In keinem europäischen Land wechseln Abgeordnete und Senatoren während der Legislaturperiode so häufig die Partei wie in Italien. Seit den Wahlen im Jahre 2008 haben Dutzende Parlamentarier jene Partei, für die sie gewählt wurden, verlassen und sind andern Parteien beigetreten.
Die wichtigen italienischen Parteien in der Abgeordnetenkammer und im Senat
Das italienische Parlament besteht aus zwei Häusern: Die Camera dei Deputati, die Abgeordnetenkammer, zählt 630 Sitze. Dem Senat gehören 315 Senatoren an.
PDL: „Il Popolo della Libertà“ (Volk der Freiheit). Gründer und Vorsitzender ist Ministerpräsident Silvio Berlusconi. Die PDL ging aus der Fusion von Berlusconis „Forza Italia“, der „Alleanza nazionale“ (AN) von Gianfranco Fini und kleinerer Rechtsparteien hervor.
In der Abgeordnetenkammer (Camera) verfügt die PDL noch über 284 Sitze. Sie hat seit den Wahlen 2008 40 Sitze verloren. Auch andere PDL-Abgeordnete liessen jetzt durchblicken, zu andern Formationen überzutreten. Im Senat besitzt die PDL noch 134 Sitze. Sie verlor seit den Wahlen 2008 12 Sitze.
FLI: „Futuro e Libertà per l‘Italia“ (Zukunft und Freiheit für Italien). FLI ist die neugegründete Partei von Parlamentspräsident Gianfranco Fini. FLI spaltete sich am 5. Oktober 2010 offiziell von Berlusconis PDL ab. Im Volksmund werden die FLI-Politiker „Finianer“ oder „Futuristen“ genannt.
FLI verfügt in der Abgeordnetenkammer über 36 Sitze. (Ursprünglich waren es 38, doch 2 Abgeordnete - Souad Sbai und Giuseppe Angeli - die von der PDL zu FLI wechselten, kehrten wieder zu Berlusconi zurück.) Im Senat besitzen die Finianer 10 Sitze. Man rechnet damit, dass weitere PDL-Senatoren zu FLI übertreten werden.
Lega Nord. Die Partei von Umberto Bossi, der offiziell immer noch für eine Abspaltung Padaniens (Norditaliens) vom übrigen Italien eintritt. Die Lega, die bei jüngsten Regional- und Lokalwahlen stark zulegte, ist eine enge Verbündete von Berlusconis PDL.
Sie besitzt in der Abgeordnetenkammer 59 Sitze. Kein Lega-Abgeordneter ist zu den Finianern übergetreten. Im Senat verfügt die Lega über 26 Sitze.
PD: „Partito Democratico“. Der linksgerichtete PD wurde am 14. Oktober 2007 gegründet und ist die stärkste Oppositionspartei. Der PD ist ein Sammelbecken sozialdemokratischer, linker, kommunistischer und christdemokratischer Parteien und Formationen. Parteivorsitzender ist Pierluigi Bersani.
Der PD verfügt in der Abgeordnetenkammer noch über 206 Mandate (12 Sitze gingen seit den Wahlen 2008 verloren; einer wurde dazugewonnen). Im Senat besitzt der PD 112 Sitze (7 gingen seit den Wahlen verloren; die meisten dieser 7 wechselten in die „Gemischte Gruppe“ oder zur UDC).
IdV: „Italia dei Valori“ (Italien der Werte). Die liberale Antikorruptionsbewegung von Antonio Di Pietro, einem früheren Mailänder Staatsanwalt. Di Pietro gehört zu den lautesten Gegnern Berlusconis. IdV befindet sich im Aufwind: Die Partei hat bei den Europawahlen 8 Prozent der Stimmen erhalten (bei den Wahlen 2008 waren es noch 4,4 Prozent).
In der Abgeordnetenkammer verfügt IdV heute über 24 Sitze (5 Sitze waren verlorengegangen: 4 IdV-Abgeordnete sind in die „Gruppo misto“ eingetreten, ein Fünfter trat in den PD ein.) Im Senat besitzt IdV 12 Sitze (2 waren verlorengegangen).
UDC: „Unione di Centro“ (Zentrumsunion). Eigentlich: „Unione dei Democratici Cristiani e di Centro“. Die Partei wurde 2002 von Pier Ferdinando Casini gegründet. Sie versteht sich als christdemokratische Zentrumspartei. Sie arbeitete mit Berlusconi zusammen, hat sich heute aber von ihm distanziert. Die UDC ging immer wieder wechselnde Koalitionen ein.
Die UDC hat heute in der Abgeordnetenkammer 35 Sitze. (8 gewonnen und 8 verloren. 5 der gewonnenen kommen von der PD.) Im Senat besitzt die UDC heute 14 Sitze (7 seit 2008 gewonnen).
„Gruppo Misto“ (Gemischte Gruppe). Sie zählt 35 Sitze und ist ein Sammelbecken verschiedenster Richtungen. Ihre Mitglieder stimmen zum Teil für, zum Teil gegen die Regierung Berlusconi. Die Gruppe hat seit den Wahlen 2008 21 Sitze dazu gewonnen. Im Gruppo misto vertreten sind unter anderem: Die Rutelli-Partei API, die „Liberaldemokraten“ des früheren Ministerpräsidenten Lamberto Dini, der „Partito Repubblicano Italiano“ PRI von Francesco Nucara. Im Senat verfügen die „Gemischten“ über 13 Sitze (8 gewonnen, 3 verloren). In der „Gemischten-Gruppe“ befinden sich auch die „Senatoren auf Lebenszeit“.
