Rund eine Woche vor dem Urnengang am 3. November haben in den USA bereits 58,6 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner ihre Stimme abgegeben – per Post oder im Wahllokal. Im Staat New York zum Beispiel standen die Leute trotz Corona teils stundenlang an, um erstmals früh wählen zu dürfen. In der Mehrheit sind es in erster Linie Demokraten, die vor dem Wahltag stimmen; Republikaner gehen lieber am Stichtag zur Urne. Indes hat die republikanische Partei in wahlentscheidenden Staaten mehr Menschen registrieren können als der Gegner. Was sich in mehr Stimmen niederschlagen kann, aber nicht muss.
Doch gemäss einer Studie von Politologen der Stony Brook University (New York) ist der auffälligste Graben im Lande nicht jener zwischen Demokraten und Republikanern, sondern der zwischen Politikinteressierten und Politikabstinenten. 80 bis 85 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner verfolgen Politik gelegentlich oder gar nicht, während lediglich 15 bis 20 Prozent das höchst engagiert («deeply involved») tun.
«Trick or treat»
Zwar liessen sich Anfang des Jahres und vor Ausbruch der Corona-Pandemie zwischen den beiden Parteien deutliche Meinungsunterschiede etwa in Sachen Einwanderung ausmachen. Doch bei anderen Themen wie der gerechten Höhe des Stundenlohns, dem Missbrauch von Drogen oder dem Einfluss reicher Geldgeber waren die Trennlinien unter den Desinteressierten weniger klar. 45 Prozent der engagierten Parteigänger sind in den sozialen Medien aktiv; unter den weniger Interessierten sind es nur 11 Prozent. Laut einer Studie von Pew Research setzen 10 Prozent der Benutzer von Twitter 97 Prozent aller politischen Tweets ab.
Seit 1845 wird in Amerika stets am ersten Dienstag im November gewählt, weil die Gesetzgeber im Kongress damals in erster Linie ans Wetter dachten. An einen Zeitpunkt, zu dem die Ernte eingebracht war und der Winter noch nicht unmittelbar bevorstand. Dieses Jahr trifft der Wahltag fast auf Halloween, die Nacht vor Allerheiligen, in der Kinder kostümiert von Haus zu Haus ziehen, um lautstark «trick or treat», Süsses oder Saures einzufordern. Doch gemäss einer Karikatur im Magazin «New Yorker» hat Halloween dieses Jahr, wie die vergangenen zwölf Monate, nur Saures zu bieten.
Hohe Stimmbeteiligung prognostiziert
Die Nachrichtenagentur AP berichtet, bis zum vergangenen Sonntag seien Frühwähler zu 51 Prozent Demokraten und zu 31 Prozent Republikaner gewesen. Auf jeden Fall lassen die Zahlen auf eine hohe Stimmbeteiligung schliessen. Einzelne Experten prophezeien entsprechend, dieses Jahr würden rund 150 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner wählen gehen, was einer Stimmbeteiligung von rund 65 Prozent entspräche – die höchste Zahl seit 1908. Vor vier Jahren hatte 55,7 Prozent der US-Bevölkerung gewählt.
Die meisten unter ihnen dürften sich ihre Meinung schon früh gebildet haben. Unentschiedene Wählerinnen und Wähler gibt es kaum mehr. Das britische Magazin «The Economist» schätzt deren Zahl auf sechs Prozent; 2016 waren es zum selben Zeitpunkt noch 14 Prozent gewesen. Auch hat die zweite Fernsehdebatte vergangene Woche zwischen Präsident Donald Trump und seinem Herausforderer Joe Biden die Meinungen unter Unentschlossenen wohl kaum stark beeinflusst, auch wenn einzelne Kommentatoren dem Amtsinhaber im Weissen Haus attestierten, endlich wieder einmal «präsidial» gewirkt zu haben.
