Der neue provisorische Präsident Ägyptens, Adly Mansur, hat nicht nur wie angekündigt einen Fahrplan aufgestellt, nach dem der versprochene Übergang zur Demokratie sich vollziehen soll, sondern auch, überraschend, eine Verfassungsdeklaration von 33 Paragraphen, die festlegen soll, wie und unter welchen Umständen der erwähnte Übergang abzulaufen habe.
Dieser Übergang soll nach den heutigen Plänen "mindestens sechs Monate" lang dauern. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass er wahrscheinlich mehr Zeit in Anspruch nehmen wird. Die neue vorläufige Verfassung soll gelten bis ein neuer Präsident gewählt ist. Vor seiner Wahl müsse eine endgültige Verfassung dem Volk zur Annahme vorgelegt werden. Auch das Parlament müsse vorher gewählt werden.
Die Deklaration legt einerseits fest, wie die Verfassung entstehen soll. Doch andrerseits bestimmt sie auch, welche Mächte in der Übergangszeit herrschen sollen – und unter welchen Bedingungen. Es ist primär dieser zweite Teil der Erklärung, der Enttäuschung und Kritik bei so gut wie allen politischen Formationen und Gruppen hervorgerufen hat.
Neue Regeln für eine Verfassung
Der erste Teil bestimmt: Eine Kommission von zehn Personen muss die „Verfassung der Muslimbrüder“ verbessern. Diese Verfassung ist zurzeit ausser Kraft gesetzt war seit ihrer Entstehung kritisiert worden. Die Kommission soll aus zwei Verfassungsrichtern, zwei Richtern, zwei Mitgliedern des Staatsrates und vier Professoren für Verfassungsrecht bestehen. Der verbesserte Verfassungsentwurf sei dann einer Versammlung von 50 Personen zur Diskussion vorzulegen.
Diese 50 sollen aus allen Schichten und Gruppen des ägyptischen Volkes stammen. Erwähnt werden: Parteien, Intellektuelle, Arbeiter, Bauern, Gewerkschafter, nationale Berufsverbindungen, die Azhar Moschee, die koptische Kirche, andere Figuren der Öffentlichkeit und "zehn junge Leute und Frauen".
Ausgewählt werden sie teils von der Regierung, teils aus den Berufsverbänden und politischen Gruppen, von denen allerdings viele direkt oder indirekt unter Regierungsleitung stehen. Wer sie auswählt, ist natürlich entscheidend. Nach einer 60-tägigen Vernehmlassungsfrist würde dann das Volk über die Verfassung abstimmen.
Alle Macht dem Präsidenten und der Armee
Der andere Teil der Deklaration übernimmt oftmals Bestimmungen aus der aufgehobenen Verfassung des abgesetzten Präsidenten Mursi. Doch da und dort werden Teile weggelassen oder abgeändert. Ein Beispiel sind die Bestimmungen über Meinungs-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit. Alle drei sollen weiterhin "garantiert" sein, jedoch neu "innerhalb der Grenzen des Gesetzes". Nach der Verfassungserklärung kann der provisorische Präsident Gesetze erlassen. Er hat auch die Vollmacht, den Regierungschef und die Minister zu bestimmen und zu entlassen. Er ist demzufolge "souverän" im Bereich der zivilen Politik.
Die Erklärung übernimmt aus der aufgehobenen Verfassung die wichtigsten Paragraphen, welche die Privilegien der Offiziere absichern. Diese Paragraphen waren unter Mursi formuliert worden. Sie galten als Beweis dafür, dass Mursi und die Armee eine Übereinkunft getroffen hatten, die Macht aufzuteilen. So wird der Nationale Sicherheitsrat erneut bestätigt. Darin hat zwar der Präsident den Vorsitz, doch die Mitglieder sind mehrheitlich Militärs. Der Sicherheitsrat muss das Budget der Armee genehmigen. Er ist für die Sicherheit zuständig und für jede Gesetzgebung, die die Armee betrifft.
Ein wichtiger Gewinn für die Militärjustiz
Im Paragraph 19 der neuen Erklärung wird die Militärjustiz als "unabhängig" bezeichnet. Sie soll "ausschliesslich" zuständig sein für "alle Fälle, die sich auf die Streitkräfte und ihr Personal beziehen". In der aufgehobenen Verfassung war weiter bestimmt: "Kein Zivilist soll von der Militärjustiz abgeurteilt werden, es sei denn in Fällen, in welchen den Streitkräften Schaden entstanden ist". Doch dieser Zusatz fällt nun weg. Dafür steht: "Das Gesetz bestimmt ihre (der Militärjustiz) anderen Zuständigkeiten".
Weil sich grosse Teile der ägyptischen Wirtschaft in Händen der Armee befinden (manche Schätzungen sprechen von 40 Prozent der gesamten Wirtschaft des Landes), sind diese Bestimmungen über militärische Gerichtsbarkeit ausserordentlich wichtig. Der neue Zusatz erlaubt, Gesetze zu erlassen, beispielsweise Notstandsgesetze, die die Zuständigkeit der Militärgerichte noch weiter ausdehnt.