API: „Alleanza per l’Italia“ (Allianz für Italien). Eine vor einem Jahr von Francesco Rutelli gegründete Splitterpartei. Rutelli war Bürgermeister von Rom und Vorsitzender der Partei „La Margherita“, die mit dem linken Lager zusammenspannte. Nach der Wahl Pier Luigi Bersanis als Vorsitzender der PD trat Rutelli aus dem Partito Democratico aus und gründete die API.
Mögliche Szenarien nach der Vertrauensabstimmung am 14. Dezember
*Berlusconi gewinnt. Es ist ihm gelungen, im letzten Moment verschiedene Unschlüssige (vielleicht mit Versprechungen) auf seine Seite zu ziehen. Berlusconi wäre dann wohl eine „Lame Duck“.
*Berlusconi verliert. Staatspräsident Napolitano ruft Neuwahlen aus. Napolitano hat mehrmals signalisiert, dass er in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten gegen Neuwahlen ist. Berlusconi glaubt Neuwahlen zu gewinnen, was gar nicht sicher ist.
*Berlusconi verliert. Er wird von seiner Partei zum Rücktritt gedrängt. PDL, Lega, FLI und UDC einigen sich auf eine Mitte-Rechts-Regierung ohne Berlusconi.
*Die FLI, die Partei von Gianfranco Fini, krebst zurück und akzeptiert eine neue Regierung Berlusconi – vorausgesetzt, Berlusconi tritt zuerst zurück und die Regierung wird mit starken Oppositionskräften erweitert. Berlusconi lehnt das ab.
*Berlusconi verliert. Staatspräsident Napolitano setzt eine „technische Regierung“ mit parteilosen Technokraten ein. Eine solche Regierung gab es schon zweimal: mit Carlo Azeglio Ciampi, dem Gouverneur der italienischen Zentralbank und mit Lamberto Dini, ebenfalls hoher Beamter der Zentralbank.
*Napolitano setzt eine Regierung der nationalen Einheit, der nationalen Verantwortung ein. Daran könnten – ohne Berlusconi – rechte und linke Politiker beteiligt sein.
Die wichtigsten Player
Giorgio Napolitano. Geboren 1925. Seit Mai 2006 Staatspräsident. Ehemaliger Kommunist, Mitglied des PD. Der angesehenste Politiker Italiens. Er kann bei einer Niederlage Berlusconis in der Vertrauensabstimmung Neuwahlen ausrufen oder eine Regierung der nationalen Verantwortung oder eine „technische Regierung“ als Übergangslösung einsetzen.
Silvio Berlusconi. Geboren 1936. Ministerpräsident. Verfügt über ein Vermögen von 9,4 Milliarden Dollar. Muss sich am Dienstag, 14. Dezember, einer Vertrauensabstimmung stellen. Bei einer eventuellen Niederlag verlangt er sofortige Neuwahlen. Ob es dann Neuwahlen gibt oder ob eine Übergangsregierung ohne ihn eingesetzt wird, entscheidet nicht Berlusconi, sondern Staatspräsident Napolitano. Die Berlusconi-Partei PDL verfügt zusammen mit der verbündeten Lega Nord im Parlament über keine Mehrheit mehr.
Giulio Tremonti. Geboren 1947 im Veltlin, nahe der Schweizer Grenze. Wirtschaftsminister unter Berlusconi. Zeitungen spekulieren, dass er Ministerpräsident einer Übergangsregierung werden könnte.
Umberto Bossi. Geboren 1941 bei Varese, nahe der Schweizer Grenze. Parteivorsitzender der Lega Nord und Reformminister im Kabinett Berlusconi. Galt lange Zeit als politischer Polterer. Er war es, der die erste Berlusconi-Regierung 1994 stürzte, gehört heute aber (noch) zu Berlusconis Verbündeten. Die jüngsten Affären um Berlusconi haben auch Bossis Vertrauen in den Ministerpräsidenten beschädigt.
Gianfranco Fini. Geboren 1952 in Bologna. Einst Bewunderer Mussolinis und Parteichef der „Alleanza nazionale“ (AN). Die AN fusionierte 2009 mit Berlusconis PDL. Im Oktober 2010 traten Fini und seine Anhänger aus der PDL aus und gründeten die Partei „Futuro e Libertà per l’Italia“ (FLI), die Berlusconi den Kampf ansagt. Fini war Aussenminister und ist heute Präsident der Abgeordnetenkammer.
Pierluigi Bersani. Geboren 1951 in der Provinz Piacenza. Parteivorsitzender der linken Oppositionspartei Partito Democratico (PD). Trotz der Affären und Skandale um Berlusconi hat der PD kaum davon profitieren können. Die Partei hat Mühe, ihre Botschaft unters Volk zu bringen.
Antonio Di Pietro. Geboren 1950 in der Provinz Campobasso. Parteivorsitzender der Oppositionspartei „Italia dei Valori“. Di Pietro war früher Staatsanwalt in Mailand. Er war führender Ermittler im Tangentopoli-Skandal. Er gehört zu den vehementesten Gegners Berlusconis und stimmt meist mit der Linken. Er ist für seine theaterreifen Auftritte bekannt.
Pier Ferdinando Casini. Geboren 1955 in Bologna. Früher Präsident der Abgeordnetenkammer. Parteivorsitzender der UDC-Zentrumspartei. Steht ideologisch den alten Christdemokraten nahe und hat jetzt den Rücktritt von Berlusconi gefordert.