Der amerikanische Spirit
Der Kolumnist Roger Cohen hat in der «New York Times» aufgelistet, welche Begriffe oder Themen in den zwei Debatten zwischen Trump und Biden nicht zur Sprache kamen. Was seiner Meinung nach schön illustriert, wie der amerikanische Spirit, einst Vorbild für die Welt und Objekt des Neids, im Schrumpfen begriffen ist: «Syrien, Menschenrechte, Drohnen, Demokratie, Ungleichheit, Diktatur, Israel, Palästina, Nahost, Uno, WHO, Guantánomo, EU, Grossbritannien, Brexit, Frankreich, Italien, Hongkong, Afrika (oder ein einzelnes afrikanisches Land), Südamerika, Terrorismus, multilateral, Autoritarismus, Allianz.»
Cohen zählt auf, welche Themen im kommenden Jahrzehnt nicht nur für die USA von entscheidender Wichtigkeit sein könnten: der Aufstieg Chinas, das Durchsetzungsvermögen von Wladimir Putins Russland, das erneute Auftauchen von Diktaturen, die Zerbrechlichkeit von Demokratien, die Herausforderungen des Bevölkerungswachstums in Afrika, das durch die Pandemie offen gelegte Vakuum einer globalen Führung, die wachsende Ungleichheit in den Demokratien des Westens, die erstarrte Unzulänglichkeit der Vereinten Nationen, soziale Gräben, die Ausbreitung des Überwachungsstaats sowie die Plattformen der sozialen Medien, die Hass verbreiten. Kam auch nur eines dieser Themen in den beiden Fernsehdebatten auf Fox News oder NBC zur Sprache? Fehlanzeige.
Die nationale Schockstarre
Das Schwinden des amerikanischen Spirits, folgert Roger Cohen, bewirkt eine Art Schockstarre: «Es ist schwierig geworden, über all den Lärm hinweg zu denken oder zu sehen, der aus dem Weissen Haus kommt. Empörungsmüdigkeit hat eingesetzt. Da ist er schon wieder. Diese jammernde, klagende Stimme. Ohne Respekt vor der Wahrheit, ohne Respekt vor der Wissenschaft, was für eine Debatte ist da noch möglich?»
Ob sich das nach dem 3. November 2020 ändern wird? Pessimisten fürchten, dass die vierjährige Amtszeit Donald Trumps demokratischen Einrichtungen und gesellschaftlichen Institutionen nachhaltigen Schaden zugefügt hat und die Schäden im Falle seiner Wiederwahl wohl irreparabel würden. Optimisten hoffen, dass es, falls gewählt, Trumps Nachfolger Joe Biden dank seines Anstands und seiner menschlichen Qualitäten gelingen wird, die gespaltene Nation wieder zu einen. «Das Ende der Demokratie? Viele Amerikaner befürchten eine dunkle Zukunft, falls die andere Seite gewinnt», titelt die «Washington Post» einen Artikel über die Zeit nach der Wahl.
Der Mangel an Gemeinsamkeiten
«Die Sorge auf der Rechten, dass ein Sieg der Demokraten die Nation in einen katastrophalen Sozialismus führen wird, und die Befürchtung auf der Linken, dass ein Sieg Trumps dem Totalitarismus Tür und Tor öffnet, haben einen Zeitpunkt herbeigeführt, den Peter Stearns, ein Historiker der George Mason University, für ‘lebensbedrohlich’ hält – ‘die Vorstellung, dass wir verloren sind, falls die andern siegen’.» Dem Historiker zufolge sehen sich Demokraten und Republikaner nicht mehr als Gegner, sondern den jeweils andern als Verkörperung des Bösen: «Es scheint, als gäbe es keine Gemeinsamkeiten mehr.»
