Eine Liste von 13 Forderungen, die von Saudi-Arabien, den Emiraten, Bahrain und Ägypten an Qatar gerichtet wurden, ist auf dem Umweg über Kuwait und Qatar der Agentur AP zugespielt worden. Dies geschah offenbar gegen den Willen der Emirate und vermutlich der anderen Urheber des Boykotts gegen Qatar.
Der Aussenminister der Emirate, Anwar Gargash, ein ebenso grosser Twitter-Freund wie Trump, erklärte: „Das Durchsickern (der Forderungen) ist ein Versuch, die Vermittlung zu sabotieren, und zwar in einer kindischen Art, wie wir sie von unserem Bruder gewöhnt sind.“ Er sagte auch orakelhaft: „Es wäre weiser für Qatar, die Forderungen und Anliegen seiner Nachbarn ernst zu nehmen – oder eine Scheidung findet statt.“
Neue Dimension bei der arabischen Informationsvermittlung
Die wahrscheinlich einschneidendste der 13 Forderungen ist die Aufforderung, die Fernseh- und Radiokette von al-Jazeera zu schliessen. Al-Jazeera („Die Insel“, was arabisch auch „Halbinsel“ bedeutet) wurde 1996 von Qatar lanciert und ist auf der Halbinsel beheimatet. Das weltweit verbreitete Mediennetz betreibt mehrere arabische Fernsehsender in arabischer, englischer und anderen Sprachen. Al-Jazeera, auch im Web präsent, ist im ganzen arabischen Raum leicht zu empfangen.
Der Sender brachte eine neue Dimension in das arabische Informationswesen, dessen Radio und Fernsehsender bisher stets von einem der Staaten abhängig waren. Ihre Informationen wurden von den zuständigen Informationsministerien diktiert und zensiert. Al-Jazeera hingegen informiert frei und sendet auch Diskussionen und Kommentare, in denen freie Meinungen zum Ausdruck kommen.
Der freieste Sender der arabischen Welt
Der neue Sender war in der ganzen arabischen Welt ein grosser Erfolg und fand weite Verbreitung. Um neben ihm auch noch vernommen zu werden, mussten die arabischen Staaten, in erster Linie Saudi-Arabien, ihrerseits neue Medien lancieren, die ebenfalls über die fade Kost der bisherigen staatlichen Medien hinausgriffen.
Im arabischen Protestjahr von 2011 stand al-Jazeera voll auf Seiten der protestierenden Massen. Seine Kommentatoren und Redaktoren zeigten sich geneigt, dem Experiment der „islamischen Demokratie“ der Muslimbrüder Beachtung und Gunst zu gewähren. Was den Tendenzen der Regierung von Qatar entsprach, jedoch bei den übrigen absolut regierten Regimen, die sich für ihre Legitimität auf den Islam beriefen, tiefe Ängste auslöste. Sie argwöhnten, wenn das Experiment einer islamischen Demokratie wirklich gelingen sollte, würden die sich islamisch nennenden Monarchien ihre Existenzberechtigung verlieren, weil der Nachweis erbracht würde, dass der Islam auch in demokratisch regierten Staaten blühen könne und nicht der Stütze von absoluten Herrschern bedürfe.
Al-Jazeera, Freund der Musblimbrüder
Die Muslimbrüder, Träger des Versuches einer islamischen Demokratie in Ägypten und in Tunesien, erschienen den Herrschern der Erdölstaaten am Golf auf einen Schlag als „Verräter“. Zuvor, in Zeiten des „revolutionären“ Nationalismus, wie ihn Nasser vertrat, waren die Brüder als Schutzsuchende in den Golfstaaten, besonders in Saudi-Arabien, aufgenommen worden, weil sie, von Nasser verfolgt, dem islamisch gefärbten Widerstand gegen Nasser dienten. Nun aber, nach dem Sturz von Machthabern wie Ben Ali, Mubarak, Ghadhafi oder Ali Abdullah Saleh, erschienen die Brüder, Träger eines islamisch-demokratischen Projektes, den Golfmonarchen als frühere Schützlinge, die nun am Ast sägen, auf dem sie sitzen.
Al-Jazeera jedoch sprach für sie und schien für ihre Anliegen zu werben. Die heimliche Furcht, dass ihr Projekt erfolgreich sein könnte, führte dazu, dass sowohl al-Jazeera als auch der Kleinstaat Qatar immer mehr gehasst wurden. Präsident und General as-Sisi in Ägypten, der die Brüder in seinem Lande blutig niederschlug, aber immer noch gegen ihre Parteigänger ankämpfen muss, schloss sich voll der heftigen Ablehnung gegen al-Jazeera an. Dies umso mehr, als der Sender zur Zeit der Protestbewegung einen eigenen Ableger für Ägypten betrieb: „al-Jazeera Masr“. Dieser widmete sich intensiv den Vorgängen in Ägypten und neigte den Muslimbrüdern zu. Dieser Ableger wurde inzwischen verboten, und mehrere der Korrespondenten von Al-Jazeera wanderten in ägyptische Gefängnisse. Ihnen wird „Unterstützung des Terrorismus“ vorgeworfen.
Sind die Muslimbrüder „Terroristen“?