Murren bei den zivilen Gruppierungen
Kritik, teils laut oder teils gedämpft, an der Verfassungserklärung kam aus allen politischen Kreisen und von allen politischen Richtungen. Nur die Streitkräfte begrüssten in einem Communiqué die neue Verfassungserklärung uneingeschränkt und emphatisch. Die Jugend- und Revolutionsgruppen sagten, sie seien überrascht worden von der plötzlichen Erklärung. Niemand habe sie konsultiert. Das gleiche sagte auch die Nationale Rettungsfront, die aus liberalen und linken Parteien zusammengesetzt ist. Sie fügte hinzu, ihre Fachleute würden Korrekturvorschläge ausarbeiten.
Viele der Säkularisten stiessen sich daran, dass die Erklärung die zweideutigen Bestimmungen über den Islam als Staatsreligion und die Schar‘ia als Grundlage der Gesetzgebung mit ausdrücklicher Umschreibung dessen, was die Schari'a sei, wiederholte. Die Paragraphen 1 und 2 sowie 219 der aufgehobenen Verfassung sind nun zusammengefasst in den Paragraphen 1 und 2 der neuen Erklärung.
“Nein“ der Salafisten
Zu Mursis Zeiten nannte man diese Verfassungsbestimmungen als Trojanisches Pferd. Man fürchtete, dass diese Paragraphen einst als Grundlage für die Errichtung eines Schari’a-Regimes dienen würden. Dass diese Bestimmungen jetzt beibehalten werden, verstehen die Säkularisten als eine Konzession an die Salafisten. Diese sollen so offenbar dazu bewogen werden, das neue Regime zu unterstützen.
Doch die Salafisten gingen bisher nicht darauf ein. Die kleineren Salafiste-Gruppen demonstrieren weiter für Mursi. Die grosse Salafistenpartei "Nur" erklärte, sie sei mit der Deklaration nicht einverstanden. Sie wünsche, dass die "Kommission der 10", welche die abgeschaffte Verfassung revidieren muss, vom Volk gewählt werde. Der Grund ist klar: "Nur" will so einige ihrer eigenen Leute in der Kommission platzieren.
Versprochene "Korrekturen"
Adly Mansur hat drei junge Revolutionsführer empfangen, um mit ihnen über ihre Bedenken zu sprechen. Sie erklärten nach der Unterredung, der neue Präsident habe "auf bald" eine zusätzliche Verfassungsdeklaration versprochen. Wann sie kommt und wie sie ausfallen wird, bleibt abzuwarten.
Auf Seiten der Liberalen und der Revolutionäre sprechen sich viele gegen die angedeuteten Einschränkungen der Freiheiten aus. Im Stillen fürchten sie gewiss auch die Vollmachten für die Militärs. Doch über diese äusserte sich niemand öffentlich. Es blieb bei vorsichtigen allgemeinen Aussagen, wie: "Wir haben Bedenken gegen die Verfassungsdeklaration."
Im Augenblick befinden sich die Militärs einerseits in einer übermächtigen Position. Anderseits sind sie für die Stabilität des Landes schlichtweg unentbehrlich. So sehr unentbehrlich, dass niemand es wagt, direkt und ausdrücklich gegen ihre Machtbefugnisse aufzubegehren. Heimliche Bedenken dürften jedoch viele, wenn nicht fast alle der zivilen Gruppierungen haben.
Zornig im Abseits der Muslimbrüder
Noch immer protestieren an mehreren Orten der Hauptstadt Abertausende Muslimbrüder gegen die Absetzung Mursis. Ihr Zorn erhielt durch „das Massaker“ vor der Kaserne der Präsidialgarde vom vergangenen Montag neue Nahrung. Die Muslimbrüder machen die Armee dafür verantwortlich, dass sie 50 ihrer Anhänger erschossen habe. Jetzt werde versucht, das Geschehen zu vertuschen.
Die Muslimbrüder weisen mit einigem Recht darauf hin, dass die wichtigsten Zeitungen Ägyptens, die von der Regierung kontrolliert werden, den Vorkommnissen vor der Kaserne der Präsidialgarde erstaunlich wenig Beachtung schenken.
“Die Revolution“ schachmatt setzen?
Der Verhaftungsbefehl gegen Muhamed Badi'e, den Obersten Führer der Muslimbrüder, und gegen die meisten anderen ihrer Führungsfiguren trägt dazu bei, ihre Empörung über die Militärs weiter zu steigern. Die Armee habe "die Revolution mit Panzern gestohlen“.
Allzu scharfe Kritik am neuen Präsidenten und der Armee wäre für all jene Kräfte kontraproduktiv, die die Muslimbrüder loswerden wollen. Das wissen die Armee-Offiziere und nützen es aus. Auf dem politischen Schachbrett schieben sie die Figuren nach und nach weiter nach vorn.
Wollen sie etwa doch zum Schluss „die Revolution“ schachmatt setzen?