Laut einer Umfrage der «Washington Post» und der Schar School der George Mason University sagen in Virginia 31 Prozent der Anhänger Joe Bidens, sie würden einen Sieg Donald Trumps nicht als legitim erachten, während 26 Prozent der Anhänger des Präsidenten einen Sieg des früheren Vizepräsidenten nicht anerkennen würden. Doch gemäss einer Befragung von Reuters/Ipsos sind 79 Prozent aller Amerikanerinnen und Amerikaner bereit, einen Sieg Joe Bidens zu akzeptieren, auch jene unter ihnen, die ihn nicht unterstützen. Indes sind 73 Prozent der Bevölkerung willens, die Wiederwahl Donald Trumps anzuerkennen, auch wenn sie zu 57 Prozent Anhänger Bidens sind.
Unter den Republikanern, die einen Sieg Bidens nicht akzeptieren würden, sagen 16 Prozent, sie würden etwas unternehmen, zum Beispiel öffentlich protestieren oder gewalttätig werden, um den Wahlausgang in Frage zu stellen. Unter den Demokraten, die einen Sieg Trumps nicht anerkennen würden, sagen 22 Prozent, sie würden sich aktiv gegen das Ergebnis des Urnengangs vom 3. November wehren.
Das Votum der Presse
Weitgehend gewählt, wenn auch der Erfahrung zufolge wohl erneut folgenlos, haben Amerikas Zeitungen und Magazine, unter ihnen erstmals «USA Today» oder der «Scientific American». Wie 2016 für Hillary Clinton hat sich die Presse dieses Jahr mit grosser Mehrheit für Joe Biden ausgesprochen. Bis Anfang dieser Woche hatten mindestens 119 Tages- und Wochenzeitungen ihre Wahlempfehlung für den Demokraten abgegeben, unter ihnen die «Chicago Tribune» und der «New Hampshire Union Leader», zwei traditionell konservative Blätter, die sich vor vier Jahren nicht für Clinton ausgesprochen hatten.
«Amerika steht vor vielen Herausforderungen und braucht einen Präsidenten, der das Land aufbaut. Das scheint jenseits von Donald Trumps Fähigkeiten zu liegen», schreibt der «Union Leader», der seit 100 Jahren noch nie einen demokratischen Kandidaten zur Wahl empfohlen hatte. Lediglich sechs Zeitungen haben bisher Donald Trump unterstützt, unter ihnen das «Las Vegas Review-Journal», das dem Casino-Magnaten und Trump-Unterstützer Sheldon Adelson gehört: «Mr. Trump mag sich aufplustern und prahlen, aber sein innenpolitischer Ausweis ist sehr traditionell – und erfolgreich.»
Die Zukunft des «trumpism»
Wie auch immer die Wahl am nächsten Dienstag ausgeht, «trumpism» dürfte nicht so schnell verschwinden, auch wenn sich das etliche traditionelle Republikaner erhoffen. Zum einen wird Donald Trump im Falle einer Niederlage kaum von der öffentlichen Bühne abtreten, deren Scheinwerferlicht er so liebt, noch wird sich die republikanische Partei in eine frühere Inkarnation zurückverwandeln, die noch liberal-konservativ, kompromissbereit und patriotisch, aber nicht populistisch, nationalistisch oder rassistisch war. Hatten einst in der Partei die Eliten das Sagen, so dominiert heute im Zeitalter der sozialen Medien die zornige Basis. «Trumpism wird für immer bleiben, nicht wegen der narzisstischen Pathologien des Präsidenten, sondern weil es das ist, was republikanische Wählerinnen und Wähler wollen», prophezeit der Anti-Trumper Tim Miller
Doch im Falle eines Sieges von Joe Biden steht auch die demokratische Partei vor grossen Herausforderungen. Es gilt, jene progressiven Kreise einzubinden, die sich im Vorwahlkampf hinter Bernie Sanders oder Elizabeth Warren geschart hatten und deren Forderungen auf dem Gebiet der Gesundheitsvorsorge oder der sozialen Gerechtigkeit nicht so rasch verstummen dürften. Auch die Bewegung «Black Lives Matter» wird weiterhin aktiv bleiben und für eine fairere Polizeiarbeit und eine gleichberechtigte Gesellschaft kämpfen.
