Dieses sprachliche Heimatgefühl ist aber doch eher ein intellektuelles Vergnügen verglichen mit dem emotionalen Schub, den ich immer spüre, wenn ich nach meiner Ankunft in die hochpolierte Sauberkeit der Strassen und Plätze hinaustrete. Ich schäme mich ein bisschen für diese Reaktion, denn wer sieht sich schon gern als Erfüllungsgehilfe eines Clichés? Und ein Cliché ist die ‚sprichwörtliche‘ Sauberkeit der Schweiz zweifellos, genauso wie es ein Cliché ist, dass Indien diesbezüglich den Kontrapunkt darstellt, sozusagen die dunkle Rückseite des hell scheinenden Monds.
Aber wenn man etwas lernt als Journalist, dann ist es die Einsicht, wie wahr Clichés meist sind, nicht zuletzt weil die ‚Clichierten‘ oft selbst mit aller Kraft daran arbeiten, sich dem Stereotyp anzupassen, das über sie im Umlauf ist. Und war die Schweiz nicht schon immer ein Ausbund von Sauberkeit? Ich erinnere mich an den Ausspruch eines indischen Freundes (und Kettenrauchers) vor vierzig Jahren, als er bei uns in Zürich auf Besuch war. Nach seinem ersten Spaziergang entlang des Limmatquais meinte er voller Staunen: „I felt I should carry my ashtray with me“.
Wäre er noch am Leben, würde er feststellen, dass die ‚Öffentliche Hand‘ inzwischen seinem Bedürfnis nachgekommen ist. Die Stadt Bern führt seit einiger Zeit eine ‚Aktion Zigarettenstummel‘ durch, um dem zunehmenden Rauchgenuss im ‚Öffentlichen Raum‘ beizukommen, nun, da er bald aus allen Innenräumen des Lebens verbannt worden ist. Überall dort, wo Leute verweilen können – Bushaltestellen, Geschäftseingänge, Kreuzungen, Parks – wurden Aschenbecher montiert.
Unser Freund würde aber auch feststellen, dass die Hand des fürsorglichen Staats auch die Faust machen kann: ‚Stopp der öffentlichen Verstümmelung‘ schreit es von Stellwänden an einigen dieser ‚Hotspots‘. Und das Publikum wird unter dem Slogan „Subers Bärn – Zäme geits“ aufgerufen, ‚Zuwiderhandelnde‘ zurechtzuweisen und im Notfall eine Hotline anzurufen. Der gewissenhafte Bürger kann derweil die Website www.subersbaern.ch anklicken. Dort wird er feststellen, dass unsere effizienten Offiziellen auf einer breiten Klaviatur von Massnahmen spielen können, um ‚Suberkeit‘ durchzusetzen. Die Links gehen vom ‚Abfallunterricht‘ in der Schule über die Zusammenarbeit mit den Vereinen PUSCH (‚Praktischer Umweltschutz Schweiz‘) und ‚CasaBlanca‘, bis zur Bestellung von ‚Abfallbotschaftern‘. Und beruhigt wird er notieren, dass bei allem Einbezug des Bürgers die Führungsverantwortung erhalten bleibt: „Der Repressionsschwerpunkt“ versichert die Website, „wird vom städtischen Polizeiinspektorat koordiniert“.
Wäre ich jung und geschäftstüchtig, würde ich in Indien wahrscheinlich ins Sicherheitsbusiness einsteigen, und in der Schweiz würde ich ein Reinigungsinstitut gründen. ‚Suber und Glatt‘ wäre ein adrettes Firmenlogo, so wie es die weissen ‚Züri‘-Säcke oder die blauen Gebührensäcke mit der nächtlichen Skyline der Berner Altstadt sind. Fern sind die Zeiten, als noch drei Farben – dreckiges Schwarz, Grau und Braun – die Trottoirs verunstalteten. Nun darf nichts mehr an Dreck erinnern, leuchtende Farben müssen her, und wehe, man wagt eine ‚Zuwiderhandlung‘. Als mein Schwiegersohn letztes Jahr in meinem Heimatdorf Lax einen unerlaubten Sack in den Container warf, erhielt er kurz darauf eine Bussenverfügung. Jemand hatte den Sack geleert, darin gewühlt und wahrscheinlich einen verschmutzten Briefumschlag mit Namen und Adresse sichergestellt. Die Strafe: Fünf Gebührensäcke, persönlich abzugeben beim Polizeivorstand. Es geht nichts über gute Erziehung.
