Wieder hat die Staatsanwaltschaft Telefonate abgehört. Geführt wurden sie vom Schatzmeister der Lega Nord und der Lega-Sekretärin Nadia Dragata. Aus diesen Gesprächen geht hervor, dass Bossi Steuergelder für private Zwecke abgezweigt hat. Nadia Dragata ist am Donnerstag von der Staatsanwaltschaft befragt worden. Sie hat Bossi schwer belastet. Sie spricht von Schwarzgeld, das in die Kasse der Lega geflossen sei.
Jede italienische Partei erhält für ihre Wahlkämpfe viele Millionen Euro Steuergelder. Die Anklage wirft nun Bossi vor, einen Teil dieser Steuergelder für sich und seine Familie verwendet zu haben. Die Söhne Bossis, Renzo und Riccardo, sollen 200‘000 Euro erhalten haben, unter anderem für ein Luxusauto. Steuergeld soll auch für die Renovation von Bossis Haus in Gemonio bei Varese aufgewendet worden sein. Ferner seien private Feste und Hotelrechnungen bezahlt worden. Die padanische Gewerkschaft SinPa (Sindacata Padano) soll bis zu 300‘000 Euro erhalten haben.
Für ehrliche Parteigänger bricht die Welt zusammen
Nadia Dragata erzählt jetzt auch, dass Bossis Sohn Riccardo einen Beratervertrag in Brüssel erhalten habe. Zugunsten von Riccardo und andern Familienangehörigen seien auch Spesen aus Steuergeldern bezahlt worden. Auch Arztrechnungen für Bossi und seine Familienangehörigen seien aus dieser Kasse entnommen worden. Der Doktortitel, den Renzo an einer Londoner Privatuniversität machte, sei von der Lega-Kasse „übernommen“ worden.
Schlimmer noch: Der Schatzmeister der Lega, der notorische Hochstapler Franceso Belsito, soll Kontakte zu kalabresischen N’drangetha haben.
Für viele ehrliche Parteigänger der Lega Nord bricht eine Welt zusammen. Bossi gab sich stets als ehrlicher Saubermann, der gegen den korrupten Süden und das diebische Rom („Roma ladrona“) kämpfte. Und ausgerechnet er soll Geld veruntreut haben und mit der Mafia zusammenspannen?
Francesco Belsito trat am Mittwoch zurück. Bossi folgte am Donnerstag. Damit überrumpelte er seine Anhänger und löste in der Partei ein Erdbeben aus. Völlig ausser sich deckte er dann eine Journalistin mit seiner ihm gewohnten Fäkalsprache ein: „Vaffanculo“.
"Eine seltsame Sache, schwer zu glauben"
Natürlich weist er jede Schuld von sich. Er tut das, was er immer tat: Er greift Rom an, und zwar frontal. Er spricht von „den Schurken von Rom, die uns diese Staatsanwälte schicken“.
Noch liegt vieles im Dunkeln, noch ist nichts bewiesen. „Diese Geschichte stinkt“, sagte Bossi am Donnerstagabend in einem Interview mit der linksliberalen Zeitung „La Repubblica“.
Darin wirkt er kleinlaut. Sein Sohn Renzo sei unschuldig. Bossi habe mit eigenen Augen gesehen, dass Renzo sein Luxusauto selbst bezahlt habe. Und für die Reparatur seines wasserdurchlässigen Balkons in Gemonio habe ein bergamaskischer Kollege vergessen, die Rechnung auszustellen. Bossi spricht wörtlich von „einer seltsamen Sache, schwer zu glauben“. All das wirkt ziemlich defensiv.
In den Rechnungsbüchern des Schatzmeisters fand man einen Umschlag mit der Aufschrift „The Family“. Kleinlaut sagte jetzt Bossi, er sei es nicht gewesen, der Belsito angestellt habe.
Natürlich sprechen Bossi und die Lega von einem Komplott. Sie sehen sich als Opfer. Doch tritt jemand so schnell zurück, wenn er überzeugt ist, nichts Unrechtes begangen zu haben? „Ich bin zum Wohle der Lega zurückgetreten“, begründet er seinen Schritt, „damit sie sich frei verteidigen kann“. Das klingt wenig überzeugend.
Sein Stern sinkt seit langem
Was an der Geschichte auch immer stimmt oder nicht stimmt: Die Lega befindet sich in ihrer schwersten Krise seit ihrem Bestehen.
„Ich bin nicht geschlagen“, sagt Bossi. „Ich bin ein militanter Leghist und werde weiterkämpfen, immer“. Ob er denn wieder als Lega-Chef kandidieren werde, fragte ihn La Repubblica. Er schliesst das nicht aus.
„Ich werde bis Oktober entscheiden“, antwortet er. Dann findet der nächste Kongress der Lega statt. Oktober ist weit weg. Politiker, die von ihrer Sache überzeugt sind, denken in kürzeren Zeithorizonten.