Streitobjekt Supreme Court
Sollten die Demokraten das Weisse Haus und die Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses gewinnen, so dürfte aus den eigenen Reihen zudem der Ruf lauter werden, die Zahl der Sitze im Obersten Gerichtshof zu erhöhen, was die Verfassung zulässt, und so die republikanische Mehrheit im Gremium zu brechen, die andernfalls für wohl mindestens eine Generation Bestand hat. Auch wächst wohl der Druck auf die Partei, im Senat das sogenannte Filibuster abzuschaffen, jene Taktik, die es Gesetzgebern erlaubt, die Abstimmung über eine bestimmte Gesetzesvorlage endlos zu verzögern oder zu verunmöglichen, falls nicht mindestens 60 Senatorinnen und Senatoren dafür stimmen, die Debatte zu beenden. Für die Abschaffung des Filibuster in der kleinen Kammer würde den Demokraten eine einfache Mehrheit genügen.
Gibt es trotz aller Differenzen in den USA noch Hoffnung auf eine halbwegs erspriessliche Zeit nach den Wahlen, eine Zeit ohne gegenseitige Schuldzuweisungen und Verteufelungen, eine Zeit ohne tatsachenwidrige Behauptungen und ungeschminkte Lügen, eine Zeit ohne Heucheleien und blinden Gehorsam? «Der Graben zwischen den politisch Desinteressierten und den eingefleischten, lautstarken Parteigängern verstärkt die Wahrnehmung einer hoffnungslosen Spaltung der amerikanischen Politik, weil es die Parteigänger sind, die definieren, was es heisst, politisch aktiv zu sein», folgern Yanna Krupnikov und John Barry Ryan in der Studie der Stony Brook University: «Für Parteigänger ist Politik ein Moralstück, ein Kampf von Gut gegen Bös. Dagegen sehen die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner zwei Gruppen von Leuten, die über Dinge streiten, die ihnen nicht so furchtbar dringend oder wichtig erscheinen.»
Eine noch junge Nation
Wider Erwarten ist auch Roger Cohen, laut einem Ranking der New York University «während Jahren einer der ehrlichsten und unbestechlichsten Beobachter der Idee und der Praxis des Patriotismus», eher zuversichtlich, was die Zukunft seines Landes betrifft: «Amerika, dessen 250. Geburtstag noch in dieses Jahrzehnt fällt, ist noch immer ein junges Land. Es ist noch immer ein Land des Strebens, des weiten Raums, der Umwälzung und der Neuerfindung, wo grösser ist, was die Leute eint, als was sie trennt, wenn es denn nur einen Präsidenten hätte, der statt hassen heilen will.»
Amerikas Essenz, so Cohen, ist Offenheit: «Geschichte, Geographie, Einwanderung und Schicksal sind dafür verantwortlich. Das Schrumpfen des amerikanischen Spirits unter Trump ist deshalb für Amerikanerinnen und Amerikaner ein gefährlicher Akt der Selbstverleugnung. Hält dieser Schwund vier Jahre länger an, eine zweite Amtszeit Trumps, würde er Amerikas Ideale vernichten, ohne die (…) die Vereinigten Staaten, so wie sie einst begriffen wurden, mit all ihren Schwächen, zu existieren aufhören.»
Ähnlich argumentiert in der «New York Review of Books» der japanische Schriftsteller Minae Mizumura, der 20 Jahre lang nicht eben glücklich in den USA gelebt hat und dem, zurück in Tokio, die Wahl Donald Trumps 2016, wie er mit schlechtem Gewissen einräumt, eine Art Schadenfreude bereitet hat: «Ich werde Amerika erneut bewundern, wenn das Land im November eine klare Umkehr einleitet. Amerika muss nicht ‘wieder grossartig’ werden. Ein anständiges Amerika ist Grund zum Feiern genug.»
Quellen: AP, «The New York Times”, “The New Yorker”, “The New York Review of Books”, “The Washington Post”, “The Economist”, “Rolling Stone”, “Vanity Fair”, “Columbia Journalim Review”, NiemanLab, Poynter Institute.