, inspirierend, originell und meistens von bemerkenswerter literarischen Qualität. Das betrifft sowohl Ruth Schweikerts Familien- und Generationenroman „Wie wir älter werden“ wie Dieter Bachmanns – wie er selber sagt „masslosen“ – Text „Die Gärten der Medusa“ in dem sich ein Anthropologe durch reale, erinnerte, erfundene Welten bewegt. In „Der letzte Ort“ des deutsch-irakischen Autors Sherko Fatah wird auf packende Art eine Entführung thematisiert und der junge deutsche Autor Matthias Nawrat erfindet für seinen im Schwarzwald spielenden Roman „Unternehmer“ eine künstlich-kunstvolle Kindersprache, die den Leser sofort in ihren Bann zieht.
Es sind solche und andere Momente, die uns jedes Jahr nach Solothurn ziehen und es einen nicht bereuen lassen, sich durch so manches Halbgares und Misslungenes hindurchhören zu müssen, um zu den Preziosen zu gelangen.