Bossi erklärt, die Geschichte sei ein Coup seiner politischen Gegner, der „Regierung der Banken“. Damit meint er die rechtsstehende Regierung Mario Monti. Tatsächlich finden im kommenden Monat in über tausend italienischen Gemeinden Wahlen statt – auch im Norden. Sie könnten – nach den jetzigen Enthüllungen – der Lega schwere Einbrüche bringen. Anderseits werden sich manche leghistische Fanatiker sagen: Jetzt erst recht.
Italien ist das Land der Verschwörungstheorien. Natürlich überstürzen sich jetzt Vermutungen und Gerüchte. Ist dieser Skandal nur die Spitze vom Eisberg? Haben die Mafia, Berlusconi und Bossi jahrelang gemeinsame Sache gemacht?
Doch wie auch immer: Die Karriere des bald 71-jährigen Bossi geht zu Ende. Vor acht Jahren hatte er ein Hirnschlag und einen Herzinfarkt erlitten. Seither spricht er mit schleppender Stimme aber mit nicht minder giftigen Worten. Doch sein Stern sinkt seit längerem.
"Kein Euro für das diebische Rom"
Autonomie oder gar Sezession des Nordens – das sind die Kernanliegen der Lega Nord. Bossi war es, der diese separatistische und fremdenfeindliche Partei 1989 gegründet hat. Die Leghisten, also die Anhänger der Lega, träumen von einem unabhängigen Padanien. Der Begriff „Padania“ leitet sich vom Adjektiv „padano“ ab – zur Po-Ebene gehörend. Für die Lega umfasst Padanien das gesamte Norditalien.
Bossis Hauptziel heisst: „Weg von Rom“. Er wollte, dass der Norden selbst über seine Steuergelder entscheidet. Bossi und seine Anhänger waren es satt, dass die Steuergelder des Nordens im süditalienischen Korruptionssumpf versickerten.
Der Norden soll selber bestimmen, was und wo gebaut wird. In den Schulen sollen wieder die nordischen Idiome zum Zuge kommen.
Bossi schuf ein padanisches Parlament (das zwar nichts zu sagen hat), eine padanische Nationalhymne. Es gibt „Radio Padania“ und die Tageszeitung „Padania“. Bossi betont immer wieder, dass die Lega die zur Zeit älteste bestehende Partei Italiens ist.
Der Kampf der Leghisten gegen den Einheitsstaat Italien nimmt ab und zu kindische Züge an. So wehren sich die Leghisten, die italienische rot-weiss-grüne Fahne zu hissen. Sie nahmen im letzten Jahr auch nicht an den 150 Jahr-Feiern der italienischen Einigung teil. Denn Italien gibt es nicht für sie.
Nero, der Papst und der liebe Gott zugleich
Doch Bossi wurde in jüngster Zeit immer mehr von den eigenen Leuten kritisiert. Denn erreicht hat er nichts. Von der angestrebten Autonomie, vom angestrebten Finanzföderalismus, für den Bossi während 23 Jahren kämpfte, ist man weit entfernt. Bossis Kampf hat nichts, aber auch gar nichts eingetragen.
Viele seiner Anhänger werfen ihm vor, zu lange Berlusconi unterstützt zu haben. Berlusconis Schicksal war eng mit Bossi verknüpft. 1994 wurde Berlusconi nach kurzer Regierungsdauer von Bossi gestürzt. Später war es Bossi, der die Agonie Berlusconis verlängerte, indem er ihn lange, lange stützte. Damals kam der Verdacht auf, Berlusconi würde den Lega-Chef mit Geld für seine Unterstützung belohnen. Beweisen konnte das niemand. Doch seltsam ist, wie lange Bossi an Berlusconi festhielt, ohne politisch nur das Geringste dafür zu bekommen.
Landesweit erreichte die Lega bei den letzten Wahlen 2008 acht Prozent der Stimmen, doch in der Lombardei kam sie auf über 20 Prozent und in Venetien sogar auf über 26 Prozent. Doch dieses Gewicht konnte Bossi nicht in bare Münze umsetzen. Er polterte, und sonst geschah nichts.
Neben der Kumpanei mit Berlusconi wurde Bossi kritisiert, weil er ziemlich unverfroren seinen Sohn Renzo zu seinem Nachfolger aufbaute – gegen den Willen vieler Leghisten.
Die Nummer zwei der Lega, der frühere Innenminister Roberto Maroni, ist schon längst auf Distanz zum Übervater Bossi gegangen. Jetzt nach seinem Rücktritt gibt sich Maroni heuchlerisch: „Ich habe Bossi gesagt, wenn du im Oktober wieder kandidierst, werde ich für dich stimmen. Nachher haben wir uns umarmt“.
Jetzt wird die Lega von einem Triumvirat geführt. Ihm gehört auch Roberto Maroni an. Doch trotz seiner Popularität: die Lega hat ihre Seele verloren.
Bossi regierte seine Partei wie ein König, wie ein Despot manchmal. Alle knieten vor ihm und ertrugen seine Launen und oft grässlichen Ausfälle. Er hob den Daumen, er richtete ihn nach unten. Er war Nero, der Papst und liebe Gott zugleich. Die Lega ist jetzt ein Schiff ohne Kapitän. Ohne Bossi scheint sie undenkbar.