Nun bin ich selber einer Zuwiderhandlung überführt worden, und dies ausgerechnet bei meinem Lieblingsobjekt in Sachen ‚Suberkeit‘. Ich meine die chromglänzenden Säulen der Quartier-Sammelstellen für Glas, Papier, Alu und ‚Sondermüll‘. Sie sind in Bern seit einigen Jahren in 22 Quartieren installiert, und wenn ich ausländischen Freunden auf Besuch die Schönheiten der Schweiz zeigen will, dann gehe ich nicht zum Zytglogge-Turm. Ich lenke ihre Schritte zum Helvetiaplatz, wo eine solche Säulenreihe installiert ist – elegant, solide, und vorallem fähig, jeden Dreck sofort und spurenlos verschwinden zu lassen. Als guter Bürger wollte ich dieses Musterbeispiel von Hygienekunst auch meinen beiden kleinen Enkelkindern zeigen. So beluden wir denn am Auffahrtstag den Fahrrad-Anhänger mit Flaschen, Plastikmüll und Papierstapeln und gingen zur Helvetia. Auf dem Rasenplatz vor der Sammelstelle sass ein älterer Securitas-Wächter auf der Promenadenbank und schaute den Kindern zu, wie sie die Flaschen lustvoll in den Schlund der sich magisch öffnenden Deckel warfen. Als wir mittendrin waren, stand er bedächtig auf, kam auf mich zu, und zeigte auf die Metallsäule daneben. „Was steht da drauf?“, fragte er vorwurfsvoll. „Ups“, sagte ich, als ich gelesen hatte, dass die Benützung nicht nur an Sonn-, sondern auch an ‚Allgemeinen Feiertagen‘ verboten ist – und heute war Auffahrt.
Es fruchtete natürlich nichts, dass ich meine Unwissenheit geltend machte, meine kurze Anwesenheit in der Schweiz, meine didaktische Absicht. Er verlangte meinen Ausweis, zog sein Rapportbuch heraus und machte sich ans Ausfüllen des Verbrechensprotokolls. Die schiefe abgeschnittene Ebene der Säule bot eine ideale Schreibfläche. Haben Sie Flaschen entsorgt? Abhaken. Papier entsorgt? Abhaken. Plastikdabeigehabt? Abhaken. Sondermüll? Ja. Metall und Alu? Ja. Bilanz: Schuldig in allen Punkten. Mildernde Umstände? „Das wird der Einzelrichter entscheiden“.
Warum er uns denn nicht gewarnt habe, als er uns kommen sah, frage ich erzürnt. Das sei nicht seine Aufgabe. „Die Polizei – Dein Freund und Helfer?“, höhne ich. Er komme von der ‚Securitas‘ - und untersteht offensichtlich nicht dem ‚Schwerpunkt Verhütung‘, sondern dem ‚Schwerpunkt Repression‘. Dieser bezahlt ihn dafür (so sagt Herr Huber stolz), den ganzen Tag die Sammelstelle zu überwachen. Ich multipliziere die 22 Entsorgungsanlagen in der Stadt hinzu und weiss nun, dass das Sauberhalten allein der Strassen, Trottoirs und Parks den Steuerzahler jedes Jahr 20 Millionen Franken kostet. Wir ziehen von dannen, die Kinder verdattert, ich wütend, aber auch enttäuscht über die Zerstörung meiner Heimatscholle.
Dasselbe droht nun auch mit dem anderen Zipfel Heimat zu geschehen, an dem ich mich festklammere. Ich bin selber schuld. Ich war es ja, der Dialekt und Sauberkeit diese identitätsstiftende Rolle zuschob. Nun fand ich sie plötzlich alarmierend, diesen Gebrauch von Dialektwörtern, jedes Mal, wenn es um ‚Suberkeit‘ ging, als sei es etwas, was nur richtige Schweizer machen. „Blyb Suber – uf dr ganze Linie“ trompetet die SBB. ‚Subers Bärn – Zäme geits‘. ‚Für es suubers Züri‘ steht auf den Abfall-Containern vor jedem Haus der Stadt Zürich, wie ein Aufruf zum Schulterschluss. Verräterisch wird dies, wenn man liest, was darunter steht. Nicht etwa die Vorschrift, ‚Nume Züri-Säck‘ hineinzuladen. Vielmehr lautet der untere Klebstreifen, als richte er sich ausschliesslich an Nicht-Zürcher als möglichen Missetätern: „Nur Züri-Säcke!“. Henusode.