Auch Saudi-Arabien und besonders die Vereinigten Arabischen Emirate bezeichnen heute die Muslimbrüder als Terroristen. Beide Staaten möchten bewirken, dass dies auch die USA und Europa tun. Doch es gibt einen klaren Unterschied zwischen den radikalen und den gemässigten Islamisten. „Islamisten“ kann man auch die Muslimbrüder nennen, weil sie einen „islamischen Staat“ anstreben. Doch von den radikalen Islamisten sind sie zu unterscheiden, weil diese „Takfir“ üben. Das heisst, dass sie fordern, alle Muslime, die ihre Religion nicht genau so verstehen wie sie, seien als Ungläubige einzustufen und zu verfolgen. Das bedeutet: Null Toleranz für „Mit-Muslime“ anderer Islamauffassung – von Angehörigen anderer Religionen gar nicht zu reden. Indem sie diesen Unterschied ausblenden und selbst „Takfir“ (Ungläubigkeitserklärung) üben, suchen die Golfmonarchen – und mit ihnen Präsident al-Sisi von Ägypten – die Muslimbrüder als „Terroristen“ zu verdammen.
Qatar und al-Jazeera tun dies nicht. Sie neigen sogar dazu, die Brüder gegen ihre Widersacher zu verteidigen, und sie sind deshalb in Riad, Dubai und Kairo zu Steinen des Anstosses geworden.
Die 13 Forderungen
Die Aufforderung, al-Jazeera zu schliessen, ist bloss Punkt 6 der 13 Forderungen:
- Die Liste beginnt mit dem Ansinnen, alle diplomatischen Kontakte zu Iran abzubrechen und den Handel mit Iran zu reduzieren, wie es dem amerikanischen Boykott des Landes entspreche.
- Die zweite Forderung verlangt die Schliessung der kleinen türkischen Militärbasis in Qatar.
- Drittens soll Qatar allen Kontakt mit „Terrororganisationen“ abbrechen, insbesondere mit den Muslimbrüdern.
- Viertens sollen keine Gelder mehr an alle Organisationen bezahlt werden, die Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten oder die USA als terroristisch bezeichnen.
- Fünftens soll Qatar all jene, die die Qatar-Gegner als „Terroristen“ bezeichnen, ausliefern.
- 6. Die Forderung nach Schliessung von al-Jazeera
- 7. Alle Personen, die Qatar eingebürgert hat und die die Qatar-Gegner als suspekt oder „terroristisch“ bezeichnen, sollen wieder ausgebürgert werden.
- 8. Geldzahlungen in Kompensation für Verluste der boykottierenden Staaten in noch zu bestimmender Höhe.
- 9. Qatar muss seine Politik jener der Golfstaaten anpassen.
- 10. Qatar wird es verboten, mit Oppositionspolitikern der Golfstaaten Kontakte zu haben.
- 11. Schliessung weiterer Medien, die angeblich von Qatar finanziert würden.
- 12. All diese Auflagen müssen innerhalb von zehn Tagen erfüllt werden, wenn nicht, „verfalle“ die Liste.
- 13. Ein Jahr lang soll jeden Monat geprüft werden, ob Qatar die Auflagen erfüllt. Später soll die Prüfung zehn Jahre lang vierteljährlich erfolgen.
Unannehmbar für Qatar
Die Forderungen kommen einer Bevormundung Qatars durch die Golfstaaten gleich. Sie müssen als ultimativ angesehen werden, weil sie einen kurzen Zeitraum für ihre Erfüllung festsetzen und im Falle der Ablehnung mit – unbestimmt formulierten – weiteren Schritten und Massnahmen drohen.
Dass Qatar sie in Bausch und Bogen annehmen wird, ist unwahrscheinlich. Der Emir des Landes hatte schon vor der Veröffentlichung der Liste erklärt, Qatar werde erst verhandeln, nachdem der Boykott aufgehoben sei.
In der Hand der Amerikaner
Die beste Garantie dafür, dass Qatar seine Souveränität behalten kann, sind die USA. Amerika unterhält auf Qatar eine Luftwaffenbasis mit rund 10‘000 Soldaten. Sie dient als vorgeschobener Stützpunkt der amerikanischen Koalition, die gegen den „Islamischen Staat“ und die „Nusra-Front“ (heute „Befreiungsbewegung Syriens“) aktiv ist.
Diese Garantie stellt aber auch eine Abhängigkeit dar. Sie bewirkt, dass Washington Qatar weitgehend zu dem Verhalten zwingen kann, das in Amerika gewünscht wird. Wie immer seit Trump ist die amerikanische Politik unklar und vieldeutig. Trump hat über Twitter den Boykott gegen Qatar gebilligt und behauptet, er sei ein Erfolg „seiner“ Politik. Doch sein Aussenminister hat die Golfstaaten aufgefordert, ihren Streit zu beenden und sich auf die Bekämpfung des IS zu konzentrieren.
Fällt die Entscheidung in Washington?
Der de facto Herrscher der Emirate, General und Verteidigungsminister Mohammed Ben Zaid al-Nahyan (amerikanisch abgekürzt MBZ), ein enger Freund und Weggefährte des neuen saudischen Kronprinzen, Mohammed Ben Salman (abgekürzt MBS), der sich in Washington auskennt, dürfte versuchen, die bestehende Divergenz zwischen dem Präsidenten und seinem Aussenminister zu vertiefen und sie dazu auszunützen, um womöglich die Linie des Präsidenten zu fördern.
Wenn ihm dies gelingt, dürfte das kleine Qatar schliesslich gezwungen werden, auf die Forderungen seiner grösseren Nachbarn mindestens teilweise einzugehen. Saudi-Arabien hat mehr als 30 Millionen Einwohner, die Vereinigten Arabischen Emirate gegen 9,4 Millionen. In Qatar leben 2,3 Millionen Menschen, wovon nur 313‘000 Qatari-Bürger sind. Zunächst aber ist klar, dass sich die sogenannte Golfkrise um Qatar über längere Zeit hinziehen wird.